§ 77. Die allgemeine Vernunft

[268] Gott ist also die intelligible Welt, das Licht des menschlichen Geistes. Wäre diese Wahrheit nicht abstrakter und metaphysischer Natur, so bedürfte es keiner weitern Beweise. Aber das Abstrakte ist den meisten Menschen unbegreiflich, nur das Sinnliche bewegt und fesselt ihren Geist. Was über die Sinne und die Einbildungskraft hinausgeht, können sie nicht zum Objekt ihres Geistes machen und folglich nicht begreifen.

Hier also noch einige Gründe. Jedermann gesteht ein, daß alle Menschen fähig sind, die Wahrheit zu erkennen, und selbst die am wenigsten erleuchteten Philosophen räumen ein, daß der Mensch an einer gewissen Vernunft, die sie nicht näher bestimmen, Anteil hat; deswegen definieren sie ihn als ein der Vernunft teilhaftiges Wesen. Denn jeder weiß wenigstens dunkel, daß die wesentliche Differenz des Menschen in seiner Einheit mit der allgemeinen Vernunft enthalten ist, obgleich in der Regel keiner weiß, was denn diese Vernunft in sich enthält, und sich darum bekümmert, es zu entdecken. Ich weiß z.B., daß zwei mal zwei vier macht und daß man seinen Freund seinem Hunde vorziehen muß, und ich bin gewiß, daß es keinen Menschen in der Welt gibt, der es nicht ebensogut wie ich wissen kann. Nun erkenne ich aber nicht diese Wahrheiten in dem Geiste der andern, wie auch die andern sie nicht in dem meinigen erkennen. Notwendig gibt es also eine allgemeine Vernunft, die mich und alle Intelligenzen erleuchtet. Denn wenn die Vernunft, die ich befrage, nicht dieselbe wäre, die den Chinesen auf ihre Fragen an sie antwortet, so könnte ich es doch offenbar nicht so bestimmt wissen, als ich es weiß, daß die Chinesen dieselben Wahrheiten einsehen, die ich einsehe. Die Vernunft, die wir befragen, wenn wir in uns gehen, ist daher eine allgemeine Vernunft. Ich sage: wenn wir in uns[268] gehen; denn ich meine nicht die Vernunft, der ein leidenschaftlicher Mensch folgt. Wenn einer das Leben seines Pferdes dem seines Kutschers vorzieht, so hat er dazu wohl auch seine Gründe, aber es sind nur besondere Gründe, vor denen jeder vernünftige Mensch zurückschaudert und die in Wahrheit unvernünftig sind, weil sie der höchsten Vernunft oder der allgemeinen Vernunft, die alle Menschen befragen, widersprechen.

Ich bin gewiß, daß die Ideen der Dinge unveränderlich und die ewigen Wahrheiten und Gesetze notwendig sind; es ist unmöglich, daß sie anders sind, als sie sind. Nun finde ich aber in mir nichts Unveränderliches und Notwendiges; ich kann nicht sein oder nicht so sein, als ich bin; es kann Geister geben, die mir nicht gleichen, und doch bin ich gewiß, daß es keine Geister gibt, die andre Gesetze und Wahrheiten erkennen als ich; denn jeder Geist sieht notwendig ein, daß zwei mal zwei vier macht und daß einer seinen Freund seinem Hunde vorziehen muß. Es ist daher ein notwendiger Schluß, daß die Vernunft, die alle Geister befragen, eine ewige und notwendige Vernunft ist.

Es ist ferner evident, daß ebendiese Vernunft unendlich ist. Der Geist des Menschen erkennt klar, daß es eine unendliche Anzahl von intelligibeln Dreiecken, Vier- und Fünfecken und andern ähnlichen Figuren gibt und geben kann. Er erkennt nicht nur, daß es ihm niemals an Ideen von Figuren mangeln wird und daß er immer noch neue entdecken kann, selbst wenn er sich auch eine ganze Ewigkeit hindurch nur mit diesen Arten von Ideen beschäftigte, sondern er nimmt selbst auch das Unendliche in der Ausdehnung wahr, denn er kann nicht zweifeln, daß seine Idee vom Raume unergründlich ist.134 Der Geist ist nun wohl endlich aber unendlich muß die Vernunft sein, die er befragt; denn er schaut klar das Unendliche in dieser höchsten Vernunft an, obgleich er es nicht begreift, und kann die Vernunft nicht[269] erschöpfen; sie hat auf jede seiner Fragen, es sei auch, worüber es nur immer wolle, eine Antwort bereit.

Wenn es aber wahr ist, daß die Vernunft, an der alle Menschen Anteil haben, allgemein ist, wahr, daß sie ewig und notwendig ist, so ist es gewiß, daß sie nicht von der Vernunft Gottes selbst unterschieden ist; denn nur das allgemeine und unendliche Wesen enthält in sich selbst eine allgemeine und unendliche Vernunft. Alle erschaffne Wesen sind besondere Wesen; die allgemeine Vernunft ist also keine Kreatur. Nichts Erschaffnes ist unendlich, die unendliche Vernunft ist also nicht erschaffen. Die Vernunft aber, die wir befragen, ist nicht bloß allgemein und unendlich; sie ist auch notwendig und unabhängig, ja, wir fassen sie gewissermaßen unabhängiger als Gott selbst; denn Gott kann nur in Gemäßheit dieser Vernunft handeln; er hängt von ihr in einem gewissen Sinne ab, er muß sie befragen und befolgen. Gott jedoch befragt nur sich selbst; er hängt von nichts ab. Die allgemeine Vernunft ist also von Gott selbst nicht unterschieden; sie ist mit ihm von gleicher Ewigkeit und Wesenhaftigkeit. (X. Éclairc. sur le III. Liv.)

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Das Unendliche nimmt übrigens M. häufig und so auch hier, was sich namentlich in dem Beispiel von einer Irrationalgröße zeigt, das er bei dieser Gelegenheit gibt, in einem sehr unphilosophischen Sinne, im Sinne der bloßen Grenzenlosigkeit. Jedoch in Beziehung auf das, was er damit beweisen will, ist es ganz gleichgültig, wie das Unendliche aufgefaßt und bestimmt wird.

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 268-270.
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