3. Das Wesen der Seele.

[358] Die absolute, an sich seiende (kevala) Seele ist von der empirischen, zur Materie in Beziehung stehenden Seele (jîva) zu unterscheiden; nicht als ob eine Verschiedenheit zwischen beiden existiere, sondern weil die Stellung, welche die Seele indem empirischen Dasein des Individuums einnimmt, nur dann genau präzisiert werden kann, wenn die Natur der[358] Seele an sich festgestellt ist. Überall, wo in der Sâmkhya-Literatur die Frage nach dem Wesen (svarûpa) der Seele aufgeworfen ist, wird die Antwort gegeben: die Seele ist Geist (cit, citi, cetana, caitanya), und zwar reiner Geist, Denken schlechthin (cin-mâtra), oder – was nach der Ausdrucksweise unserer Texte auf dasselbe hinausläuft – stetiges Licht (prakâśa). Da dieses das Wesen der Seele ausmachende Denken objektlos ist und sich nicht selbständig zu betätigen vermag, so ist die Seele im Zustande des absoluten Daseins – um einen Ausdruck Röers (Lecture S. 22) zu gebrauchen – knowledge of nothing13. Hiermit ist die Definition der Seele erschöpft; es gibt nach der Sâmkhya-Lehre kein Attribut, das den Begriff der Seele positiver gestaltet. In Übereinstimmung mit dem berühmten Ausspruch der Bṛhadâ-raṇyaka Upaniṣad (II. 3. 6; III. 9. 26; IV. 2. 4; 4. 22; 5. 15) »[Sie ist] nicht so, nicht so« wird die Seele als qualität- und attributlos (nirguṇa, nirdharma, nirdharmaka) bezeichnet14. Der Gedanke ist also aus der alt-brahmanischen Spekulation übernommen. Später wird er in den Sâmkhya-Schriften besonders gegen die Anhänger der Vaiśeṣika-Nyâya-Philosophie ausgespielt, der zufolge die psychischen Prozesse, Wahrnehmen, Erkennen, Wollen usw., Attribute der Seele sind.

Mit der Sâmkhya-Lehre von der Qualitätlosigkeit der Seele scheint beim ersten Blick im Widerspruch zu stehen, daß Vijñânabhikṣu in dem Verse, mit dem er seinen Kommentar eröffnet, von den ›hunderterlei Eigenschaften‹ der Seele spricht und daß verschiedentlich in unseren Lehrbüchern die Eigenschaften der Seele aufgezählt werden15. Diese Qualitäten sind jedoch alle negativer Natur, soweit sie nicht für die Stufe des Weltdaseins aus der Geistigkeit[359] der Seele abgeleitet sind. Doch sind diese Negationen nichts weniger als bedeutungslos; da sie für uns ihre positive Kehrseite haben, gewähren sie uns einen Einblick in die Vorstellungen, welche die Anhänger des Sâmkhya-Systems mit dem Begriff der Seele verbanden.

Die Seele ist anfangslos (anâdi) und endlos (ananta), d.h. ewig (nitya). Die Lehre, daß die Seele von Ewigkeit her und in alle Ewigkeit hin existiert, ist der Sâmkhya-Philosophie mit allen orthodoxen Systemen gemeinsam. Die Unsterblichkeit der Seele bedarf keines Beweises; aber das Wort wird hier in einem anderen Sinne verstanden als in den Religionen. Wohl ist die Seele an sich ewig und unzerstörbar, aber nicht ewig ist die empirische Existenz eines selbstbewußten Individuums, als welche die Fortdauer im Himmel oder in göttlicher Würde von der Volksreligion gedacht wird. Dies ist nur eine Unsterblichkeit im uneigentlichen Sinne (gauṇa), da sie im günstigsten Falle nur bis zu dem Ablauf einer Weltperiode währt16.

Die Seele ist teillos (nirbhâga)17 und schon aus dem Grunde unvergänglich; denn nur dasjenige, was aus Teilen besteht, ist der Vernichtung ausgesetzt. Diese Lehre von der Teillosigkeit der Seele steht im engsten Zusammenhang mit der Vorstellung von ihrer Größe. In welcher Weise die Theorie der Jainas, daß die Seele so groß sei wie der Körper, widerlegt wird, haben wir oben S. 146 Anm. gesehen. Die Seele kann nicht von begrenzter Ausdehnung (madhyama-parimâṇa, paricchinna-parimâṇa) sein, weil sie in dem Falle aus Teilen zusammengesetzt sein würde. So bleibt, da die Sâmkhya-Philosophie zu der Vorstellung von der Raumlosigkeit des an sich Seienden ebensowenig wie der Vedânta18 oder irgendein anderes indisches System gelangt ist, nur die Alternative, die Seele entweder für unendlich klein oder für unendlich groß zu erklären. Beide Anschauungen[360] haben innerhalb der Sâmkhya-Schule geherrscht, und zwar ist die Annahme der unendlichen Kleinheit die ursprüngliche. Freilich ist diese Ansicht nur aus einem einzigen Fragment des alten Sâmkhya-Lehrers Pañcaśikha nachzuweisen, in Vyâsas Yogabhâṣya I. 36: »Wenn er dieses atomgroße (aṇu-mâtra)19 Selbst erkannt hat, so ist er sich dessen bewußt, was es heißt ›Ich bin‹.« Aber diese Stelle ist ganz unverdächtig; denn kein späterer Sâmkhya- oder Yoga-Lehrer konnte auf den Gedanken kommen, einer so hoch verehrten Autorität wie Pañcaśikha einen mit den Lehren des Systems im Widerspruch stehenden Satz in den Mund zu legen. Gerade die abweichende Lehre ist ein Beweis für die Echtheit des Fragments. Zudem paßt die Theorie von der unendlichen Kleinheit der Seele besser in den Zusammenhang des Systems als die spätere Anschauung; denn sie ist mit der Sâmkhya-Lehre von der unzähligen Menge individueller Seelen aufs schönste vereinbar, während dies bei der Theorie, daß eine jede Seele unendlich groß sei, Schwierigkeiten macht; man müßte ja auf Grund dieser Theorie mit Vijñânabhikṣu20 zugleich eine Nichtverschiedenheit der einzelnen Seelen im Sinne von räumlicher Ungetrenntheit (avibhâga) und eine Verschiedenheit im Sinne von gegenseitiger Nichtexistenz (anyonyâ–'bhâva) behaupten.

Alle anderen Sâmkhya-Lehrer also von Îśva rakṛṣṇa21 an erklären im Widerspruche mit Pañcaśikha die Seele für alldurchdringend, allgegenwärtig, unendlich groß (vibhu, vyâ-paka, parama-mahat), und hierin ist der Einfluß der Vedânta-Philosophie auf unser System kaum zu verkennen. Dieser Einfluß muß sich zwischen dem ersten Jahrhundert n. Chr., der mutmaßlichen Lebenszeit Pañcaśikhas, und dem fünften[361] Jahrhundert, in das, wie wir oben S. 83 sahen, die Sâmkhya-kârikâ zu verlegen ist, geltend gemacht haben. Wenn die späteren Autoren ihre Polemik gegen die ursprüngliche Lehre von der atomistischen Größe der Seele vorzugsweise damit begründen, daß dieser Anschauung die Tatsache der den ganzen Körper durchdringenden, d.h. an jedem Teile des Körpers wahrnehmbaren Empfindung widerstreite22, so ist auch dieser Grund aus dem Gedankenkreise der Vedânta-Philosophie entlehnt23.

Sobald das Dogma der Allgegenwart der Seele anerkannt war, mußte diese auch für bewegungslos (niṣkriya) erklärt werden. Dieser Grund wird vorzugsweise gegen die volkstümliche Anschauung ins Feld geführt, die für den Standpunkt des Sâmkhya auch aus anderen Gründen unmöglich ist, daß nämlich die Seele ›wandere‹24. Wie wir früher gesehen haben, ist in unserem System der innere Körper das Prinzip der Metempsychose.

Die Seele ist ferner unveränderlich (apariṇâmin, kûṭastha), und hieraus wird eine Reihe weiterer Negationen abgeleitet. Sie ist absolut untätig (akartṛ), d.h. willenlos. Wenn Seele tätig wäre, so würde sie, weil nicht aus den drei Guṇas bestehend, nur gute Werke tun25. Sie ist unberührt (asaṅga) von Freude, Schmerz und allen sonstigen Affektionen26; wie sie an deren Entstehung unbeteiligt ist, so steht sie ihnen auch vollkommen gleichgiltig, neutral (udâsîna, madhyastha) gegenüber. Da sie somit ihrem Wesen nach rein (śuddha, amala) oder ewig frei (nitya-mukta) ist27, darf man ihr an sich weder ein Gebundensein noch ein Erlöstsein zuschreiben; denn das letztere setzt ein früheres Gebundensein voraus.

Die Vedânta-Philosophie lehrt, daß die Seele ihrer[362] Natur nach Sein, Denken und Wonne (sac-cid-ânanda) sei; aber das ist ein Irrtum. Die Wonne gehört dem Wesen der Seele nicht an; denn einunddasselbe Ding kann nicht beides, Wonne und Denken, sein, da rein geistiges Wesen und Wonnenatur sich gegenseitig ausschließen. Schon auf dem Standpunkt des Vedânta verbietet sich jene Annahme, die das Zugeständnis einer Dualität in sich begreift; denn die Wonne ist etwas Empfundenes und ohne ein zweites, d.h. ohne ein Empfindendes, nicht möglich28. Zwar sprechen auch die Anhänger der Sâmkhya-Philosophie von einer ›Freude der Seele‹ (âtma-sukha); denn sie nennen so die höchste Wonne, die der Mensch genießen kann, d.h. die der Ruhe, in der das reinste Sattva wirkt, im Schlafe und ähnlichen Zuständen, und das Glück der Entsagung. Aber jener Ausdruck ist nur bildlich zu verstehen; denn auch diese Wonne ruht nicht in der Seele, sondern in dem inneren Organ29.

Die Seele ist schließlich, obwohl eine Substanz (dravya), immateriell (aguṇa)30, und mithin von der Urmaterie sowohl als von allen Produkten wesensverschieden31, wie das schon oben S. 350 fg. im einzelnen ausgeführt wurde. Die Vedânta-Lehre, daß die Seele nicht nur causa efficiens, sondern auch causa materialis der Welt sei, wird durch diesen Fundamentalsatz des Sâmkhya-Systems zurückgewiesen32. Die unproduktive (a-prasava-dharmin)33 Seele besitzt nicht die Fähigkeit, sich in irgendeiner Weise zu entfalten.

Nachdem ich hiermit alles zusammengestellt habe, was unsere Texte über das Wesen der Seele aussagen, ist ein Mißverständnis der Zusammenfassung in Kârikâ 64 ausgeschlossen:[363] »So entsteht aus dem Studium der Prinzipien die abschließende, geläuterte, weil irrtumslose, absolute Erkenntnis: ›Ich [d.h. das Selbst, die Seele] bin nicht; nichts ist mein; [das] ist nicht Ich‹.« Der wahre Sinn dieses Satzes wird erst durch die erforderlichen Ergänzungen ›Ich bin nicht [nämlich tätig]‹ usw. verständlich. Schon Wilson sagt in seinen Anmerkungen zu dieser Kârikâ S. 181, daß man in dem etwas auffälligen Satze nicht eine Negation der Seele finden dürfe, und gibt auf Grund der Auslegungen der Kommentatoren die richtige Erklärung: »It is merely intended as a negation of the soul's having any active participation, any individual interest or property, in human pains, possessions, or feelings.« Röer, Lecture S. 22, äußert den Verdacht, daß alle hohen Aussprüche der Sâmkhya-Texte ein reiner Hohn seien und daß das System in Wirklichkeit ein krypto-materialistisches sei, nur um diese Annahme sofort zu widerlegen. Obwohl die Seele von der Sâmkhya-Philosophie fast vollständig des Charakters entkleidet ist, den Religion und Philosophie gewohnt sind ihr zuzuschreiben, so ist doch der Begriff der Seele für dieses System noch beinahe ebenso wichtig als der der Materie. Erst der Stifter des Buddhismus, der in so wesentlichen Punkten auf den Lehren des Sâmkhya-Systems fußt, ist einen Schritt weitergegangen und hat die Seele geleugnet34.

13

Welche Rolle aber dieses objektlose Denken im Haushalt der Natur spielt, wird weiter unten in II. 3 erörtert werden.

14

Z.B. Sûtra I. 54, 146; V. 74.

15

Kârikâ 19, Sûtra I. 19, Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 34, 36. Vgl. auch Colebrooke, Misc. Ess.2 I. 270.

16

Vijñ. zu Sûtra I. 6.

17

Sûtra V. 73.

18

S. Deussen, System des Vedânta 329.

19

Die der späteren Ansicht huldigenden Ausleger des Yogabhâṣya suchen das aṇu-mâtra Pañcaśikhas hinwegzudeuten; Vâcaspatimiśra erklärt es in der Ṭîkâ durch dur-adhigama und Vijñânabhikṣu im Yoga-vârttika S. 67 durch sûkṣmatama. Die Bedeutung ›schwer erkennbar‹ könnte wohl aṇu an sich haben, aber aṇu-mâtra nimmermehr.

20

Zu Sûtra I. 151 und sonst.

21

S. Kârikâ 10, 11.

22

Vijñ. zu Sûtra I. 51.

23

S. Deussen, System des Vedânta 333, 334.

24

Sûtra I. 48-51, V. 76.

25

Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 38; vgl. auch Nr. 42, 43.

26

Sûtra I. 15.

27

Sûtra I. 19, 162, 163; Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 34, 36.

28

Sûtra V. 66, 67. Die eingehendere Polemik gegen diese Vedânta-Theorie ist in den Kommentaren zu den beiden Sûtras zu finden.

29

Vijñ. zu Sûtra I. 66, IV. 11.

30

Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 34, 36.

31

Kârikâ 11, 17, Sûtra I. 139-144, III. 75, VI. 2-4.

32

Sûtra VI. 33.

33

Kârikâ 11, Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 34, 36.

34

In welcher Weise er dies getan hat, ist bei Oldenberg, Buddha6 290 fg. nachzusehen.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 358-364.
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