Sonderung der Wirkungszusammenhänge in der Geschichte durch analytische Verfahren


1. Die Kultursysteme

[203] So zeigte sich, daß schon die Bestimmung des Gegenstandes eines historischen Werkes eine Auswahl der Geschehnisse und Zusammenhänge mit sich bringt. Aber die Geschichte enthält ein Ordnungssystem, nach welchem ihr konkreter Wirkungszusammenhang aus einzelnen isolierbaren Gebieten besteht, in denen gesonderte Leistungen vollzogen werden, so daß die Vorgänge in den einzelnen Individuen, die auf eine gemeinsame Leistung bezogen sind, einen einheitlichen und homogenen Wirkungszusammenhang bilden. Dies Verhältnis ist schon früher von mir19 erörtert worden. Auf ihm beruht die Begriffsbildung, durch welche Zusammenhänge von allgemeinem Charakter in der Geschichtswissenschaft erkennbar werden. Die Analysis und Isolierung, durch welche solche Wirkungszusammenhänge ausgesondert werden, ist daher der entscheidende Vorgang, den die logische Zergliederung der Geisteswissenschaften zu untersuchen hat. Die Verwandtschaft dieser Analysis[203] mit derjenigen, in welcher der Strukturzusammenhang der psychischen Lebenseinheit gefunden wird, liegt am Tage.

Die einfachsten homogensten Wirkungszusammenhänge, die eine Kulturleistung realisieren, sind Erziehung, Wirtschaftsleben, Recht, politische Funktionen, Religionen, Geselligkeit, Kunst, Philosophie, Wissenschaft.

Ich entwickele die Eigenschaften eines solchen Systems.

Eine Leistung wird in ihm vollzogen. So realisiert das Recht die erzwingbaren Bedingungen für die Vollkommenheit der Lebensverhältnisse. Die Poesie hat ihr Wesen darin, Erlebtes so auszudrücken und Objektivation des Lebens so darzustellen, daß das vom Dichter abgesonderte Geschehnis in seiner Bedeutung für das Ganze des Lebens sich wirkungsvoll darstellt. In dieser Leistung sind Individuen miteinander verbunden. Einzelne Vorgänge in ihnen beziehen sich auf den Wirkungszusammenhang der Leistung und sind ihr zugehörig. So sind diese Vorgänge Glieder eines Zusammenhanges, der die Leistung realisiert.

Die Rechtsregeln des Gesetzbuches, der Prozeß, in welchem Parteien vor einem Gerichtshof über eine Erbschaft verhandeln nach den Regeln des Gesetzbuches, der Beschluß des Gerichtshofes und die Ausführung desselben: welch eine lange Reihe einzelner psychischer Vorgänge liegt hier vor; an wie viele Personen können sie verteilt sein, wie mannigfach greifen sie ineinander, um schließlich die im Recht enthaltene Aufgabe in bezug auf ein bestimmtes vorliegendes Lebensverhältnis zu lösen.

Der Vollzug der Leistung der Poesie ist in viel höherem Grad an den einheitlichen Prozeß in der Seele des Dichters gebunden; aber kein Dichter ist der ausschließliche Schöpfer seiner Werke; er empfängt ein Geschehnis aus der Sage, er findet die epische Form vor, in der er es zur Poesie erhebt, er studiert die Wirkung einzelner Szenen an Vorgängern, er benutzt ein Versmaß, er empfängt seine Auffassung von der Bedeutung des Lebens aus dem Volksbewußtsein oder von hervorragenden Einzelnen, und er bedarf der empfangenden genießenden[204] Hörer, welche den Eindruck seiner Verse in sich aufnehmen und so seinen Traum von Wirkung realisieren. So verwirklicht sich die Leistung von Recht, Poesie oder einem anderen Zwecksystem der Kultur in einem Wirkungszusammenhang, welcher aus bestimmten, zur Leistung verbundenen Vorgängen in bestimmten Individuen besteht.

An dem Wirkungszusammenhang eines Kultursystemes macht sich eine zweite Eigenschaft geltend. Der Richter steht neben seiner Funktion im Rechtswesen in verschiedenen anderen Wirkungszusammenhängen; er handelt im Interesse seiner Familie, er hat eine wirtschaftliche Leistung zu vollbringen, er übt seine politischen Funktionen, er macht dabei vielleicht noch Verse. So sind also nicht Individuen in ihrer Ganzheit zu solchem Wirkungszusammenhang verbunden, sondern inmitten der Mannigfaltigkeit der Wirkungsverhältnisse sind nur diejenigen Vorgänge aufeinander bezogen, die einem bestimmten System angehören, und der einzelne ist in verschiedene Wirkungszusammenhänge verwebt.

Der Wirkungszusammenhang eines solchen Kultursystemes realisiert sich vermöge einer differenzierten Stellung seiner Glieder. Das feste Gerüst eines jeden bilden Personen, in denen die der Leistung dienenden Vorgänge das Hauptgeschäft ihres Lebens ausmachen, sei es nun aus Neigung oder es verbinde sich mit der Neigung der Beruf. Unter ihnen treten dann die Personen hervor, die in sich die Intention zu dieser Leistung gleichsam verkörpern, welche die Verbindung von Talent und Beruf zu Repräsentanten dieses Kultursystemes macht. Und schließlich sind die eigentlichen Träger des Schaffens auf einem solchen Gebiete die produktiven Naturen – die Stifter der Religionen, die Entdecker einer neuen philosophischen Weltanschauung, die wissenschaftlichen Erfinder.

So besteht in einem solchen Wirkungszusammenhang ein Ineinandergreifen: aufgehäufte Spannungen in einem weiten Kreise drängen zur Bedürfnisbefriedigung hin; die produktive Energie findet den Weg, auf dem die Befriedigung sich vollzieht, oder sie bringt die schöpferische Idee hervor, welche die[205] Gesellschaft weiterführt, Fortarbeitende schließen sich an und dann die vielen Empfangenden.

Wir analysieren weiter: jedes solche Kultursystem, das eine Leistung realisiert, verwirklicht in ihr einen gemeinsamen Wert für alle diejenigen, welche auf diese Leistung gerichtet sind. Was der einzelne bedarf und doch niemals verwirklichen kann, wird ihm zuteil in der Leistung des Ganzen – einem gemeinsam geschaffenen umfassenden Wert, an dem er teilnehmen kann. Der einzelne braucht die Sicherung seines Lebens, seines Eigentumes, seines Familienzusammenhanges; aber erst eine unabhängige Macht der Gemeinschaft befriedigt sein Bedürfnis durch die Aufrechterhaltung erzwingbarer Regeln des Zusammenlebens, welche den Schutz dieser Güter ermöglichen. Der einzelne leidet auf den primitiven Stufen unter dem Druck der unbeherrschbaren Kräfte um ihn, die jenseits des engen Bezirkes der Tätigkeit seines Stammes oder Volkes liegen; aber Minderung dieses Druckes bringt ihm erst die Schöpfung des Glaubens durch den Gemeingeist. In jedem solchen Kultursystem entspringt aus dem Wesen der Leistung, welcher der Wirkungszusammenhang dient, eine Ordnung der Werte; in der gemeinsamen Arbeit für diese Leistung wird sie geschaffen; Objektivationen des Lebens entstehen, zu denen die Arbeit sich verdichtet hat; Organisationen, die der Realisierung der Leistungen in den Kultursystemen dienen – Rechtsbücher, philosophische Werke, Dichtungen. Das Gut, welches die Leistung zu realisieren hatte, ist nun da und es wird immerfort vervollkommnet.

Den Teilen eines solchen Wirkungszusammenhanges kommt nun Bedeutsamkeit in ihrem Verhältnis zu dem Ganzen als dem Träger von Werten und Zwecken zu. Zunächst haben die Teile des Lebensverlaufes nach ihrem Verhältnis zu dem Leben, seinen Werten und Zwecken, dem Raum, den etwas in ihm einnimmt, eine Bedeutung. Dann werden historische Ereignisse dadurch bedeutend, daß sie Glieder eines Wirkungszusammenhanges sind, indem sie zu Verwirklichungen von Werten und Zwecken des Ganzen mit anderen Teilen zusammenwirken.[206]

Während wir dem komplexen Zusammenhang des geschichtlichen Geschehens ratlos gegenüberstehen und weder eine Struktur noch Regelmäßigkeiten noch eine Entwicklung in ihm gewahren können, zeigt jeder Wirkungszusammenhang, der eine Leistung der Kultur realisiert, eine ihm eigene Struktur. Wenn wir die Philosophie als einen solchen Wirkungszusammenhang auffassen, so stellt sie sich zunächst als eine Mannigfaltigkeit von Leistungen dar: Erhebung der Weltanschauungen zur Allgemeingültigkeit, Besinnung des Wissens über sich selbst, Beziehung unseres zweckmäßigen Tuns und praktischen Wissens auf den Zusammenhang der Erkenntnis, Geist der Kritik, der in der ganzen Kultur gegenwärtig ist, Zusammenfassen und Begründen. Doch die historische Forschung erweist, daß wir es hier überall mit Funktionen zu tun haben, die unter geschichtlichen Bedingungen auftreten, die aber letztlich in einer einheitlichen Leistung der Philosophie gegründet sind. Sie ist universale Besinnung, die so zu höchsten Generalisationen und letzten Begründungen beständig fortschreitet. Sonach ist die Struktur der Philosophie in dem Verhältnis dieses ihres Grundzuges zu den einzelnen Funktionen nach Maßgabe der Zeitbedingungen gelegen. So entwickelt sich überall die Metaphysik in dem inneren Zusammenhang von Leben, Lebenserfahrung und Weltanschauung. Indem das Streben nach Festigkeit, das in uns beständig mit der Zufälligkeit unseres Daseins ringt, in den religiösen und dichterischen Formen der Weltanschauung keine dauernde Befriedigung findet, entsteht der Versuch, die Weltanschauung zu allgemeingültigem Wissen zu erheben. Ferner kann im Wirkungszusammenhang eines Kultursystemes jedesmal eine Gliederung in einzelne Formen aufgefunden werden.

Jedes Kultursystem hat auf Grund seiner Leistung, seiner Struktur, seiner Regelmäßigkeit eine Entwicklung. Während im konkreten Verlauf des Geschehens kein Gesetz der Entwicklung zu finden ist, eröffnet die Analysis desselben in einzelne homogene Wirkungszusammenhänge den Blick in Abfolgen von Zuständen, die von innen bestimmt sind, die einander voraussetzen,[207] so daß gleichsam auf der unteren Schicht jedesmal eine höhere sich erhebt, und die zu zunehmender Differenzierung und Zusammenfassung fortschreiten.


2. Die äußeren Organisationen und das politische Ganze. Die politisch organisierten Nationen

1. Auf der Grundlage der natürlichen Gliederung der Menschheit und der geschichtlichen Vorgänge entwickelten sich nun die Staaten der Kulturwelt, deren jeder in sich Wirkungszusammenhänge der Kultursysteme vereint, und vor allem die im Staat organisierten Nationen. Auf diese typische Form der gegenwärtigen politischen Organisation beschränkt sich hier die Analyse.

Jeder dieser Staaten ist eine aus verschiedenen Gemeinschaften zusammengesetzte Organisation. Der Zusammenhalt der in ihm vereinigten Gemeinschaften ist schließlich die souveräne Macht des Staates, über der es keine Instanz gibt. Und wer könnte leugnen, daß der im Leben begründete Sinn der Geschichte sich ebenso im Willen zur Macht, der diese Staaten erfüllt, in dem Herrschaftsbedürfnis nach innen wie nach außen äußert, als in den Kultursystemen? Und ist nicht mit allem Brutalen, Furchtbaren, Zerstörenden, das in dem Willen zur Macht enthalten ist, mit allem Druck und Zwang, der in dem Verhältnis von Herrschaft und Gehorsam nach innen liegt, das Bewußtsein der Gemeinschaft, der Zusammengehörigkeit, die freudige Teilnahme an der Macht des politischen Ganzen verbunden, Erlebnisse, welche zu den höchsten menschlichen Werten gehören? Die Klage über die Brutalität der Staatsmacht ist seltsam: denn, wie schon Kant sah, ist die schwerste Aufgabe des Menschengeschlechtes eben darin gelegen, daß der individuelle Eigenwille und sein Streben nach Erweiterung seiner Macht- und Genußsphäre durch den Gesamtwillen und den Zwang, den er übt, gebändigt werden muß, daß dann aber für solche Gesamtwillen im Falle ihres Konfliktes die Entscheidung nur im Krieg besteht und daß auch im Innern derselben Zwang die letzte Instanz ist. Auf dem Boden dieses der politischen[208] Organisation einwohnenden Machtwillens entstehen die Bedingungen, welche überhaupt erst die Kultursysteme möglich machen. So tritt hier nun eine zusammengesetzte Struktur auf. In dieser sind Machtverhältnisse und Beziehungen von Zwecksystemen zu einer höheren Einheit verbunden. In ihr entsteht zunächst Gemeinsamkeit aus der Wechselwirkung der Kultursysteme. Ich versuche dies zu erläutern und gehe zu diesem Zweck zurück auf die älteste uns zugängliche germanische Gesellschaft, wie Cäsar und Tacitus sie beschreiben. Hier findet sich wirtschaftliches Leben, Staat und Recht mit Sprache, Mythos, Religiosität und Dichtung ebenso verbunden wie in jeder späteren Zeit. Zwischen den Beschaffenheiten der einzelnen Lebensgebiete besteht eine Wechselwirkung, die durch das Ganze zu einer gegebenen Zeit hindurchgeht. So entwickelte sich in der Taciteischen Germanenzeit aus dem kriegerischen Geist die Heldendichtung, die schon den Arminius in Liedern verherrlichte, und diese Dichtung wirkte dann wieder zurück auf die Verstärkung des kriegerischen Geistes. Ebenso entstand aus diesem kriegerischen Geiste die Unmenschlichkeit in der religiösen Sphäre, wie das Opfern der Gefangenen und das Aufhängen ihrer Leichen an heiligen Orten. Ebendieser Geist wirkte dann auf die Stellung des Kriegsgottes in der Götterwelt, und von da fand dann wieder eine Rückwirkung auf den kriegerischen Sinn statt. So entsteht eine Übereinstimmung in den verschiedenen Lebensgebieten, die so stark ist, daß wir von dem Zustand eines derselben auf den in einem anderen schließen können. Aber diese Wechselwirkung erklärt nicht vollständig die Gemeinsamkeiten, welche die verschiedenen Leistungen einer Nation miteinander verbinden. Daß zwischen Wirtschaft, Krieg, Verfassung, Recht, Sprache, Mythos, Religiosität und Dichtung in dieser Zeit eine außerordentliche Zusammenstimmung und Harmonie besteht, entspringt auch nicht daraus, daß irgendeine grundlegende Funktion, wie etwa das wirtschaftliche Leben oder die kriegerische Tätigkeit, die anderen bedingt hätte. Die Tatsache kann auch nicht einfach als Produkt der Wechselwirkung der verschiedenen Gebiete[209] in ihrem damaligen Zustande aufeinander abgeleitet werden. Ganz allgemein gesprochen: welche Einwirkungen auch von der Stärke und den Eigenschaften gewisser Leistungen ausgegangen sind, vorwiegend stammt doch die Verwandtschaft, welche die verschiedenen Lebensgebiete miteinander innerhalb einer Nation verbindet, aus einer gemeinsamen Tiefe, die keine Beschreibung erschöpft. Sie ist für uns nur in den Lebensäußerungen da, die aus dieser Tiefe hervortreten und sie zum Ausdruck bringen. Es ist der Mensch einer Nation in einer gegebenen Zeit, der in jede Lebensäußerung auf einem bestimmten Gebiet der Kultur etwas von der Besonderheit seines Wesens hineingibt; denn die in dem Leistungszusammenhang verbundenen Lebensmomente der Individuen gehen, wie wir sahen, nicht aus diesem selbst ausschließend hervor, sondern immer ist der ganze Mensch wirksam in jeder seiner Betätigungen, und so teilt er denselben auch seine Eigenheit mit. Und da die staatliche Organisation verschiedene Gemeinschaften bis herab zur Familie in sich schließt, so umfaßt weiter der große Kreis des nationalen Lebens kleinere Zusammenhänge, Gemeinschaften, die ihre Eigenbewegung für sich haben; und alle diese Wirkungszusammenhänge kreuzen sich in den einzelnen Individuen. Noch mehr: der Staat zieht die Tätigkeit in den Kultursystemen an sich; das friderizianische Preußen ist der Typus einer solchen äußersten Steigerung der Intensität und Ausdehnung der Staatswirksamkeit. Neben den selbständigen Kräften, die in den. Kultursystemen fortarbeiten, wirken in ihnen zugleich die vom Staat ausgehenden Tätigkeiten; in den Vorgängen, die einem solchen Staatsganzen angehören, ist Selbsttätigkeit und Bindung durch das Ganze überall miteinander vereinigt.


2. Die Eigenbewegung jedes einzelnen Kreises in diesem großen Wirkungszusammenhang ist von der Richtung auf den Vollzug seiner Leistung bestimmt. Diese Wirkungskraft hat die Duplizität der Spannung und einer positiven Energie der Zwecksetzung in sich: alle Wirkungszusammenhänge stimmen[210] hierin überein: aber jeder derselben hat doch seine eigene Struktur, welche von der Leistung abhängig ist, die er vollzieht. Wie verschieden ist die Struktur eines Kultursystemes, in welchem ein gegliederter Leistungszusammenhang sich realisiert, in welchem von diesem aus die Vorgänge in den Einzelnen bewegt werden, in welchem aus dem immanenten Wesen dieser Leistung die Entwicklung der Werte, Güter, Regeln, Zwecke bestimmt ist, von dem Wirkungszusammenhang in einer politischen Organisation, da in dieser ein solches in einer Leistung bestehendes immanentes Entwicklungsgesetz nicht existiert, da in ihr nach der Natur der Organisationen überhaupt die Ziele wechseln, die Maschine gleichsam zur Erfüllung einer anderen Aufgabe verwandt wird, ganz heterogene Aufgaben nebeneinander gelöst und Werte ganz verschiedener Klassen verwirklicht werden.

Aus solcher Zergliederung der geschichtlichen Welt in einzelne Wirkungszusammenhänge ergibt sich ein Schluß, der uns für die weitere Auflösung des in der geschichtlichen Welt enthaltenen Problems die Richtung gibt. Die Erkenntnis der Bedeutung und des Sinnes der geschichtlichen Welt wird oft, wie durch Hegel oder Comte, aus der Feststellung einer Gesamtrichtung in der universalgeschichtlichen Bewegung gewonnen. Es ist eine Operation, welche das Zusammenwirken vieler Momente in einer unbestimmten Anschauung ineinandersieht. In Wirklichkeit ergab sich uns, daß die historische Bewegung in den einzelnen Wirkungszusammenhängen verläuft. Und weiter zeigte sich, daß die ganze Fragestellung, die auf ein Ziel der Geschichte gerichtet ist, durchaus einseitig ist. Der offenbare Sinn der Geschichte muß zuerst in dem immer Vorhandenen, immer Wiederkehrenden in den Strukturbeziehungen, in den Wirkungszusammenhängen, der Ausbildung von Werten und Zwecken in ihnen, der inneren Ordnung, in der dieselben sich zueinander verhalten, gesucht werden – von der Struktur des Einzellebens ab bis zu der letzten allumfassenden Einheit: das ist der Sinn, den sie immer und überall hat, der auf der Struktur des Einzeldaseins beruht und der in der Struktur der zusammengesetzten[211] Wirkungszusammenhänge an der Objektivation des Lebens sich offenbart. Diese Regelmäßigkeit bestimmte auch die bisherige Entwicklung, und ihr ist die Zukunft unterworfen. Die Analyse des Aufbaus der geistigen Welt wird vor allem die Aufgabe haben, diese Regelmäßigkeiten in der Struktur der geschichtlichen Welt aufzuzeigen.

Hiermit erledigt sich auch die Auffassung, welche die Aufgabe der Geschichte in dem Fortgang von relativen Werten, Bindungen, Normen, Gütern zu unbedingten sieht. Wir würden damit aus dem Gebiete der Erfahrungswissenschaften in das Gebiet der Spekulation eintreten. Denn die Geschichte weiß zwar von den Setzungen eines Unbedingten als Wert, Norm oder Gut. Solche treten überall in ihr auf – bald als in dem göttlichen Willen gegeben, bald in einem Vernunftbegriff der Vollkommenheit, in einem teleologischen Zusammenhang der Welt, in einer allgemein gültigen Norm unseres Handelns, die transzendental-philosophisch fundiert wäre. Aber die geschichtliche Erfahrung kennt nur die ihr so wichtigen Vorgänge dieser Setzungen: von sich aus aber weiß sie nichts von deren Allgemeingültigkeit. Indem sie dem Verlauf der Ausbildung solcher unbedingten Werte, Güter oder Normen nachgeht, bemerkt sie von verschiedenen unter ihnen, wie das Leben sie hervorbrachte, die unbedingte Setzung selbst aber nur durch die Einschränkung des Horizontes der Zeit möglich wurde. Sie blickt von da aus auf die Ganzheit des Lebens in der Fülle seiner historischen Manifestationen. Sie bemerkt den ungeschlichteten Streit dieser unbedingten Setzungen untereinander. Die Frage, ob die Unterordnung unter ein solches Unbedingtes, die ja ein historisches Faktum ist, logisch zwingend auf eine allgemeine zeitlich nicht eingeschränkte Bedingung im Menschen zurückgeführt werden muß, oder ob sie als Erzeugnis der Geschichte anzusehen sei, führt in die letzten Tiefen der Transzendentalphilosophie, die jenseits des Erfahrungskreises der Geschichte liegen und denen auch die Philosophie eine sichere Antwort nicht entreißen kann. Und wenn diese Frage auch im ersten Sinne entschieden würde, so könnte das dem Historiker nicht[212] nützen für Auswahl, Verständnis, Zu sammenhangsauffindung, wenn nicht der Gehalt dieses Unbedingten bestimmt werden kann. So wird der Eingriff der Spekulation in das Erfahrungsgebiet des Historikers kaum auf Erfolg rechnen dürfen. Der Historiker kann nicht auf den Versuch verzichten, Geschichte aus ihr selbst zu verstehen auf Grund der Analyse der verschiedenen Wirkungszusammenhänge.


3. So kann nun eine staatlich organisierte Nation als eine individuell bestimmte Struktureinheit von Wirkungszusammenhängen gefaßt werden. Der gemeinsame Charakter der staatlich organisierten Nationen beruht auf den Regelmäßigkeiten, die in der Bewegungsform der Wirkungszusammenhänge, den Beziehungen derselben untereinander und, da sie wert- und zweckschaffend sind, in der Beziehung von Wirkungszusammenhang, Werterzeugung, Zwecksetzung und Bedeutungszusammenhang innerhalb einer politischen Organisation bestehen. Jeder dieser Wirkungszusammenhänge ist auf eine besondere Art in sich zentriert, und darin ist die innere Regel seiner Entwicklung fundiert. Auf der Grundlage solcher Regelmäßigkeiten, welche durch alle staatlich organisierten Nationen hindurchgehen, erheben sich die individuellen Gestalten derselben, wie sie in der Geschichte um ihr Leben und ihre Geltung ringen und zusammenwirken.

In jeder staatlich organisierten Nation unterscheidet die Analysis – und nur diese, nicht die Entstehungsgeschichte der Nationen gehört in diesen Zusammenhang – verschiedene Momente. Zwischen den von ihr befaßten, in Wechselwirkung miteinander stehenden Individuen existieren Gemeinsamkeiten ihres Charakters und ihrer Lebensäußerungen; sie haben ein Bewußtsein dieser Gemeinsamkeiten und ihrer auf ihnen beruhendes Zusammengehörigkeit; eine Richtung auf Ausgestaltung dieser Zusammengehörigkeit ist darum in ihnen lebendig. Diese Gemeinsamkeiten können an den Einzelindividuen festgestellt werden, sie durchdringen und färben aber auch alle Zusammenhänge innerhalb der Nation. Die Analysis zeigt[213] weiter in jeder Nation eine Verbindung von einzelnen Wirkungszusammenhängen. Die äußere und innere Macht des Staates macht die Nation zu einer selbständig wirkenden Einheit. Soziale Verbände sind in dieser Einheit übereinander gelagert, und jeder derselben ist ein relativ selbständiger Wirkungszusammenhang. Die über die einzelne Nation hinausgreifenden Kultursysteme treten in ihr zu den anderen Wirkungszusammenhängen in Verhältnis und werden modifiziert durch die Gemeinsamkeiten, welche durch das Volksganze hindurchgehen. Und die Kraft ihrer Wirkung wird durch die Verbände gesteigert, die aus ihrer Richtung auf eine bestimmte Leistung erwachsen. So entsteht die zusammengesetzte Struktur der staatlich organisierten Nation. Ihr entspricht eine neue innere Zentrierung dieses Ganzen. In ihm wird ein Wert für alle erlebt; das Wirken der Einzelnen hat an ihm ein gemeinsames Ziel. Die Einheit desselben objektiviert sich in Literatur, Sitten, Rechtsordnung und in den Organen des gemeinsamen Willens. Und diese Einheit äußert sich im Zusammenhang der nationalen Entwicklung.

Ich verdeutliche das Zusammenwirken der verschiedenen Momente in einem staatlich organisierten Ganzen, wie sie bestimmt worden sind, zum nationalen Leben einer Zeit in einigen Hauptpunkten.

Ich gehe dabei wieder zurück auf die Germanen der Zeit des Tacitus. Als Tacitus schrieb, war noch immer die Verbindung von Krieg mit der Bodenausnutzung, von Jagd mit der Viehzucht und dem Ackerbau die Grundlage des germanischen Lebens. Die Eindämmung der Ausbreitung der germanischen Stämme beschleunigte den natürlichen Verlauf zur Seßhaftigkeit, und Deutschland wurde ein ackerbauendes Land. Aus diesem Verhältnis zu Grund und Boden in Jagd, Viehzucht und Ackerbau entstand die Nähe des damaligen Germanen an die Erde und das, was auf ihr wächst und lebt. Und diese Nähe ist das erste entscheidende Moment für das geistige Leben der Germanen in dieser Epoche. Ebenso deutlich ist der Einfluß des anderen erwähnten gesellschaftlichen Faktors dieser Zeit,[214] des kriegerischen Geistes der germanischen Stämme auf das politische Leben, die sozialen Ordnungen und die geistige Kultur der Zeit. Die Aufgaben des Krieges durchdrangen alle Teile des Lebens. Sie machten sich in dem Verhältnis der Familien zu der militärischen Ordnung, in den Hundertschaften geltend. Sie wirkten auf die Stellung der Häuptlinge und Fürsten. Aus dem kriegerischen Geist entstand auch das Gefolgswesen, das für die militärische und politische Entwicklung bedeutsam war. Den Fürsten umgeben als sein Gefolge freie Leute als militärische Hausgenossenschaft. Nur der Krieg konnte dies Gefolge ernähren. Es war durch das stärkste Treueverhältnis an den Fürsten gebunden: ein Verhältnis, das im Heldenlied und Volksepos uns in seiner ganzen eigentümlichen germanischen Schönheit entgegentritt. Aus dem Krieg ist dann das Heerkönigtum eines Marbod hervorgegangen.

Zu diesen Faktoren tritt die Individualität des Nationalgeistes hinzu. Gemeinsamkeiten desselben machen sich in dem Ergebnis der Wirkungszusammenhänge geltend. Der kriegerische Geist, der den germanischen Stämmen dieser Zeit mit frühen Stufen anderer Völker gemeinsam ist, zeigt bei ihnen doch eine besondere Stärke und Eigenart. Der Lebenswert der einzelnen Personen ist verlegt in deren kriegerische Eigenschaften. Es ist nach Tacitus, als ob die Besten von ihnen nur im Krieg wirklich voll lebten; die Sorge für Haus und Herd und Feld überließen sie den Frauen und den Kriegsuntüchtigen. Ein eigener Zug treibt diese germanischen Menschen, in der Ganzheit ihres Wesens zu wirken und ganz und restlos sich aufs Spiel zu setzen. Ihr Handeln ist nicht durch eine rationale Zwecksetzung bestimmt und begrenzt; ein Überschuß von Energie, der über den Zweck hinausgeht, etwas Irrationales ist in ihrem Tun. In ihrer unverbrauchten, unbezähmbaren Leidenschaft setzen sie im Würfelspiel auf den letzten Wurf ihre Person und Freiheit. In der Schlacht freuen sie sich der Gefahr. Nach dem Kampf verfallen sie in träge Ruhe. Ihr Mythos, ihre Heldensage sind von diesem naiven, unbewußten Wesenszuge ganz durchdrungen, nicht in der heiteren Anschauung der Welt wie die Griechen, nicht in[215] der gedankenmäßig abgegrenzten Zweckbestimmung wie die Römer, sondern in der Äußerung der Kraft als solcher ohne Begrenzung, in der so entstehenden Erschütterung, Erweiterung, Erhebung der Persönlichkeit, den höchsten Wert und Genuß des Daseins zu besitzen. Dieser Zug, der in der Kampfesfreude seinen höchsten Ausdruck findet, übt seinen Einfluß auf die ganze Entwicklung unserer politischen Ordnungen und unseres geistigen Lebens.

Und ein letztes unter den Momenten, die ein bestimmtes nationales Ganzes enthält und die seine Entwicklung determinieren, liegt in der Einordnung von einzelnen, kleineren Verbänden in das politische Ganze, wie sie durch die Verhältnisse der Herrschaft und des Gehorsams sowie der Gemeinschaft, die in einem souveränen Staatswillen zusammengefaßt sind, entsteht. So folgen in Deutschland aufeinander das Volkskönigtum in kleinen Gemeinschaften von unvollkommener Differenzierung der Struktur, dann, auf zunehmender Arbeitsteilung gegründet, Berufsgliederung, Trennung der Stände in einem locker verbundenen nationalen Ganzen, die Ausbildung der Selbstherrschaft mit ihrer intensiven und ausgedehnten Staatstätigkeit in den Territorialstaaten, welche allmählich zwischen den Rechten der Individuen und dem Machtstreben der Selbstherrscher die Gliederung nach Beruf und Ständen zerreibt, und endlich der Fortgang dieser Staaten zu beständiger Erweiterung der individuellen Rechte der einzelnen, der Rechte der Volksgemeinschaft im repräsentativen System, demokratischen Ordnungen entgegen, und ebenso anderseits die Unterordnung der fürstlichen Rechte unter das nationale Kaisertum. Faßt man diese Entwicklung ins Auge, so zeigt sich, daß sie überall zweiseitig bedingt ist. Sie ist einerseits abhängig vom veränderlichen Verhältnis der Kräfte innerhalb des Staatensystems, sie ist anderseits bedingt von den Faktoren der inneren Entwicklung des Einzelstaates, die wir durchlaufen haben.

So zeigt sich die Möglichkeit, den Wirkungszusammenhang, der die einzelnen Momente in der Entwicklung einer Nation und die Gesamtentwicklung der Nation bedingt, der Analyse[216] zu unterwerfen und in seine Faktoren zu zerlegen. Die Regelmäßigkeiten, welche in der Struktur des politischen Ganzen bestehen, bestimmen die Lagen des Ganzen und seine Veränderungen. Es lagern sich gleichsam Schichten von Lebensordnungen dieses Ganzen übereinander, deren jede spätere die frühere voraussetzt, wie wir an den Veränderungen der politischen Organisation gesehen haben. Jede dieser Schichten zeigt eine innere Ordnung, in welcher die Wirkungszusammenhänge, vom Individuum ab, Werte ausbilden, Zwecke realisieren, Güter sammeln, Regeln des Wirkens entwickeln. Träger und Ziele dieser Leistungen sind aber verschieden. So entsteht das Problem der inneren Beziehung all dieser Leistungen aufeinander, in welcher sie ihre Bedeutung haben. Damit führt uns die Analyse des logischen Zusammenhangs der Geisteswissenschaften zu einer weiteren Aufgabe, über deren Lösung durch die Verbindung geisteswissenschaftlicher Methoden der Aufbau der Geisteswissenschaften uns Aufschluß geben wird.


3. Zeitalter und Epochen

Lassen sich so in einer bestimmten Zeitperiode einzelne Wirkungszusammenhänge analytisch herausholen und die in ihnen enthaltenen Entwicklungsmomente aufzeigen, lassen sich ferner die Beziehungen, die diese Einzelzusammenhänge zu einem strukturellen Ganzen verbinden, und die Gemeinsamkeiten in den Teilen eines politischen Ganzen bestimmen: so vermögen wir weiter die andere Seite der geschichtlichen Welt, die Linie des Zeitverlaufs und der Veränderungen in ihm durch Rückgang auf die Wirkungszusammenhänge als ein kontinuierliches und doch in Zeitabschnitte trennbares Ganzes zu verstehen. Was zunächst die Generationen, Zeitalter, Epochen20 charakterisiert,[217] sind herrschende, große, durchgehende Tendenzen. Es ist die Konzentration der ganzen Kultur eines solchen Zeitraumes in sich selbst, so daß in der Wertgebung, den Zwecksetzungen, den Lebensregeln der Zeit der Maßstab für Beurteilung, Wertschätzung, Würdigung von Personen und Richtungen gelegen ist, welche einer bestimmten Zeit ihren Charakter gibt. Der Einzelne, die Richtung, die Gemeinschaft haben ihre Bedeutung in diesem Ganzen nach ihrem inneren Verhältnis zum Geist der Zeit. Und da nun jedes Individuum in einen solchen Zeitraum eingeordnet ist, so folgt weiter, daß die Bedeutung desselben für die Geschichte in diesem seinem Bezug zu der Zeit liegt. Diejenigen Personen, welche in dem Zeitraum kraftvoll fortschreiten, sind die Führer der Zeit, ihre Repräsentanten.

In diesem Sinne spricht man vom Geist einer Zeit, vom Geist des Mittelalters, der Aufklärung. Damit ist zugleich gegeben, daß jede solcher Epochen eine Begrenzung findet in einem Lebenshorizont. Ich verstehe darunter die Begrenzung, in welcher die Menschen einer Zeit in bezug auf ihr Denken, Fühlen und Wollen leben. Es besteht in ihr ein Verhältnis von Leben, Lebensbezügen, Lebenserfahrung und Gedankenbildung, welche die Einzelnen in einem bestimmten Kreis von Modifikationen der Auffassung, Wertbildung und Zwecksetzung festhält und bindet. Unvermeidlichkeiten regieren hierin über den einzelnen Individuen.

Neben der herrschenden, großen, durchgehenden Tendenz, die der Zeit ihren Charakter gibt, bestehen andere, die sich ihr entgegensetzen. Sie streben Altes zu konservieren, sie bemerken die nachteiligen Folgen der Einseitigkeit des Zeitgeistes und wenden sich gegen ihn; wenn dann aber ein Schöpferisches, Neues hervortritt, das aus einem anderen Gefühl des Lebens entspringt, dann beginnt mitten in diesem Zeitraum die Bewegung, die bestimmt ist, eine neue Zeit herbeizuführen. Jede Entgegensetzung vorher bleibt auf dem Boden des Zeitalters oder der Epoche; was in ihr sich entgegenstemmt, hat auch zugleich[218] die Struktur der Zeit selbst. In diesem Schöpferischen beginnt dann erst ein neues Verhältnis von Leben, Lebensbezügen, Lebenserfahrung und Gedankenbildung.

So sind die Bedeutungsverhältnisse, die in einem Zeitraum zwischen den historischen Kräften bestehen, gegründet in derjenigen Beziehung der Gemeinsamkeiten und Wirkungszusammenhänge zueinander, die man als Richtungen, Strömungen, Bewegungen bezeichnen kann. Erst von ihnen aus gelangt man zu dem verwickelteren Problem, den Strukturzusammenhang eines Zeitalters oder einer Periode analytisch zu bestimmen.

Ich verdeutliche das Problem, indem ich die deutsche Aufklärung auf diesen inneren Zusammenhang hin betrachte. Denn indem man die Analyse eines Zeitalters zunächst an einer einzelnen Nation vollzieht, vereinfacht sich die Aufgabe.

Die Wissenschaft hatte sich im 17. Jahrhundert konstituiert. Aus der Entdeckung einer Ordnung der Natur nach Gesetzen und der Anwendung dieser Kausalerkenntnis auf die Herrschaft über die Natur war die Zuversicht des Geistes auf regelmäßigen Fortgang der Erkenntnis entsprungen. In dieser Arbeit für die Erkenntnis waren die Kulturnationen miteinander verbunden. So entstand die Idee einer im Fortschritt geeinigten Menschheit. Es bildete sich das Ideal einer Herrschaft der Vernunft über die Gesellschaft; dieses erfüllte die besten Kräfte; sie waren so zu einem gemeinsamen Zweck vereinigt; sie arbeiteten nach derselben Methode, sie erwarteten von dem Fortschritt des Wissens die Fortbildung der gesamten gesellschaftlichen Ordnung. Das alte Gebäude, an dessen Bau Kirchenherrschaft, Feudalverhältnisse, unbeschränkter Despotismus, Fürstenlaunen, Priesterbetrug zusammengewirkt hatten, das die Zeiten immer umänderten, das immer neuer Arbeiten bedurfte, sollte nun umgewandelt werden in einen zweckmäßigen, heiteren, symmetrischen Bau. Dies ist die innere Einheit, in welcher das geistige Leben der Individuen, Wissenschaft, Religion, Philosophie und Kunst in dem europäischen Zusammenhang der Aufklärung zu einem Ganzen verbunden sind.[219]

Diese Einheit vollzog sich auf verschiedene Art in den einzelnen Ländern. In besonders glücklicher und fester Weise gestaltete sie sich in Deutschland. Eine allgemeine Richtung in seinem höheren geistigen Leben machte sich dabei geltend. Indem man rückwärts geht, erblickt man, bis auf Freidank hinunter, in Deutschland die Tendenz, das Leben durch feste Regeln mit Bewußtsein zu ordnen. Wollte man diese als moralisch bezeichnen, so würde das die Tatsache unter einen einseitigen Gesichtspunkt stellen und ihren Umfang zu eng bestimmen. Der Ernst der nordischen Völker ist hier mit einem grübelnden Bedürfnisse der Besinnung verbunden, das aus einer Hinwendung zur Innerlichkeit des Lebens stammt und ohne Zweifel mit den politischen Zuständen zusammenhängt. Wie in dem unbeweglich gewordenen Reich Rechtsklauseln, Privilegien, Übereinkünfte die freie Lebensbewegung hemmen, so ist auch im Einzelnen das Gefühl der Bindung stärker als das der freien Zwecksetzung. Im Lebensgenuß wird immer ein Unrecht empfunden. Die Starken raffen ihn an sich, aber es ist in ihm etwas, was ihr Gewissen bedenklich macht. So ist in der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts ein Grundzug, der Leibniz, Thomasius, Wolff, Lessing, Friedrich den Großen, Kant und unzählige Geringere miteinander vereinigt. Diese Richtung auf Bindung und Pflicht war durch die Entwicklung des Luthertums und seiner Moral von Melanchthon ab gefördert worden. Sie wurde begünstigt durch die Gliederung der Gesellschaft unter dem Begriff des Berufs und des Amts, welche Luther in die moderne Zeit hinübergeführt hatte. Und indem sich nun die Tendenz zur Selbständigkeit der Person in der Aufklärung steigert, wird die Vollkommenheit zur Pflicht. In der Vernunft liegt ein Naturgesetz des Geistes, welches vom Individuum die Realisierung der Vollkommenheit in sich und anderen verlangt. Diese Forderung ist Pflicht: eine Pflicht, die nicht die Gottheit auflegt, sondern die aus dem Gesetz unserer eigenen Natur entspringt und durch Vernunftgründe festgestellt werden kann. Erst nachträglich darf dann die Vernunftregel auf den Grund der Dinge bezogen werden. Dies ist die Lehre Wolffs, die rückwärts[220] auf Pufendorf, Leibniz, Thomasius zurückgeht und vorwärts zu Kant hinführt. Sie hat die ganze Literatur der deutschen Aufklärung erfüllt. In dieser Lehre liegt das einigende Band, das die Deutschen der Aufklärung mit denen des 17. Jahrhunderts verbindet und einen einheitlichen Gesamtgeist in dieser Epoche hervorruft, der als etwas Unwägbares, überall modifiziert und doch immer dasselbe, die Nation durchdringt. Es ist eine Bestimmung des Lebenswertes, welche dem Lebenszusammenhang der deutschen Aufklärung zugrunde liegt. Das neue Schema des Fortgangs der Seele zu ihrem höchsten Wert ist in dem Vernunftcharakter des Menschen gegründet. Die Einzelperson realisiert ihren Zweck, indem sie, mündig durch Vernunftgründe, die Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaften in sich herbeiführt, und diese Herrschaft der Vernunft äußert sich als Vollkommenheit. Da nun die Vernunft allgemeingültig und allen gemeinsam ist und die Vollkommenheit des Ganzen durch die Vernunft höher steht als die Vollkommenheit des einzelnen, – in dem Sinne, daß die Vollkommenheit aller einzelnen einen höheren Wert hat als die einer Person –, wodurch hier die höchste Bindung entsteht, kraft deren der einzelne an das Wohl des Ganzen gebunden ist, so ergibt sich hieraus die nähere Bestimmung dieses Prinzips als der Vollkommenheit aller einzelnen, die erreicht wird durch den Fortschritt des Ganzen. Dies Prinzip der Aufklärung hat seinen Grund nicht im reinen Denken, und seine Herrschaft beruht nicht auf diesem, sondern es sind alle die Lebenswerte, welche die Menschen der Aufklärung erfahren, die in diesem Prinzip zu einem abstrakten Ausdruck gelangen. Daher wird diesen Köpfen, Wolff voran, Vollkommenheit, seltsam genug, zu einer Pflicht, das Streben nach ihr zu einem Gesetz, welches das Individuum bindet, und schließlich wird die Gottheit für Wolff und seine Schüler zum Gegenstand von Pflichten, die im Streben zur Vollkommenheit ihren Mittelpunkt haben. Die Lebenserfahrung selbst, in welcher diese Ideen gegründet sind, kann man am besten an Leibniz studieren. Sie beruht auf dem Erlebnis des Glücks der Entwicklung. In das Fortschreiten selber[221] verlegt der große Denker, wie dann Lessing, das höchste Glück des Menschen, da der Inhalt des Augenblicks dieses ihm nie zu gewähren vermag. Und daß dies Fortschreiten nicht auf diesen oder jenen einzelnen Zweck sich bezieht, sondern auf die Entwicklung der individuellen Person und alles in ihr umfaßt, alles verbindet, das spricht Leibniz zuerst so aus – kraft seines Erlebens. Dies Erlebnis war allenthalben vorbereitet, weil das Individuum in der Unseligkeit des nationalen Lebens immer wieder auf sich selbst und die gemeinsamen Kulturaufgaben zurückgewiesen wurde. Wie es von Leibniz ausgesprochen wurde, wirkte es überall hin. Und mit den so aus dem Leben selbst hervorgehenden Wertbegriffen, die Leibniz aufnahm, ist nun zugleich die Aufgabe bestimmt, die er seiner Philosophie stellte, aus dem Zusammenhang der individuellen Daseinswerte die Bedeutung des Lebens und den Sinn der Welt abzuleiten.

So führt im Zeitalter der Aufklärung ein einheitlicher Zusammenhang von der Form des Lebens zu der Lebenserfahrung, von den in ihr enthaltenen Erlebnissen zur Repräsentation derselben in Wertbegriffen, Pflichtgeboten, Zweckbestimmungen, Bewußtsein der Bedeutung des Lebens, des Sinnes der Welt. Und nun wächst in diesem Zusammenhang das Bewußtsein des Zeitalters über sich selbst, und in dem Fortgang zu abstrakten Formeln erhalten diese vermittels der Demonstration aus der Vernunft einen absoluten Charakter; unbedingte Werte, Bindungen, Pflichten, Güter werden formuliert, während doch der Historiker gerade hier ihre Entstehung aus dem Leben selbst klar durchschaut.

Sehen wir so in der Besinnung des Individuums über das Leben in Deutschland eine Tendenz auf dessen rationale Gestaltung, so entwickelt sich hier zugleich eine analoge Tendenz im staatlichen Leben auf der Grundlage der Eigenbedingungen des politischen Wirkungszusammenhangs.

Immer eingreifender war in der europäischen Entwicklung der Neuzeit auf den verschiedenen Kulturgebieten die Tätigkeit des Staates geworden. In dem Beamtentum, dem Militärwesen,[222] den Finanzeinrichtungen liegt nunmehr das organisatorische Zentrum aller Machtverhältnisse, und die Tätigkeit des Staates wird zu einer treibenden Kraft der Kulturbewegung. In diesem Vorgang wirken überall der Kampf der großen Staaten untereinander um Macht und Ausdehnung und das innere Bedürfnis, ihre in Krieg und Erbfall zusammengekommenen Teile zu einem einheitlichen Ganzen zu machen. In dem Monarchen, seinem Beamtentum, seiner Armee konzentriert sich die Einheit der neuen Staaten. Dieselben müssen zu festerer Gliederung ihrer Organe und zur intensiveren Ausnutzung ihrer Kräfte übergehen. Diese aber wird nur möglich durch rationaleren Betrieb der Geschäfte; der politische Fortschritt wächst nicht, sondern er wird gemacht. Jede Tätigkeit des Ganzen wird von rationaler Zwecksetzung bestimmt. Dieses Ganze nimmt immer mehrere Kulturaufgaben in sich auf – das Schulwesen, die Wissenschaft, ja, wo es erreichbar war, das kirchliche Leben. Die Fürsten repräsentieren in sich nicht nur die Einheit, sondern die Kulturrichtung des ganzen Staates. Die freien irrationalen Kräfte der Treue von Person zu Person werden ersetzt durch berechenbare und sicher wirkende. So vollzieht sich auch im staatlichen Leben die Beziehung der Kräfte, welche dem Zeitalter der Aufklärung seine Einheit gibt. Dem, was der Staat bedarf, rationale Ordnung des Lebens und rationale Verwertung der Natur, kommt nun die im 17. Jahrhundert begründete wissenschaftliche Bewegung entgegen, und diese ihrerseits findet im Staat das Organ, alle Zweige des Lebens einer rationalen Regelung zu unterwerfen, vom wirtschaftlichen Betrieb bis zu den Regeln des guten Geschmacks in den Künsten.

Kein Land war nun politisch für diese innere Beziehung, in welcher das Wesen der Aufklärung lag, so vorbereitet wie Deutschland. Seine kleineren Staaten waren auf Entwicklung der Kultur angewiesen und Preußen dazu auf die Förderung der geistigen Kräfte für den Machtkampf. Der Kreislauf der religiösen und wissenschaftlichen Kräfte vom Leben der protestantischen Gemeinden zu Schulwesen und Universitäten, von[223] diesen zum Fortschritt des religiösen Denkens in der Geistlichkeit und der Rechtsideen bei den Juristen, dann wieder rückwärts zum Volk war nirgends so entwickelt wie hier.

So sind es Kräfte von ganz verschiedenem Ursprung, Wirkungszusammenhänge, die in ganz verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung begriffen sind, welche in der deutschen Aufklärung zusammenwirken.

Während sich so die Einheit des Geistes der Aufklärung in der Wissenschaft und der philosophischen Besinnung wie im gesellschaftlichen Leben realisiert, vollzieht sie sich zugleich durch die Wirksamkeit dieses Geistes in allen einzelnen Gebieten des geistigen Lebens. In der Rechtsentwicklung in Deutschland haben wir ein interessantes Beispiel hiervon an der Entstehung der vollkommensten Gesetzgebung der Zeit – des Landrechts. In Halle bildet sich eine aus dem Geist des preußischen Staats entstandene selbständige Richtung des Naturrechts und der darauf gegründeten Jurisprudenz. Thomasius, Wolff, Böhmer und viele Geringere verbreiten die Rechtsauffassung dieser Schule durch ihre Schriften überallhin. Sie bilden die Beamten aus, die nunmehr durch die Einheit und den nationalen Charakter ihrer Geistesrichtung geeignet sind, das langstockende Gesetzgebungswerk Preußens zu vollenden. Unter der Einwirkung dieses Naturrechts stehen der König, der das Werk fordert, und die Minister und Räte, die es ausführen. Derselbe innere Zusammenhang besteht in der religiösen Bewegung der Aufklärungszeit. Auch sie zeigt die eigentümliche Zweiseitigkeit der deutschen Aufklärung. Sie ist zugleich polemisch und aufbauend. Kirchengeschichte, Naturrecht und Kirchenrecht wirken im deutschen Protestantismus zusammen zu einer Anschauung des Urchristentums, die in Böhmer, Semler, Lessing, Pfaff die Kraft wird, ein neues Ideal der Religiosität und der kirchlichen Ordnung hervorzubringen. Und auch hier vollzieht sich die Zirkulation der Ideen, die von dem Ungenügen am Bestehenden und der positiven Macht der allgemeinen neuen Ideen durch die Schulen und die Universitäten, welche von der Macht der kirchlichen Orthodoxie unabhängig sind und mit[224] dem allgemeinen wissenschaftlichen Geist in Zusammenhang stehen, hinüberführt zur Ausbildung des einzelnen Geistlichen, der nun in Stadt oder Land ein aufgeklärtes Christentum zur Geltung bringt, welches eins ist mit dem Geist der Zeit. Eine so schlichte, folgerichtige, auf die höchsten moralisch-religiösen Ideen gerichtete und zugleich mit dem Theismus des Christentums so einstimmige Wirkung hat die christliche Religiosität zu keiner Zeit geübt wie im Zeitalter der deutschen Aufklärung. Neue religiöse Werte von der größten Tragweite haben sich so damals im kirchlichen und religiösen Leben gebildet. Auch die deutsche Dichtung der Zeit wird bestimmt von der Umwälzung der Werte und Zwecke, die sich in der Aufklärungszeit vollzieht. Die Aufklärung im Staate der Selbstherrschaft wirkt auf das poetische Schaffen. Von Frankreich ausgehend, wird in Deutschland im Zusammenhang mit der gebildeten Gesellschaft die neue Prosa gebildet. Den dichterischen Gattungen werden ihre Regeln vorgezeichnet, und diese Regeln disziplinieren die höhere Form der Phantasiekunst von Shakespeare und Cervantes zu der Form streng logisch gegliederter dichterischer Gebilde. Das Ideal dieser Dichtung wird der durch die Idee der Vollkommenheit und der Aufklärung bestimmte Mensch. Und ihre Weltanschauung ist der Glaube an die teleologische Ordnung der Welt von der Natur aufwärts. Der direkte Ausdruck dieses Ideals und dieser Weltanschauung wird das Lehrgedicht; Idyll und Elegie schließen sich ihm an. Der tragische Zug im Leben wird nicht verstanden: Lustspiel, Schauspiel und vor allem der Roman werden zum höchsten poetischen Ausdruck der Zeit und erhalten eine dementsprechende Struktur: ein von optimistischen Ideen geleiteter Realismus durchdringt alle poetischen Werke.

Dieser einheitliche Zusammenhang, in welchem auf den verschiedensten Lebensgebieten die herrschende Richtung der deutschen Aufklärung zum Ausdruck kommt, bestimmt nun aber nicht alle Menschen, die diesem Zeitalter angehören, und auch wo er Einfluß gewinnt, wirken oft neben ihm andere Kräfte. Die Widerstände des voraufgehenden Zeitalters machen[225] sich geltend. Besonders wirksam sind die Kräfte, welche an die älteren Zustände und Ideen anknüpfen, ihnen aber eine neue Form zu geben suchen.

In der religiösen Sphäre trat so der Pietismus auf. Er war der stärkste unter den Kräften, in denen das Alte neue Formen annahm. Er ist der Aufklärung verwandt in der zunehmenden Gleichgültigkeit gegen äußere kirchliche Formen, in der Forderung der Toleranz, vor allem aber darin, daß er jenseits der Tradition und Autorität, welche die Kritik untergraben hatte, einen einfachen, klaren Rechtsgrund für den Glauben sucht. Dieser liegt im Umgang mit Gott und der hierauf gegründeten religiösen Erfahrung. Nur der Bekehrte versteht die Bibel: ihm eröffnet sich das in ihr mitgeteilte göttliche Wort; er ist imstande, gleichsam Entdeckungen im Gebiet des Christentums zu machen. Die Toleranz des Pietismus besteht darin, daß sie jeden auf Bekehrung gegründeten christlichen Glauben anerkennt. Die eigene religiöse Erfahrung muß der in ihr erweckte Pietist ergänzen durch fremde Bekehrungsgeschichten. Und so sehen wir, wie der Pietismus der großen individualistischen Bewegung angehört, indem er über das Luthertum mit der Ausschaltung der Kirche aus dem innerpersönlichen Vorgang hinausgeht. Aber zugleich setzt er sich nun doch der Aufklärung entgegen durch seine Einstimmigkeit mit Luthers Zuversicht zu der im Umgang mit Gott entstehenden religiösen Erfahrung. Der Pietismus steht dann wieder in einem inneren Verhältnis zur Vollendung unserer geistlichen Musik in Sebastian Bach. Wohl war Bach kein Pietist, aber die Gesänge der christlichen Seele, welche die Darstellung des Lebens Christi begleiten, zeigen schon für sich allein ausreichend seinen Zusammenhang mit der subjektiven religiösen Innerlichkeit, die in der pietistischen Bewegung ans Licht trat.

Dieselbe am Bestehenden haftende Richtung äußerte sich gegenüber den politischen Tendenzen der aufgeklärten Selbstherrschaft. Sie war auf die Aufrechterhaltung des Reiches, der ständischen Privilegien in den einzelnen Staaten und der Fortbildung der alten Rechte gerichtet. Aber auch diese Tendenzen[226] erhalten ihr höheres Bewußtsein und ihre Begründung durch das Studium der staatswissenschaftlichen Literatur der Aufklärung, und die Vorschläge eines Schlosser und Möser suchen doch auch den neuen Bedürfnissen und dem Geist der Aufklärung genug zu tun. Die politischen Ideen der Aufklärung mußten Möser umgeben, wenn er aus den bestehenden Zuständen sein Verständnis derselben und seine praktischen Tendenzen entwickeln sollte.

Und man erfaßt doch erst ganz die innere Beziehung der Richtungen, welche die Gegensätze und die Veränderlichkeit in einem solchen Zeitraum bestimmt haben, an dem Beispiel der deutschen Aufklärung, wenn man die Momente feststellt, die innerhalb der Grundrichtung selbst eine Wendung in Zukünftiges ermöglichen. Gerade die Richtung der Aufklärung auf ein Regelhaftes rief auf verschiedenen Gebieten die Versenkung in geschichtliche Tatbestände hervor, in welchen die Regel erfüllt zu sein schien. So fand man im Urchristentum den Typus einer freieren Religiosität, und dies verstärkte die Richtung auf das Studium desselben in Thomasius, Böhmer und Semler. Die Regeln, welche die Kritik dieser Zeit in der Kunst aufstellte, wurden verstärkt durch die Vertiefung in den Typus der antiken Kunst, und dies war der Standpunkt, aus welchem Winckelmann und Lessing die Kunst des Altertums und die Gesetze künstlerischen Schaffens durcheinander erleuchteten. Ein anderes Moment der Wendung auf die Aufgaben der Zukunft lag darin, daß die Vertiefung in die Einzelperson hinüberführte in die Betonung der Individualität des Schaffens und des Genies.

Fragen wir uns also, wie inmitten des Flusses des Geschehens, der Deutschland umströmt und ununterbrochen, beständig Veränderungen herbeiführend, fortgeht, eine solche Einheit abgegrenzt werden kann, so ist die Antwort zunächst, daß jeder Wirkungszusammenhang sein Gesetz in sich selbst trägt, und daß nach diesem seine Epochen ganz verschieden sind von denen der anderen. So hat die Musik eine Eigenbewegung, nach welcher der religiöse Stil, der aus der höchsten Macht des christlichen Erlebnisses hervorging, in Bach und Händel zu derselben[227] Zeit seinen Höhepunkt erreichte, in welcher die Aufklärung bereits die herrschende Richtung in Deutschland war. Und in derselben Zeit, in welcher Lessings vollkommenste Werke entstanden, trat die neue schöpferische Bewegung vom »Sturm und Drang« hervor, welche den Anfang der folgenden Epoche in der Literatur bezeichnet. Fragen wir dann weiter, welches die Bezüge sind, die zwischen den verschiedenen Wirkungszusammenhängen eine Einheit herstellen, so lautet die Antwort: nicht eine Einheit, die durch einen Grundgedanken ausdrückbar wäre, ist es, sondern vielmehr ein Zusammenhang zwischen den Tendenzen des Lebens selbst, der im Verlauf sich ausbildet.

Man kann im geschichtlichen Verlauf Zeiträume abgrenzen, in denen von der Verfassung des Lebens bis zu den höchsten Ideen eine geistige Einheit sich bildet, ihren Höhepunkt erreicht und sich wieder auflöst. In jedem solchen Zeitraum besteht eine ihm mit allen anderen gemeinsame innere Struktur, die den Zusammenhang der Teile des Ganzen, den Verlauf, die Modifikationen in den Tendenzen bestimmt: wir werden später sehen, was die Methode der Vergleichung für eine solche Strukturauffassung leisten kann. – In der immerwährenden Wirksamkeit der allgemeinen Strukturverhältnisse ergab sich uns vor allem die Bedeutung und der Sinn der Geschichte. Wie diese an jedem Punkt und zu jeder Zeit walten und das Leben der Menschen bestimmen, das in erster Linie ist der Sinn der geistigen Welt. Die Aufgabe ist, ganz systematisch von unten die Regelmäßigkeiten zu studieren, welche die Struktur des Wirkungszusammenhanges in den Trägern desselben vom Individuum aufwärts ausmachen. Wiefern diese Strukturgesetze dann ermöglichen. Voraussagen über die Zukunft zu bilden, kann erst bestimmt werden, wenn dieses Fundament gelegt ist. Das Unveränderliche, Regelhafte in den geschichtlichen Vorgängen ist der erste Gegenstand des Studiums, und davon ist die Antwort auf alle Fragen nach dem Fortschritt in der Geschichte, nach der Richtung, in der die Menschheit sich bewegt, abhängig. – Die Struktur eines bestimmten Zeitalters erwies sich dann als ein Zusammenhang[228] der einzelnen Teilzusammenhänge und Bewegungen in dem großen Wirkungskomplex einer Zeit. Aus höchst mannigfachen und veränderlichen Momenten bildet sich ein kompliziertes Ganzes. Und dieses bestimmt nun die Bedeutung, welche allem, was in dem Zeitalter wirkt, zukommt. Wenn der Geist eines solchen Zeitalters aus Schmerzen und Dissonanzen geboren ist, dann hat jeder einzelne in ihm und durch ihn seine Bedeutung. Von diesem Zusammenhang sind vor allem die großen historischen Menschen bestimmt. Ihr Schaffen geht nicht in geschichtliche Ferne, sondern schöpft aus den Werten und dem Bedeutungszusammenhang des Zeitalters selbst seine Ziele. Die produktive Energie einer Nation in einer bestimmten Zeit empfängt gerade daraus ihre höchste Kraft, daß die Menschen der Zeit auf deren Horizont eingeschränkt sind; ihre Arbeit dient der Realisierung dessen, was die Grundrichtung der Zeit ausmacht. So werden sie die Repräsentanten derselben.

Alles hat in einem Zeitalter seine Bedeutung durch die Beziehung auf die Energie, die ihm die Grundrichtung gibt. Sie drückt sich aus in Stein, auf Leinwand, in Taten oder Worten. Sie objektiviert sich in Verfassung und Gesetzgebung der Nationen. Von ihr erfüllt, faßt der Historiker die älteren Zeiten auf, und der Philosoph versucht, von ihr aus den Sinn der Welt zu deuten. Alle Äußerungen der das Zeitalter bestimmenden Energie sind einander verwandt. Hier entsteht die Aufgabe der Analyse, in den verschiedenen Lebensäußerungen die Einheit der Wertbestimmung und Zweckrichtung zu erkennen. Und indem nun die Lebensäußerungen dieser Richtung hindrängen zu absoluten Werten und Zweckbestimmungen, schließt sich der Kreis, in welchem die Menschen dieses Zeitalters eingeschlossen sind; denn in ihm sind auch die entgegenwirkenden Tendenzen enthalten. Sahen wir doch, wie die Zeit auch ihnen ihr Gepräge aufdrückt und wie die herrschende Richtung ihre freie Entwicklung niederhält. So ist der ganze Wirkungszusammenhang des Zeitalters durch den Nexus des Lebens, der Gemütswelt, der Wertbildung und der Zweckideen desselben immanent bestimmt. Jedes Wirken ist historisch, das in diesen Zusammenhang[229] eingreift; er macht den Horizont der Zeit aus, und durch ihn ist schließlich die Bedeutung jedes Teiles in diesem System der Zeit bestimmt. Dies ist die Zentrierung der Zeitalter und Epochen in sich selbst, in welcher das Problem der Bedeutung und des Sinnes in der Geschichte sich löst.

Jedes Zeitalter enthält die Rückbeziehung auf das frühere, die Fortwirkung der in jenem entwickelten Kräfte in sich, und zugleich ist in ihm schon das Streben und Schaffen enthalten, welches das folgende vorbereitet. Wie es entstanden ist aus der Insuffizienz des früheren, so trägt es in sich die Grenzen, Spannungen, Leiden, welche das künftige vorbereiten. Da jede Gestalt des geschichtlichen Lebens endlich ist, muß in ihr eine Verteilung von freudiger Kraft und von Druck, von Erweiterung des Daseins und Lebensenge, von Befriedigung und Bedürfnis enthalten sein. Der Höhepunkt der Wirkungen ihrer Grundrichtung ist nur kurz. Und von einer Zeit zur anderen geht der Hunger nach allen Arten von Befriedigung, der niemals gesättigt werden kann.

Was sich uns auch ergeben mag über das Verhältnis der historischen Zeitalter und Perioden untereinander in bezug auf die fortschreitende Zusammensetzung in der Struktur des geschichtlichen Lebens: es ist die Natur der Endlichkeit aller Gestalten der Geschichte, daß sie mit Daseinsverkümmerung und Knechtschaft, mit unerfüllter Sehnsucht behaftet sind. Und dies vor allem auf Grund davon, daß Machtverhältnisse aus dem Zusammenleben psycho-physischer Wesen nie eliminiert werden können. Wie die Selbstherrschaft der Aufklärungszeit ebenso Kabinettskriege, Ausnutzung der Untertanen für das Genußleben der Höfe hervorbrachte als das Streben der rationalen Entwicklung der Kräfte, so enthält jede andere Anordnung der Machtverhältnisse ebenfalls wieder Duplizität der Wirkungen. Und der Sinn der Geschichte kann nur in dem Bedeutungsverhältnis aller Kräfte gesucht werden, die in dem Zusammenhang der Zeiten verbunden waren.
[230]


Die systematische Bearbeitung der Wirkungszusammenhänge und Gemeinsamkeiten

Da das Verständnis der Geschichte sich vermittels der Anwendung der systematischen Geisteswissenschaften auf sie vollzieht, hat die vorliegende Darstellung des logischen Zusammenhanges in der Geschichte die allgemeinen Züge der geisteswissenschaftlichen Systematik bereits erörtert. Denn die systematische Bearbeitung der in der Geschichte herausgehobenen Wirkungszusammenhänge hat die Ergründung des Wesens eben dieser Wirkungszusammenhänge zu ihrem Ziel. Ich hebe nur vorausschickend die nachfolgenden drei Gesichtspunkte für die systematische Bearbeitung hervor.

Das Studium der Gesellschaft beruht auf der Analysis der in der Geschichte enthaltenen Wirkungszusammenhänge. Diese Analysis geht vom Konkreten zum Abstrakten, von dem wissenschaftlichen Studium der natürlichen Gliederung der Menschheit und der Völker zur Sonderung der einzelnen Wissenschaften der Kultur und der Trennung der Gebiete der äußeren Organisation der Gesellschaft fort.21

Jedes der Kultursysteme bildet einen Zusammenhang, der auf Gemeinsamkeiten beruht; da der Zusammenhang eine Leistung realisiert, hat er einen teleologischen Charakter. Hier tritt nun aber eine Schwierigkeit hervor, welche der Begriffsbildung in diesen Wissenschaften anhaftet. Die Individuen, welche zusammenwirken zu einer solchen Leistung, gehören dem Zusammenhang nur in den Vorgängen an, in denen sie zur Realisierung der Leistung mitwirken, aber sie sind doch in diesen Vorgängen mit ihrem ganzen Wesen wirksam, und so kann niemals aus dem Zweck der Leistung ein solches Gebiet konstruiert werden, vielmehr wirken neben der auf die Leistungen gerichteten Energie in dem Gebiet stets auch die anderen Seiten der menschlichen Natur mit; die historische Veränderlichkeit derselben macht sich geltend. Hierin liegt das logische Grundproblem der[231] Wissenschaft von den Kultursystemen, und wir werden sehen, wie sich zu seiner Auflösung verschiedene Methoden gebildet haben und sich befehden.

Zu dieser Schwierigkeit tritt eine Grenze, welche der Begriffsbildung in den Geisteswissenschaften anhaftet. Sie folgt daraus, daß die Wirkungszusammenhänge Leistungen realisieren und einen teleologischen Charakter haben. Die Begriffsbildung ist daher hier nicht eine einfache Generalisation, welche das Gemeinsame aus der Reihe der einzelnen Fälle gewinnt. Der Begriff spricht einen Typus aus. Er entsteht im vergleichenden Verfahren. Ich suche etwa den Begriff der Wissenschaft festzustellen. An sich fällt unter ihn jeder Gedankenzusammenhang, der auf den Vollzug einer Erkenntnis gerichtet ist. Da ist nun aber unter den Büchern, die wissenschaftlichen Aufgaben gewidmet sind, vieles unfruchtbar, vieles unlogisch, verfehlt. Es widerspricht also der auf die Leistung gerichteten Intention. Die Begriffsbildung hebt diejenigen Züge hervor, in denen die Leistung eines solchen Zusammenhanges realisiert ist: das ist die Aufgabe einer Wissenschaftslehre. Oder ich will den Begriff der Dichtung feststellen. Auch dies geschieht durch eine begriffliche Konstruktion, welcher nicht alle Verse unterzuordnen sind. Die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in einem solchen Gebiet gruppiert sich um einen Mittelpunkt, den der ideale Fall bildet, in welchem die Leistung vollständig verwirklicht ist.

Die Erörterung über den allgemeinen Zusammenhang in den Geisteswissenschaften ist hiermit abgeschlossen. Die nun folgende Darstellung des Aufbaues der Geisteswissenschaften wird die einzelnen Methoden entwickeln, in denen der allgemeine logische Zusammenhang sich realisiert.[232]


19

Einleitung in die Geisteswissenschaften S. 52 ff. [Schriften Bd. I, S. 42 ff.].

20

Ich habe zuerst 1865 im Aufsatz über Novalis den historischen Begriff der Generationen angegeben und benutzt, dann in größerem Umfang in Schleiermacher Bd. I verwertet und dann 1875 in dem Aufsatz über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Staat usw. Philos. Monatsh. XI, 123 ff. den historischen Begriff der Generation und mit ihm zusammengehörige Begriffe entwickelt. Die nähere Bestimmung der Begriffe »historische Kontinuität«, »historische Bewegung«, »Generation«, »Zeitalter«, »Epoche« ist erst in der Darstellung des Aufbaus der Geisteswissenschaften möglich.

21

Dies ist näher behandelt: Einleitung in die Geisteswissenschaften I S. 44 ff. [Schriften Bd. I, S. 35 ff.].

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. Main 1970.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften
Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften
Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.7: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften

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