Zweyter Brief.

[174] den 1. März 1760.


H.H.


Es thut mir leyd dem Wink des Quintilians in Ansehung des Euripides gefolgt zu haben. Die Ausgabe ist vollkommen gut für mich; sie hält mich im Lesen weniger auf, und erleichtert mir auch meine Mental-Übersetzung. Da ich bloß dem Geist der alten nachspüre, und mir mehr an dem Genie als der Grammatick der griechischen Sprache gelegen: so geht mich das Schulmeistergesicht nichts an, womit Gässner und Ernesti die Versionen5 ihren Zuhörern vereckeln. Ich will sehr damit zufrieden seyn, wenn ich nur mein Griechisch ungefehr so verstehe, wie Überbringer dieses seine Muttersprache – – zur Leibesnahrung und Nothdurft – – mehr durch den influxum physicum meiner Wärterinnen, als durch die harmoniam praestabilitam gelehrter Aristarche.

Da Sie H.H. der gröste Beförderer meines griechischen Studii sind, und ich mir noch mehr Beyhülfe zu meinen künftigen Otiis von dero Gewogenheit verspreche: so mache ich mir aus der Pflicht, Ihnen von meinen Arbeiten Rechenschaft zu geben, heute einen Zeitvertreib, und theile Ihnen etwas von einem Entwurfe mit, über den ich von niemanden besser erinnert und zurecht gewiesen werden kann. Meine Zeit ist kurz – – meine Kräfte mehr zur Muße als Geschäften abgemessen. Da ich überdem mit meinen Neigungen wie Alexander mit seinem scheuen Bucephalus umgehen muß: so kann ich nicht leichtsinnig und flüchtig genug eine so verjährte Sprache treiben, als die griechische zum Theil selbst unter Gelehrten geworden, und muß alle Vortheile anwenden, die mir mein Tagewerk spielend und zugleich einträglich schaffen – – lauter Diagonalen schneiden – – aus entgegen- oder zusammengesetzten principiis handeln und die kürzeste Linie zur Laufbahn meines Ziels machen.

Sie wissen H.H. daß ich mit Homer, Pindar und den Dichtern Griechenlands den Anfang gemacht. In Ansehung derer, die mir noch[174] übrig sind, will mir eben keine gewisse Gränzen setzen, sondern deren genauere Bestimmung Zeit und Gelegenheit überlassen.

Hierauf denk ich zu den Philosophen überzugehen, unter denen nicht mehr als drey meiner Aufmerksamkeit ausgesetzt seyn sollen: Hippokrates – Aristoteles – Platon – Ihre Schriften stellen uns den Cirkel der Wissenschaften vor, wo Hypothesen – – Systeme – – und Beobachtungen das Erste und Letzte sind. Platon und Aristoteles verdienen meines Erachtens in Vergleichung gelesen zu werden, als Muster der eklektischen und enkyklischen Philosophie. Hier ist Scylla und Charybdis, die man so glücklich, wie Ulysses gelehrt wurde, vorbey schiffen muß. – – Leibnitz, sagt man, war nicht systematisch und Wolf nicht eklektisch genug. Prüfung aber kehrt die Urtheile des Augenscheins nur gar zu öfters um – – Aristoteles ist ein Muster in der Zeichnung, Platon im Kolorit. –

Nachbarlich der Sonne, denkt ein merkurischer Leibnitz

Sieben Gedanken auf einmal – – –

steht im Traum des Siechbettes. Wolfens Opera ströhmen von lauter Exergasien und Tavtologien über und über, mehr als unsere Litaneyen, auresque perpetuis repetitionibus, Orienti iucundis, Europae inuisis laedunt, prudentioribus stomachaturis, dormitaturis reliquis, wie der gelehrte Herausgeber des Lowths in der Vorrede zum ersten Theil der Vorlesungen über die heilige Poesie der Hebräer eben so gründlich als scharfsinnig anmerkt. – – Aristoteles und Plato verdienen aber auch, jeder vor sich, studiret zu werden, weil ich in des ersteren Schriften die Trümmer der griechischen, in Platons hingegen die Beute der ägyptischen und pythagoräischen Weisheit, mithin in beyden Quellen mehr als in Laerz und Plutarch vermuthe.

Von den Philosophen soll erst die Neyhe an die Geschichtschreiber kommen. Es gehört beynahe eben die Sagacität und vis diuinandi dazu, das Vergangene als die Zukunft zu lesen. Wie man in den Schulen das Neue Testament mit dem Evangelisten Johannes anfängt; so werden auch die Geschichtschreiber als die leichtesten Schriftsteller angesehen. Kann man aber das Vergangene kennen, wenn man das Gegenwärtige nicht einmal versteht? – – Und wer will vom Gegenwärtigen richtige Begriffe nehmen, ohne das Zukünftige zu wissen? Das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige, und dieses das Vergangene, wie die Absicht Beschaffenheit und den Gebrauch der Mittel – – Wir sind gleichwohl hierin schon an ein υστερον προτερον in unserer Denkungsart gewohnt, das wir alle Augenblicke durch unsere Handlungen, wie die Bilder im Auge, umkehren ohne selbst etwas davon zu merken. – –[175] Um das Gegenwärtige zu verstehen ist uns die Poesie behülflich auf eine synthetische, und die Philosophie, auf eine analytische Weise. Bey Gelegenheit der Historie fällt mir ein gelehrter Mann ein, der täglich eine Seite im Etymologico magno liest und drey oder vier Wörter davon behält, um der beste Historicus in seiner Nachbarschaft zu seyn; doch je weniger man selbst gelernt hat, desto geschickter ist man andere zu lehren. – –

Ich möchte eher die Anatomie für einen Schlüssel zum Γνωϑι σεαυτον ansehen, als in unsern historischen Skeletten die Kunst zu leben und zu regieren suchen, wie man mir in meiner Juhend erzählen wollen. Das Feld der Geschichte ist mir daher immer wie jenes weite Feld vorgekommen, das voller Beine lag, – – und siehe! sie waren sehr verdorret. Niemand als ein Prophet kann von diesen Beinen weissagen, daß Adern und Fleisch darauf wachsen und Haut sie überziehe. – – Noch ist kein Odem in ihnen – – bis der Prophet zum Winde weissagt, und des HErrn Wort zum Winde spricht – – – – Meynen Sie nicht, H.H. daß ich mich auf die Schritte freuen darf, die ich in den griechischen Geschichtschreibern werden thun können, und daß mir die Poeten und Philosophen zum Vorspann dienen werden? – –

Wem die Historie (kraft ihres Namens) Wissenschaft; die Philosophie Erkänntnis; die Poesie Geschmack giebt: der wird nicht nur selbst beredt, sondern auch den alten Rednern ziemlich gewachsen seyn. Sie legten Begebenheiten zum Grunde, machten eine Kette von Schlüssen, die in ihren Zuhörern Entschlüsse und Leidenschaften wurden.

Aus Rednern wurden Schwätzer; aus Geschichtskundigen Polyhistores; aus Philosophen Sophisten; aus Poeten witzige Köpfe. Hier würde sich für mich die hohe Schule Griechenlands in allen vier Fakultäten anfangen; nichts als Schwärmen dürfte dann mein Studieren werden – vom gastfreyen Athenäus an bis zu Longins Hahnengeschrey περι υψους – –

Sehen Sie, H.H. meine lange Bahn! – Sie werden mir aus dem kleinen Dichter6, dessen Anglergespräche Sie gelesen haben, vielleicht zuruffen:


Go, with elastic arm impell the bowl

Erring victorious to its envy'd goal!
[176]

Doch dieser ganze Plan ist der bunten Iris7 gleich, ein Kind der Sonne und der Dünste, steht von einem bis zum andern Ende des Gesichtskreyses, unter dem ich schreibe, – eine Augenlust, zu deren Besitz ich meine Füße nicht brauchen werde – vielleicht von gleicher Dauer in dem Kikajon, jenem Sohn einer Nacht, dessen Schatten dem Jona so wohl that – –

Eine große Frage würde meinen Fleiß irre machen, an der mir so viel gelegen als einem Tausendkünstler (M.A.) am Lehrsatz der besten Welt oder einem Maltheser neutrius generis am Natur- und Völkerrecht. – Diese Frage hat mit dem Grundsatz aller schönen Künste eine genaue Verbindung. Ohne selbige zu verstehen; läst sich Ja! und Nein! darauf am leichtesten beweisen. Einige nämlich behaupten; daß das Alterthum die Alberne weise mache. Andere hingegen wollen erhärten; daß die Natur klüger mache als die Alten. Welche muß man lesen und welche nachahmen? Wo ist die Auslegung von beyden, die unser Verständnis öfnet? Vielleicht verhalten sich die Alten zur Natur, wie die Scholiasten zu ihrem Autor. Wer die Alten, ohne Natur zu kennen, studiert, liest Noten ohne Text, und an Petrons Ausgabe in groß Qvart über ein klein Fragment sich wenigstens zum Doctor, der vielleicht kaum um ein Haar besser weiß, was ein arbiter elegantiarum bey einem römischen Kayser für ein Geschöpf gewesen. – Wer kein Fell über sein Auge hat, für den hat Homer keine Decke. Wer den hellen Tag noch nie gesehen, an den werden weder Didymus noch Eusthatius Wunder thun. Es fehlt uns also entweder an Grundsätzen die Alten zu lesen, oder es geht uns mit ihnen, wie unser alte Landsmann die Gemeine singen gelehrt: »Vom Fleisch will nicht heraus der Geist, vom Gesetz (der Nachahmung) erfordert allermeist« – – Der Zorn benimmt mir alle Überlegung, H.H. wenn ich daran gedenke, wie so eine edle Gabe GOttes, als die Wissenschaften sind, verwüstet – von starken Geistern in Coffeeschenken zerrissen, von faulen Mönchen in akademischen Messen zertreten werden8; – und wie es möglich, daß junge Leute in die alte Fee, Gelehrsamkeit, ohne Zähne und Haare – etwa falsche – verliebt seyn können. – Διαπειρα τοι βροτων ελεγχος.[177]

Ich komme also auf meinen Euripides zurück, von dem ich mir viel Vortheile verspreche; mehr Vergnügen aber vom Sophokles, dessen Ajax ich von weiten kenne. Weil in demselben der Charakter des Ulysses nach Vater Homers Anlage geschildert ist, und eben derselbe in der Hekuba des Euripides seine Rolle spielt: so hat mir die Gegeneinanderhaltung, wie diese Hauptfigur der Mythologie von beyden Dichtern gefasset worden, ein ziemlich Licht über ihre Denkungsart gegeben. Euripides scheint sich sehr zum Geschmack des Parterre heruntergelassen, in der Bildung seiner Personen und ihrer Sitten den herrschenden Vorurtheilen des großen Haufens geschmeichelt zu haben; auch fällt sein Affect zu oft in Deklamation. Auf alle diese Vorzüge gründet sich vermuthlich das günstige Urtheil des Quintilians, der ihn Leuten in öffentlichen Geschäften, und die es mit dem Volk zu thun haben, besonders empfiehlt. Als ein Professor der Eloquenz hat er noch mehr Gründe gehabt, die Lesung dieses Dichters anzupreisen. Der bloße Ajax hingegen lehrt mich, daß Sophokles die Natur des Menschen, der Poesie und besonders der dramatischen Kunst philosophischer eingesehen.

Wie Cervantes durch seinen Don Quixotte den Spaniern das Romanhafte hat verleiden wollen: so glaubt man, daß Homer in seiner Odyssee seinen Landesleuten einen neuen Weg zum Ruhm eröfnen und Klugheit dem Verdienst auf körperliche Vorzüge entgegensetzen wollen. Diese Absicht scheint wenigstens Sophokles erkannt und vor Augen gehabt zu haben. Der Charakter, den er dem Ulysses giebt, ist ehrwürdig, heilig, geheim; daher dem griechischen Pöbel verhaßt und wunderlich, das mit Euripide einen klugen Mann lieber für einen Betrüger und Schwärmer verleumden mag. – – Ich fürchte aber von meinem dithyrambischen Briefe, was vafer Flaccus sagt:

– – – occiditque legendo.

Aus Überdruß des gedruckten räch ich mich an weißem Papier, ohne zu bedenken, ob Leser dieses so viel Zeit als Endesunterschriebener zu verschwenden übrig habe. Empfehle mich H.H. Dero geneigten Nachsicht als ect. ect.[178]

5

Batteux beschreibt selbige als eine Art von Dictionaire continu, toujours ouvert (devant ceux, qui entendent le texte en partie; mais qui ont besoin de quelque secours par l'entendre mieux) & présentant le mot dont on a besoin – – Die Fehler der meisten Übersetzungen drücken noch stärker die meisten Wörterbücher; – oder wie Pope dem Philologen zuflüstert:

Nor suffers Horace more in wrong Translations

By Wits, than Critics in as wrong Quotations.

Art of Criticism.

6

The Anglers. Eight Dialogues in verse.

Rura mihi & rigui placeant in vallibus amnes

Flumina amem siluasque inglorius – –

Lond. 1758. Der Verfasser soll ein Geistlicher,

Mr. Scott seyn.

7

Hail, many-colour'd messenger, that ne'er

Do'st disobey the wife of Jupiter!

Who with thy saffron wings upon my flowers

Diffusest honey drops, refreshing showers;

And with each end of thy blue bow do'st crown

My bosky acres, and my unsbrub'd down,

Rich scarf to my proud earth – –

Ceres in Shakespeares Tempest.

8

Matth. VII, 6.

Quelle:
Johann Georg Hamann: Kreuzzüge des Philologen, in: Sämtliche Werke, Band 2: Schriften über Philosophie / Philologie / Kritik. 1758–1763, Wien 1950, S. 174-179.
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