§ 21. Die Einteilung der Wissenschaft

[68] Am richtigsten teilt man die Wissenschaft nach den drei Fähigkeiten der vernünftigen Seele ein, in welchen sie ihren Sitz und Ursprung hat, folglich in Geschichte, die in dem Gedächtnis, in Poesie, die in der Phantasie, in Philosophie, die in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung hat. (»De Augm. Sc.«, II, c. 1)

Die Geschichte hat es eigentlich nur mit den durch Zeit und Raum beschränkten Individuen zu tun; denn wenn sich gleich die Naturgeschichte auch mit den Arten abzugeben scheint, so kommt das nur daher, daß die Individuen in der Natur, die unter einer Art stehen, eine solche Ähnlichkeit[68] miteinander haben, daß, wer eines kennt, alle kennt. Daher gehört auch ebensogut die Beschreibung solcher Individuen, die einzig in ihrer Art dastehen, wie die Sonne und der Mond, oder auf eine besondere Weise von ihrer Art abweichen, wie die Mißgeburten, in die Naturgeschichte. Alle diese Objekte beziehen sich aber auf das Gedächtnis. (l. c.)

Die Poesie, unter der hier weiter nichts verstanden wird als die Erdichtung von Geschichten oder Fabeln, hat es auch mit Individuen zu tun; aber die Individuen der Poesie sind erdichtete Wesen; sie bildet sie zwar nach dem Muster der wirklich existierenden Individu en, jedoch so, daß sie dabei sich gar nicht an die Gesetze der Wirklichkeit kehrt und Dinge nach Belieben ersinnt und einführt, die nie in der wirklichen Welt vorfallen könnten. Aber eben dies ist die Sache der Phantasie. (l. c.)

Die Philosophie läßt die Individuen fahren und macht nicht die ersten Eindrücke der Sinne, sondern die von ihnen abgezogenen Begriffe zu ihrem Gegenstand und beschäftigt sich mit ihrer Verbindung und Trennung, wobei sie sich nach den Gesetzen der Natur und der Evidenz der Sache selbst richtet. Dieses tut aber nur die Vernunft. (l. c., c. 2)

Die besondern Hauptteile dieser verschiedenen Wissenschaften sind folgende: Die Geschichte ist entweder Naturgeschichte, deren Teile schon früher angegeben wurden, oder Staatsgeschichte (historia civilis). Diese zerfällt wieder, abgesehen von den speziellen Unterabteilungen, in Kirchengeschichte, allgemeine Geschichte der Künste und Wissenschaften, eine bis jetzt noch vermißte Wissenschaft, endlich in eigentliche Staatsgeschichte. Die Poesie aber ist entweder erzählende (narrativa) oder dramatische (dramatica) oder parabolische (parabolica). (»De Augm. Sc.«, II)

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 68-69.
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