V. Das Unbewusste in den Reflexwirkungen

[109] »Reflectorische Bewegungen nennt man gegenwärtig solche, bei welchen der excitirende Reiz weder ein contractiles Gebilde, noch einen motorischen Nerven unmittelbar trifft, sondern einen Nerven, welcher seinen Erregungszustand einem Centralorgane mittheilt, worauf durch Vermittelung des letzteren der Reiz auf motorische Nerven überspringt, und nun erst durch Muskelbewegungen sich geltend macht.«10 Diese Erklärung scheint mir so gut, als die Physiologie sie zu geben im Stande ist, und es lässt sich keine Einschränkung derselben finden, die nicht gewisse Classen allgemein als solcher anerkannter Reflexbewegungen von diesem Namen ausschlösse, und dennoch ist leicht zu sehen, dass sie viel weiter ist, als die Physiologie beabsichtigt, da alle Bewegungen und Handlungen in derselben Platz finden, deren Motiv nicht ein im Hirne von selbst entsprungener Gedanke, sondern unmittelbar oder mittelbar um Sinneseindruck ist. Um diesen stetigen Uebergang der niedrigsten Reflexbewegungen in die bewussten Willensthätigkeiten näher zu verfolgen, müssen wir in die Betrachtung der Beispiele eingehen.

Wenn man ein frisch ausgeschnittenes Froschherz, welches langsam pulsirt, durch einen Nadelstich reizt, so entsteht unabhängig vom Rhythmus des Schlages eine Systole (Zusammenziehung) in der[109] normalen Reihenfolge der Theile. Vor dem völligen Erlöschen der Reizbarkeit tritt eine Zeit ein, wo die Reizung nur eine örtliche Contraction von abnehmender Raumgrösse zur Folge hat. Zerschneidet man das Herz im noch kräftigen Zustande, aber so, dass Verbindungsbrücken zwischen den Theilen bleiben, so bewirkt Reizung des einen Theils, in welchem ein Ganglienknoten in der Muskelsubstanz enthalten ist, Contraction beider Theile, dagegen hat Reizung des anderen Theiles, welcher keinen Knoten enthält, nur örtliche Contraction zur Folge. Hieraus geht hervor, dass die auf Reizung erfolgende normale Systole keine einfache Reizerscheinung contractilen Gewebes ist, sondern eine durch die eingelagerten Ganglienknoten vermittelte Reflexbewegung. Andere Versuche, z.B. die Theilung des Rückenmarkes in kleine Querschnitte u.s.w. machen es wahrscheinlich, dass jedes Nervencentrum der Vermittler von Reflexbewegungen sein kann. Je höher das Nervencentrum entwickelt ist, einen desto höheren Grad von Zweckmässigkeit und Geschicklichkeit in der Complication der Bewegungen zeigen seine Reflexwirkungen-Volkmann sagt (Hwb. II. 545): »Combiniren sich verschiedene Muskeln zu einer Reflexbewegung, gleichviel ob synchronisch oder in der Zeitfolge, so ist die Combination stets eine mechanisch zweckmässige. Ich meine, die gleichzeitig wirkenden Muskeln unterstützen sich, z.B. in Hervorbringung einer Flexion, und die in der Zeitfolge nach einander thätigen vereinigen sich in zweckmässiger Fortführung und Vollendung der schon begonnenen Bewegung. Reizt man einen enthaupteten und in gestreckter Lage befindlichen Frosch am Hinterschenkel hinreichend kräftig, so combiniren sich zunächst die Flexoren und Adductoren beider Schenkel, erst nachdem die Schenkel an den Leib gezogen sind, combiniren sich die Extensoren zu einer gemeinsamen Streckung, und das Gesammtresultat ist eine mehr oder weniger regelmässige Ortsbewegung zum Schwimmen oder zum Sprunge.

In vielen Fällen haben die reflectorischen Bewegungen nicht nur den Charakter der Zweckmässigkeit, sondern sogar einen gewissen Anstrich der Absicht. Junge Hunde, bei welchen ich das grosse und kleine Gehirn mit Ausnahme des verlängerten Marks zerstört hatte, suchten mit der Vorderpfote meine Hand zu entfernen, wenn ich sie unsanft bei den Ohren fasste. Bei enthaupteten Fröschen sieht man oft, dass sie eine heftig geknippene Hautstelle frottiren (was nur durch ein abwechselndes Spiel der Antagonisten möglich ist), und Schildkröten, welche man nach der Enthauptung verletzt, verstecken sich in ihrem Gehäuse.« – Das verlängerte Mark,[110] als das nächst dem Gehirn am höchsten entwickelte Nervencentrum, ist es auch, welches die complicirtesten Reflexbewegungen vermittelt, wie z.B. das Athmen mit seinen Modificationen: Schluchzen, Seufzen, Lachen, Weinen, Husten; ferner das Niesen bei Reizung der Nasenschleimhaut, das Schlucken und Erbrechen bei leichtem Druck (durch einen Bissen) oder Kitzel des Schlundes und Gaumens; das Lachen erfolgt auf Kitzel der äusseren Haut, das Husten auf Reizung des Kehlkopfes.

Sehr wichtig für das ganze Leben des Menschen und auf schon viel complicirtere Vorgänge in den Centralorganen hinweisend sind die durch die Sinneswahrnehmungen hervorgerufenen Reflexbewegungen; allerdings eine Classe von Erscheinungen, denen die Physiologie noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt hat, weil sie sich nur am ganzen lebenden Körper und zum Theil nur psychologisch an sich selber studiren lassen. Es ist aber offenbar, dass diese Betrachtungsweise vor der an verstümmelten Leichen oder enthirnten Thieren ihre grossen Vorzüge hat, da man doch keineswegs bei Organismen, die so eben den Tod erlitten, oder die schwersten Operationen ausgehalten haben, oder gar noch mit Strychnin behandelt sind, einen normalen Zustand der Reactionsfähigkeit für die mit den zerstörten Theilen in so directer Correspondenz stehenden niederen Centralorgane voraussetzen darf. Dazu kommt noch, dass bei den geköpften Thieren auch das verlängerte Mark und die grossen Hirnganglien entfernt sind, welche letztere wahrscheinlich auch noch zum Rückenmark oder wenigstens nicht zum Gehirn gerechnet werden müssen. Aus alledem erklärt sich sehr wohl die bei solchen Experimenten bisweilen hervortretende Unvollkommenheit der Zweckmässigkeit in den Reflexbewegungen, weil man die pathologischen Elemente nicht auszusondern vermag.

Die nächsten durch einen Sinneseindruck hervorgerufenen Reflexbewegungen bestehen darin, dass das betreffende Sinnesorgan in eine solche Stellung, Spannung u.s.w. gebracht wird, wie zum deutlichen Wahrnehmen erforderlich ist. Beim Tasten entsteht ein Hin- und Herbewegen der Finger, beim Schmecken Absonderung von Speichel und Hin- und Herbewegen des schmeckenden Stoffes im Munde, beim Riechen Erweiterung der Nasenlöcher und kurze, rasche Inspirationen, beim Hören Spannung des Trommelfelles und Bewegungen der Ohren und des Kopfes, beim Sehen Stellung beider Augencentra nach der Stelle des grössten Reizes, Accommodation der Linse zur Entfernung und der Iris zur Lichtstärke. Alle diese Bewegungen[111] mit Ausnahme der letztgenannten können auch willkürlich ausgeführt werden, aber nur durch die Vorstellung des veränderten Sinneseindruckes; nur schwer oder gar nicht durch directe Vorstellung der Bewegungen. Z.B. hält der untersuchende Augenarzt dem Patienten den Finger dahin, wohin er sehen soll, denn wenn er ihn das Auge nach rechts oben wenden heisst, so entstehen häufig die verschrobensten Bewegungen in den Augen und Lidern, nur die verlangte nicht. An diesen Reflexbewegungen nimmt bei gesteigerter Lebhaftigkeit nicht selten den Kopf, die Arme und der ganze Körper unwillkürlich Antheil. Ferner werden durch das Ohr Bewegungen in den Sprachwerkzeugen reflectirt, denn bekanntlich beruht alles Sprechenlernen der Kinder und Thiere darauf, dass ein unwillkürlicher Trieb sie nöthigt, das Gehörte zu reproduciren; dasselbe findet statt bei Melodien, wo es sich leichter auch bei Erwachsenen beobachtet; ohne diesen Reflex wäre es unmöglich, Vögel zum Pfeifen von Melodien abzurichten. Die reflectorische Nöthigung zum Aussprechen der gehörten Worte kann man aber auch an sich selbst beim Denken beobachten. Hier ruft nämlich, ähnlich wie in erhöhtem Grade bei Entstehung der Traumbilder und Hallucinationen, zunächst der noch nicht sinnliche Gedanke des Worts einen centrifugalen Innervationsstrom nach dem Hörnerven hervor, als dessen reflectorische Folge ein centripetaler Strom die Gehörsempfindung des Wortes zurückbringt, und diese ruft in den Sprachwerkzeugen die Reflexbewegungen des lauten oder leisen Aussprechens hervor. Der natürliche Mensch, z.B. der ungebildete oder leidenschaftlich erregte, denkt laut, es gehört schon der Zwang der Bildung dazu, leise zu denken, und selbst hier wird man sich fast immer, wenn man darauf achtet, über einem Muskelgefühl in den Sprachwerkzeugen ertappen, welches in schwächerem Grade dasselbe ist, welches durch das Aussprechen der Worte entstehen würde, das also offenbar den Ansatz zu jener Thätigkeit enthält. Beim Lesen ist es ganz ähnlich.

Eine der wichtigsten Reflexwirkungen des grossen Gehirns, namentlich auf Sinneswahrnehmungen, ist derjenige centrifugale Innervationsstrom, welchen wir Aufmerksamkeit nennen, und welcher alle einigermaassen deutlichen Wahrnehmungen erst ermöglicht. Derselbe entsteht als Reflexwirkung auf einen Reiz, welcher die sensiblen Nerven der Sinnesorgane trifft. Wenn das Gehirn anderweitig zu sehr in Anspruch genommen ist, um auf solche Reize zu reagiren, so bleibt diese Wirkung aus, und alsdann ist uns der Sinneseindruck[112] entgangen, ohne zur Wahrnehmung zu werden. Dieser Innervationsstrom kann auf einzelne Theile einer Sinneswahrnehmung (z.B. einen beliebigen des Gesichtsfeldes oder ein Instrument im Orchester) gerichtet werden, wodurch sich erklärt, dass man oft gerade nur das sieht und hört, was ein besonderes Interesse für den gegenwärtigen Zustand des Gehirns hat, womit auch manche Erscheinungen des Nachtwandelns zusammenhängen. Das partielle Fehlen dieses Innervationsstroms ist es auch, was den sonst unerklärlichen Unterschied zwischen fehlenden und schwarzen Stellen des Sehfeldes begreiflich macht.A30 Auch willkürlich kann man diesen Innervationsstrom auf gewisse Körpertheile richten und dadurch die für gewöhnlich nicht bemerkten Empfindungen, welche alle Körpertheile fortwährend erzeugen, als Wahrnehmungen zum Bewusstsein bringen; z.B. ich kann meine Fingerspitzen fühlen, wenn ich auf sie lebhaft achte; (man denke ferner an Hypochondrische). Eine Grenze zwischen solchen Innervationsströmen, die durch bewusste Willkür erzeugt sind, und solchen, die als Reflexwirkung auf Sinneseindrücke mit einseitig vorwiegendem Interesse der Gehirnstimmung erfolgen, lässt sich hier so wenig wie in irgend einem anderen Gebiete dieser Erscheinungen auffinden und fixiren. Sehr merkwürdig sind manche durch das Auge und den Tastsinn vermittelte Reflexbewegungen. Das Auge schützt nicht nur sich selbst reflectorisch vor Verletzungen, welche es herannahen sieht, durch Schliessen, Ausbiegen des Kopfes und des Körpers, oder Vorhalten des Armes, sondern es schützt auch andere bedrohte Körpertheile auf dieselbe Weise, ja sogar andere Dinge; z.B. wenn ein Glas von dem Tisch herunterfällt, vor dem man sitzt, so ist das plötzliche Zugreifen gerade so gut Reflexbewegung, wie das Ausbiegen des Kopfes vor einem heranfliegenden Stein, oder das Pariren der Hiebe beim Fechten: denn im einen wie im anderen Falle würde der Entschluss nach bewusster Ueberlegung viel zu spät kommen. Sollte es wirklich ein verschiedenes Princip sein, welches den enthirnten jungen Hund die ihn in's Ohr kneifende Hand mit der Pfote fortstossen lässt, und welches den Menschen einen durch das Auge gewährten drohenden Schlag durch plötzlich erhobenen Arm abwehren lässt? Die wunderbarsten reflectorischen Leistungen des Gesichts- und Tastsinnes bestehen aber in den complicirten Bewegungen im Wahren der Balance, wie sie beim Ausgleiten, Gehen, Reiten, Tanzen, Springen, Turnen, Schlittschuhlaufen u.s.w. theils von selbst stattfinden (namentlich bei Thieren), theils durch Uebung erworben werden, wobei immer die ursprüngliche[113] Fähigkeit dazu vorausgesetzt werden muss. Wenn man über einen Graben springt, ist es nicht leicht, über den jenseitigen Rand hinauszuspringen, auch wenn man auf ebener Erde viel weiter springen kann; aber das Auge bewirkt durch eine unbewusste Reflexion, dass gerade die zum Erreichen des jenseitigen Randes nöthige Muskelkraft angewendet werde, und dieser unbewusste Wille ist oft stärker, als der bewusste, weiter zu springen. Alle die genannten Functionen gehen merkwürdigerweise viel leichter, sicherer und sogar graziöser von Statten, wenn sie ohne bewussten Willen als einfache Reflexbewegungen der Gesichts- und Tast-Empfindungen vollzogen werden; jede Einmischung des Hirnbewusstseins wirkt nur hemmend und störend, daher Maulthiere sicherer als Menschen auf gefährlichen Wegen gehen, weil sie sich nicht durch bewusste Ueberlegung stören lassen, und Nachtwandler im unbewussten Zustande auf Wegen gehen und klettern, wo sie mit Bewusstsein unfehlbar verunglücken. Denn die bewusste Ueberlegung führt allemal den Zweifel, der Zweifel das Zaudern, dieses aber häufig das Zuspätkommen mit sich; die unbewusste Intelligenz dagegen ist allemal zweifellos sicher, das Rechte zu ergreifen, oder vielmehr der Zweifel kommt ihr niemals an, und darum ergreift sie fast immer das Rechte im rechten Moment. – Sogar Vorlesen und Clavierspielen nach Noten können, wenn das Bewusstsein anderweitig beschäftigt ist oder schläft, als blosse Reflexbewegungen der Gefühlseindrücke vorgenommen werden, wie denn Fälle beobachtet sind, dass das laute Lesen nach dem Einschlafen noch eine Weile fortgesetzt wird, oder Musikstücke in traumähnlichen, bewusstlosen Zuständen besser vorgetragen wurden, als im Wachen. Dass man das Lesen oder vom Blattspielen oft völlig bewusstlos und ohne die geringste nachherige Erinnerung des Inhalts fortsetzt, wenn das Bewusstsein in anderweitige fesselnde Gedanken ausschweift, kann jeder an sich selbst beobachten. Ja sogar plötzliche kurze Antworten auf schnelle Fragen haben oft etwas reflectorisch Unbewusstes an sich, wenn sie bewusstlos wie aus der Pistole geschossen werden, und man sich hernach gelegentlich selbst darüber wundert oder schämt, wenn sie den Umständen und Anwesenden nicht angemessen waren.

Wichtiger aber als alles bisher Betrachtete ist die Ueberlegung, dass es keine, oder fast keine willkürliche Bewegung giebt, die nicht zugleich als eine Combination von Reflexwirkungen aufgefasst werden müsste. Ich meine dies so. Anatomische Untersuchungen ergeben, dass im oberen Theile des Rückenmarkes die Anzahl sämmtlicher[114] Primitivfasern nur einen sehr kleinen Bruchtheil der Primitivfasern aller der Nerven beträgt, welche durch den bewussten Willen, also vom Gehirn aus, Bewegungen hervorzurufen bestimmt sind. Da nun aber die Leitung vom Gehirn zu den Muskelnerven mit geringen Ausnahmen doch nur durch das obere Rückenmark geschehen kann, so geht daraus hervor, dass eine Faser im oberen Rückenmark eine grosse Menge zusammengehöriger Muskelnervenfasern zu innerviren bestimmt sein muss. Es liesse sich eine directe Anastomose (Ineinandergreifen, Verknüpfung) dieser Fasern denken, doch erscheint diese Annahme sowohl nach den anatomischen Beobachtungen höchst unwahrscheinlich, als auch zwingt der Umstand, sie fallen zu lassen, dass ein und dieselben Bewegungen bald vom Hirn aus angeregt, bald in Folge irgend einer anderen Anregung von den Rückenmarkscentralorganen selbstständig vollzogen werden, und in der Art ihrer Complication eine Unzahl der feinsten Modificationen zulassen, während eine directe Anastomose immer unverändert dieselben Bewegungen zur Folge haben müsste. Hierzu kommt noch, dass das Gehirn, welches den Befehl zur Execution einer complicirten Folge von Bewegungen ertheilt, von dieser Complication selbst gar keine Vorstellung hat, sondern nur eine Gesammtvorstellung des Resultats, (wie beim Sprechen, Singen, Gehen, Tanzen, Laufen, Springen, Turnen, Fechten, Reiten, Schlittschuhlaufen) dass also alles Detail der Ausführung, wie es zu dem beabsichtigten Gesammtresultat erforderlich ist, dem Rückenmark überlassen bleibt. (Man frage sich nur, ob man etwas von den Muskelcombinationen weiss, die man zum Aussprechen eines Wortes, oder zum Singen einer Coloratur braucht.) Demnach scheint mir die allein übrig bleibende Auffassungsweise die, dass der Innervationsstrom, welcher den bewussten Willen des Gesammtresultates der Bewegung vom Gehirn zum Centralorgan dieser Bewegung im Rückenmark leitet, und welcher zwar für das Gehirn ein centrifugaler, für das Nervencentrum der Bewegung aber ein centripetaler ist, dass dieser Strom als Sensation von dem Bewegungscentrum empfunden werde, gerade so gut, wie eine von peripherischen Körpertheilen kommende Empfindung, und dass die Folge dieser Sensation das Eintreten der intendirten Bewegung sei. Es ist aber klar, dass wir hiermit wiederum den Begriff der Reflexbewegung erfüllt sehen, sobald man sich nur entschliesst, die relativen Begriffe centrifugaler und centripetaler Ströme in ihren richtigen Relationen zu brauchen.

Man wird leicht einsehen, dass es kaum eine Bewegung giebt,[115] welche, wenn sie vom Hirnbewusstsein intendirt ist, nicht erst ein oder mehrere Male zu einem anderen Bewegungscentrum geleitet und dort erst in Scene gesetzt wird. Das Bewusstsein kann freilich die Bewegungen bis auf einen gewissen Grad zerlegen, und zu jeder Theilbewegung den bewussten Impuls geben (dies ist ja auch die Art, die Bewegung zu lernen), aber erstens wird auch jede solche Theilvorstellung wahrscheinlich keine andere Leitung nach den Muskeln finden, als durch die graue Masse der Bewegungscentra hindurch, also immer den Charakter des Reflectirten behalten, zweitens erfordern auch die einfachsten dem Hirnbewusstsein zugänglichen Bewegungselemente noch höchst verwickelte Bewegungscombinationen zu ihrer Ausführung, in welche das Bewusstsein nie eindringt (z.B. das Aussprechen eines Vocals, oder das Singen eines Tons), und drittens hat die ganze Bewegung, wenn ihre einzelnen Elemente so weit als möglich vom bewussten Willen intendirt werden, etwas überaus Langsames, Plumpes, Ungeschicktes und Schwerfälliges, während dieselbe Bewegung sich mit der grössten Leichtigkeit, Schnelligkeit, Sicherheit und Grazie vollzieht, wenn nur ihr Endresultat vom Hirnbewusstsein intendirt war, und die Ausführung den betreffenden Bewegungscentren überlassen blieb. – Man denke nur an die Erscheinung des Stotterns. Der Stotternde spricht oft ganz geläufig, wenn er gar nicht an die Aussprache denkt, und sein Bewusstsein sich nur mit dein Inhalt der Rede, aber nicht mit deren formeller Verwirklichung beschäftigt; sowie er aber an die Aussprache denkt und durch den bewussten Willen diesen oder jenen Laut erzwingen will, so bleibt der Erfolg aus, und statt dessen stellen sich allerlei Mitbewegungen ein, die bis zum Krampfhaften gehen können. Ganz ähnlich ist es mit dem Schreibkrampf und allen oben aufgeführten körperlichen Uebungen, bei denen die Hauptsache ist, dass sie einem erst zur Natur werden, d.h. dass der bewusste Wille sich nicht mehr um die Details zu bekümmern braucht. Durch diese Auffassungsweise wird auch erst die Erscheinung erklärlich, dass oft ein einmaliger Impuls des bewussten Willens genügt, um eine lange Reihe periodisch wiederkehren der Bewegungen herbeizuführen, die so lange fortdauert, bis sie durch einen neuen Willensimpuls unterbrochen wird. Ohne diese Einrichtung würden alle unsere gewöhnlichen Thätigkeiten, wie Gehen, Lesen, Spielen, Sprechen etc. eine Menge von Willensimpulsen des Gehirns absorbiren, welche sehr bald Ermüdung zur Folge haben müssten. Sie beweist aber auch die Selbstständigkeit der niederen Nervencentra und widerlegt[116] auf's Entschiedenste obige Annahme einer directen Anastomose der Nerven. Es dürfte jetzt auch verständlich sein, wie es zugeht, dass so viele Thätigkeiten und Beschäftigungen, deren kleinste Details wir beim Erlernen derselben mit Bewusstsein vollziehen müssen, später nach erlangter Uebung und Gewohnheit sich ganz unbewusst vollziehen, wie Stricken, Clavierspielen, Lesen, Schreiben u.s.w. Es ist dann eben die ganze Arbeit, die beim Erlernen vom Gehirn vollzogen werden musste, auf untergeordnete Nervencentra übertragen worden; denn diese können sich eine gewohnheitsmässige Combination gewisser Thätigkeiten so gut einüben, wie sich das Gehirn im Denken übt, oder etwas auswendig lernt. Dass aber alsdann die Thätigkeiten grossentheils für das Hirn unbewusst werden, das verleiht ihnen für das Hirn eine gewisse Aehnlichkeit mit Instincthandlungen, während doch für das der Thätigkeit vorstehende Nervencentrum die Uebung und Gewohnheit das gerade Gegentheil des Instinctes ist.

Dass die bis jetzt betrachteten Erscheinungen alle einen wesentlich gleichen Kern zu Grunde liegen haben, dürfte wohl nicht schwer sein, einzusehen. Wir gingen von den durch Reizung peripherischer Körpertheile erzeugten reflectorischen Bewegungen aus, und fanden schon hier die Zweckmässigkeit sowohl in dem Resultat der ganzen Bewegung, als in der gleichzeitigen und aufeinander folgenden Combination der verschiedensten Muskeln, ja theilweise sogar in einem abwechselnden Spiel der Antagonisten auf das Entschiedenste ausgesprochen. Wir gingen dann zu den durch Sinneswahrnehmungen erzeugten Reflexbewegungen über, und fanden hier dieselbe Sache, nur öfters mit einem Anstrich höherer Intelligenz dadurch, dass die höheren Centralpuncte des Rückenmarkes mehr in's Spiel kamen Endlich betrachteten wir die Reflexwirkungen, bei denen der excitirende Reiz ein durch den bewussten Willen erzeugter Innervationsstrom vom Gehirn nach den betreffenden anderen Centralorganen ist und bemerkten hier nicht einmal mehr eine quantitative Steigerung der Leistungen gegen die durch Sinneswahrnehmungen erzeugten Reflexbewegungen; ganz natürlich, denn die in dem Reflex sich offenbarende Intelligenz hängt ja weit mehr von der Entwickelungsstufe des reflectirenden Centralorgans, als von der Beschaffenheit des Reizes ab.

Dass in der That auch das Gehirn Centralorgan von Reflexwirkungen werden kann, dürfen wir nach der Analogie seines Baues mit den anderen Centris nicht bezweifeln. Bei Reflexwirkungen des[117] Gangliensystems und enthirnten Individuen kommt nicht einmal der Reiz zur Perception des Gehirns, wohl aber geschieht dies bei Reflexen des Rückenmarkes an gesunden Organismen. In diesem Falle wird jedoch im Hirne nur der Reiz und nichts von dem Willen der Bewegung empfunden; offenbar muss aber auch letzteres stattfinden wenn das Hirn selbst Centralorgan des Reflexes werden soll. Solche Fälle sind uns aber schon bekannt. Z.B. das Auffangen eines vom Tische lallenden Glases oder das Pariren eines vorhergesehenen Schlages mit dem Arme können diese Merkmale haben. Demnach werden wir nicht umhin können, sie als Reflexwirkungen anzusehen, wenn nur die Vermittelung zwischen der Perception des Motives und dem Willen der Ausführung ausserhalb des Hirnbewusstseins gelegen hat, was noch dadurch erhärtet werden kann, dass die bewusste Ueberlegung offenbar zu spät gekommen wäre. Eben hierher gehört ein Theil des noch nicht ganz unbewussten Vorlesens und Vorspielens, oder das schnelle Antworten auf plötzliche Fragen, oder das plötzliche Hutabziehen auf den überraschenden Gruss einer unbekannten Person. Der Hirnreflex ist häufig den Rückenmarksreflexen überlegen und verhindert das Zustandekommen dieser; z.B. ein geköpfter Frosch kratzt die geknippene Hautstelle, ein lebender hopst davon. Man sieht hier den unmittelbaren Uebergang zwischen Hirnreflex und bewusster Seelenthätigkeit, wofür sich gar keine Grenze ziehen lässt. Es folgt hieraus die Einheit des allen diesen Erscheinungen zu Grunde liegenden Princips. Darum giebt es nur zwei consequente Betrachtungsweisen dieser Dinge: entweder die Seele ist überall nur letztes Resultat materieller Vorgänge, sowohl im Hirn als im übrigen Nervenleben (dann müssen aber auch die Zwecke überall geleugnet werden, wo sie nicht durch bewusste Nerventhätigkeit gesetzt werden), oder die Seele ist überall das den materiellen Nervenvorgängen zu Grunde liegende, sie schaffende und regelnde Princip, und das Bewusstsein ist nur eine durch diese Vorgänge vermittelte Erscheinungsform desselben. Wir werden in der Folge sehen, welche von beiden Annahmen diesen Thatsachen besser entspricht.

Das Nächste, was wir zu untersuchen haben, ist die Frage, ob die betrachteten Erscheinungen als Wirkungen eines todten Mechanismus angesehen werden können, ob wir nicht vielmehr gezwungen werden, sie als Folgen einer den Centralorganen innewohnenden Intelligenz aufzufassen, wobei vorläufig obige Alternative noch unerörtert bleibt. Wenden wir uns zunächst an die Physiologie. Wir[118] sehen auf einen Nadelstich in die Froschschenkelhaut beide Schenkel zucken, wenn nur das kleine Stück Rückenmark unversehrt ist, aus welchem die Schenkelnerven entspringen. Der Nadelstich afficirt offenbar nur Eine Nervenprimitivfaser, da in einem Kreise von gewisser Grösse die Lage der gestochenen Stelle nicht unterschieden werden kann; die Zahl der durch denselben in Action gesetzten motorischen Fasern ist aber ungeheuer gross, denn sie kann den ganzen Körper umfassen. Schon dadurch ist die directe Anastomose der sensiblen und motorischen Nerven höchst unwahrscheinlich. Noch mehr aber wird sie es dadurch, dass dieselben motorischen Fasern reagiren, wenn diese oder jene Stelle der Froschschenkelhaut gestochen wird, wenn also verschiedene sensible Nervenfasern den Reiz zum Centrum leiten. Ausserdem bieten die mikroskopischen Untersuchungen dieser Annahme nicht nur keine Stütze, sondern vielmehr hat schon Kölliker das Hervortreten motorischer Fasern aus Kügelchen grauer Nervensubstanz (Centralorgan) direct beobachtet, und man nimmt jetzt allgemein an, dass der centrale Ursprung sämmtlicher Nervenfasern in Ganglienzellen, d.h. den eigenthümlichen kugeligen oder strahligen Zellen der grauen Nervensubstanz, zu suchen ist. Es müsste demnach der von den sensiblen Fasern zugeleitete Reiz jedenfalls zunächst vom Centralorgan aufgenommen und durch dieses den motorischen Nerven zugeführt werden; auf andere Weise könnte unmöglich fast jede sensible Faser im Stande sein, auf jede motorische Faser desselben Centrums zu wirken (wie dies wirklich der Fall ist). Werden aber alle Reize zuerst vom Centralorgan aufgenommen und von diesem erst auf die motorischen Nerven übertragen, so wird die materialistische Erklärung der Reflexwirkungen durch einen eigenthümlichen Mechanismus der Leitungsverhältnisse ganz unmöglich; denn nun lassen sich gar keine Gesetze und Einrichtungen mehr denken, welche ein und denselben Strom bald auf nahe, bald auf ferne Theile überspringen, bald in dieser, bald in jener Reihenfolge die Reactionen auf einander folgen lassen, ja sogar auf einen einfachen Reiz ein abwechselndes Spiel der Antagonisten eintreten lassen könnten (wie beim Frottiren der geknippenen Stelle). – Die Unmöglichkeit eines prästabilirten Mechanismus ist aber physiologisch noch viel schlagender nachzuweisen. Theilt man nämlich das Rückenmark seiner ganzen Länge nach durch einen Schnitt von vorn nach hinten, so leidet die Befähigung zu Reflexbewegungen nicht, nur sind sie dann auf die jedesmal gereizte Körperhälfte beschränkt; lässt man dagegen zwischen[119] den beiden getrennten Seitenhälften an irgend einer Stelle eine verbindende Brücke übrig, oder durchschneidet man in einiger Entfernung von einander einerseits die linke, andererseits die rechte Hälfte des Rückenmarkes quer, so dass alle Längenfasern desselben getrennt werden, so kann man durch Reizung jedes Hautpunctes allgemeine Reflexbewegungen erregen. Dies ist wohl der deutlichste Beweis, dass die motorische Reaction nicht eine Folge der vorgezeichneten Bahnen der Leitung des Reizes ist, sondern dass der Strom, um die zweckmässigen Reflexbewegungen zu Stande zu bringen , nach Zerstörung der gewöhnlichen Leitungsbahnen sich neue Bahnen schafft, wenn nur nicht völlige Isolation der Theile bewirkt ist.A31 Es muss also ein über den materiellen Leitungsgesetzen der Nervenströmungen stehendes Princip vorhanden sein, welches die Veränderung der Umstände schafft, vermöge deren die Bahnen jener Strömungen verändert werden, und dieses Princip kann nur ein immaterielles sein. Dasselbe wird auch durch den Umstand documentirt, dass die Verbindung der Reflexbewegungen zum grössten Theil durch bewussten Willen und Uebung lösbar ist.

So schlagend auch diese anatomisch-physiologischen Gründe sind, so sind sie doch noch nicht die stärksten. Wäre nämlich die in Reflexwirkungen erscheinende Zweckmässigkeit eine äusserlich prädeterminirte, durch einen materiellen Mechanismus in Scene gesetzte, so wäre die Accommodationsfähigkeit der Bewegungen nach der Beschaffenheit der Umstände, dieser unerschöpfliche Reichthum von Combinationen, deren jede für ihren besonderen Fall angemessen ist, geradezu unerklärlich; man müsste vielmehr eine stete Wiederkehr weniger und sich immer gleich bleibender Bewegungscomplicationen erwarten, während ein einziger Blick auf die Unendlichkeit von Combinationen, wie sie allein zur Wahrung der Balance stattfinden, hinreicht, um die Ueberzeugung einer immanenten Zweckmässigkeit, einer individuellen Vorsehung, zu begründen, wie wir sie schon bei Betrachtung des Instincts kennen gelernt haben. Wir müssen uns also unbedingt den Vorgang so vorstellen, dass der Reiz als Vorstellung percipirt wird, und durch die Vorstellung der damit verbundenen Gefahr oder Unlustempfindung die Vorstellung der Abhülfe durch die entsprechende Gegenbewegung erzeugt wird, welche nun Gegenstand des Wollens wird. Dass die Nervencentra des Rückenmarkes und der Ganglien die Fähigkeit des Wollens besitzen, haben wir früher schon besprochen, dass sie ganz analog den dort angeführten Parallelen auch Sensibilität haben[120] müssen, leuchtet sofort ein; da sich aber keine Sensation ohne einen gewissen, wenn auch noch so geringen Grad von Bewusstsein denken lässt, so haben sie auch ein gewisses Bewusstsein: es sind also der Anfang und das Ende des Processes, die Perception des Reizes und der Wille zur Bewegung, Functionen, welche wir kein Bedenken tragen dürfen, jedem Nervencentrum zuzuschreiben; es fragt sich nur, ob die Vermittelung zwischen beiden, die Zwecksetzung, auch eine Function bewusster Vorstellungscombination dieser Nervencentra sein kann. Dies muss nun allerdings verneint werden, denn wir haben ja gesehen, dass die Leistungen des Reflexes für den Organismus gerade darum von so grosser Wichtigkeit sind, weil sie an Leichtigkeit, Schnelligkeit und Sicherheit die Leistungen der bewussten Ueberlegung des Gehirns so weit überragen. Dies ist aber gerade der Charakter der unbewussten Vorstellung, wie wir ihn am Instinct kennen gelernt haben, und ferner überall anderweitig kennen lernen werden. Mithin gilt alles, was wir beim Instinct gegen die Entstehung durch bewusste Ueberlegung angeführt haben, hier in noch viel höherem Maasse, theils weil die Augenblicklichkeit der Wirkung hier noch mehr in die Augen fällt, und noch mehr mit der Langsamkeit des bewussten Denkens in tiefstehenden Wesen contrastirt, theils weil wir es hier in den Thieren vorzugsweise mit den niederen Centris zu thun haben, während wir doch erfahrungsmässig nur da einigermaassen nennenswerthe Resultate der bewussten Ueberlegung finden, wo die Hirnfunction der höheren Vögel und Säugethiere eintritt; wenn wir dagegen die Thiere betrachten, deren Hauptcentra ungefähr auf der Stufe der niederen menschlichen Nervencentra stehen, so tritt uns auch die grösste Stupidität und Bornirtheit entgegen (z.B. schon bei den meisten Amphibien und Fischen) gegen welche die bewunderungswürdige Sicherheit und Zweckmässigkeit auf das Schärfste absticht, mit der die nun im Verhältniss zu dem geistigen Gesammtleben des Thieres an Bedeutung und Ausdehnung immer zunehmenden Instincthandlungen vollzogen werden. Hier ist nichts mehr von jenem zweifelnden Abwägen des discursiven Denkens, nichts von jenem vorsichtigen Zögern der Klugheit die wir an höheren Thieren beobachten, sondern auf das Motiv erfolgt momentan die Instincthandlung, zu der die Ueberlegung sogar dem menschlichen Hirn oft eine geraume Zeit kosten würde, und wenn die Handlung unzweckmässig war, wie dies bei sinnlicher Täuschung in der bewussten Wahrnehmung der Motive wohl vorkommt, so wird der verderbliche Irrthum mit derselben Sicherheit erfasst.[121] Wir müssen diesen Character der unbewussten Vorstellung im Gegensatz zum discursiven Denken als eine unmittelbare intellectuale Anschauung bezeichnen, und werden, wo wir auch die (nicht relativ zu diesem oder jenem Centrum, sondern absolut) unbewusste Vorstellung noch antreffen, dieses Merkmal zutreffen sehen.

Durch den Vergleich mit dem Instinct sehen wir uns also entschieden davor gewarnt, die immanente Zweckmässigkeit der Reflexbewegungen als durch bewusstes Denken jener Nervencentra erzeugt zu betrachten. Hiermit stimmt völlig die psychische Selbstbeobachtung derjenigen Reflexbewegungen überein, deren Centralorgan das Hirn bildet; Anfangs- und Endglied des psychischen Processes, die Perception des Reizes, und der Wille der Bewegung fallen in's Bewusstsein des Organs, nicht aber die bindenden Zwischenglieder, in denen die Zweckvorstellung liegen muss. Die einzig mögliche Auffassungsweise, welche nach unserer Entwickelung des Gegenstandes übrig bleibt, ist also die, dass die Reflexbewegungen die Instincthandlungen der untergeordneten Nervencentra seien, d.h. absolut unbewusste Vorstellungen, welche die Entstehung des für das betreffende Centrum bewussten, für das Gehirn aber unbewussten Willens der Reflexwirkung aus der in demselben Sinne bewussten Perception des Reizes vermitteln. Der Reiz kann ausser dieser Perception im reflectirenden Centrum vermittelst Leitung zum Gehirn auch in diesem empfunden werden, dies ist dann aber eine zweite Perception für sich, welche mit jener Reflexbewegung und deren Vorgang nichts zu thun hat. Die Instincte und Reflexwirkungen sind sich auch darin gleich, dass sie bei den Individuen derselben Thierspecies auf gleiche Reize und Motive wesentlich gleiche Reactionen zeigen. Auch hier hat dieser Umstand die Ansicht bestärkt, dass statt unbewusster Geistesthätigkeit und immanenter Zweckmässigkeit ein todter Mechanismus vorhanden sei; dieser Umstand wird aber als Gegengrund gegen unsere Auffassung dadurch entkräftet, dass er sich aus letzterer mit Leichtigkeit auf dieselbe Weise erklärt, wie dies zum Schluss des Capitels über den Instinct angedeutet ist.A32[122]

10

Wagner's Handwörterbuch der Physiologie Bd. II. S. 542, Artikel »Nervenphysiologie« von Volkmann. Vgl. auch über die histor. Entwickelung des Begriffes Reflexbewegung und zur Würdigung der Auffassungen der öfters die Wahrheit dicht berührenden früheren Forscher die empfehlenswerthe Schritt J. W. Arnold's: »Die Lehre von der Reflexfunction.«

A30

S. 113 Z. 10. Die Empfindung des Schwarzen ist nämlich die Empfindung desjenigen chemischen Restitutions- oder Recompositionsprocesses der Nervenmasse, welcher dem Consumtions- oder Decompositionsprocess entgegengesetzt ist, wie er als Empfindung des Weissen zum Bewusstsein kommt (nach der physiologischen Licht- und Farbentheorie von Hering, vgl. Naturforscher 1875, Nr. 9); die chemische Recomposition aller Nervenmasse (und besonders der Leitungsfasern) wird aber durch centrifugale Innervationsströme von den bezüglichen Centren aus angeregt und geleitet, und dieser Innervationsstrom gelangt in Sinnesnerven dem Grosshirn theilweise als Aufmerksamkeit zum Bewusstsein (vgl. oben S. 427-430). Es ist also ein und dasselbe, ob man sagt: in den Nervenfasern ohne Endorgane der Gesichtswahrnehmung oder in den von keinen Nervenprimitivfasern repräsentirten Stellen des Netzhautbildes fehlt die entsprechende Recomposition, weil die äusseren Anlässe zur Decomposition fehlen; oder ob man sagt: wo niemals centripetale Empfindungsreize zugeleitet werden, kann auch kein centrifugaler Innervationsstrom zu Stande kommen, der doch zunächst reflectorisch entstehen muss.

A31

S. 120 Z. 12. Ich kann das angeführte Beispiel heute nicht mehr als stringenten Beweis dessen ansehen, was es an dieser Stelle beweisen soll; denn in der That sind auch im normalen Zustande ausser der einen Hauptleitung des Reflexes (welche von der Insertionsstelle des sensiblen zu der des motorischen Nerven in der grauen Masse des Rückenmarks auf kürzestem Wege führt) noch eine Menge Nebenleitungen von grösserem oder geringerem Leitungswiderstande vorhanden, welche je nach der wechselnden Grösse des Reizes und der Reizbarkeit mit in Anspruch genommen werden. Ist nun die Hauptleitung zerstört, so werden die Zweigleitungen in Function treten, wenn entweder der angewandte Reiz gross genug, oder die Reizbarkeit des Rückenmarks hinlänglich gesteigert ist (letzteres geschieht theils durch Strychnin, theils durch die Abtrennung des Rückenmarks vom Gehirn und seinen reflexhemmenden Einflüssen). Aber es ist wohl zu beachten, dass die Nebenleitungen um so mehr Centralstellen von grauer Substanz passiren, je weitere Umwege sie einschlagen, und dass jeder Durchgang der Erregung durch graue Substanz (wegen der in den Ganglienzellen der letzteren enthaltenen hemmenden Einflüsse und zur Auslösung bereiten specifischen Kraftvorräthe) keine einfache Leitung mehr ist, sondern selbst wieder ein Reflex. Je grössere Umwege also ein Reiz einschlägt, ehe er als motorische Reaction wieder austritt, um so complicirter wird die Zusammensetzung des Gesammtreflexes aus einer ganzen Reihe von Einzelreflexen, bei deren jedem sich das Problem der psychischen Innerlichkeit und Zweckmässigkeit des Reflexes wiederholt. Wenn mithin obiges Beispiel unmittelbar nicht beweist, was es beweisen soll, so spricht es noch weit weniger für die entgegengesetzte, rein mechanische Auffassung, sondern lässt das in jedem Moment wiederkehrende Problem zunächst offen. Entschieden aber wird dieses Problem dadurch, dass die Zweckmässigkeit der Reflexmechanismen selbst eine allmählich gewordene und teleologisch modificirbare ist, dass die vorhandenen Dispositionen oder Hilfsmechanismen selbst erst durch eine Summe von zweckmässigen Functionen entstanden sind, welche ohne diese Mechanismen möglich waren, und dass sie ihre Zweckmässigkeit noch immer modificiren durch zweckmässige Abänderung der Functionen, welche nach öfterer Wiederholung eine Abänderung in den vorhandenen Moleculardispositionen hervorbringen.

A32

S. 122 letzte Z. Vergl. zu diesem Cap. den Anhang, besonders Abschnitt 3, 4, 5, 6 u. 11.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 109-123.
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Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
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