VI. Das Unbewusste in der Naturheilkraft

[123] Wenn man dem Vogel sein Nest, der Spinne ihr Netz, der Raupe ihr Gespinnst, der Schnecke ihr Hans beschädigt, dem Vogel ein Stück seines Federkleides nimmt, so bessern alle den Schaden, der ihre künftige Existenz gefährdet, oder doch erschwert, wieder aus. Wir haben gesehen, dass die ersten dieser Aeusserungen dem Instinct zugeschrieben werden müssen, und wir sollten die frappante Parallelität der beiden letzten Erscheinungen mit jenen verkennen können? Wir haben erkannt, dass es eine unbewusste Vorstellung des Zweckes ist, welche, verbunden mit dem Willen, ihn zu erreichen, das bewusste Wollen des Mittels dictirt, und wir sollten zweifeln, dass wir es mit derselben Sache zu thun haben, wo der Gegenstand der Einwirkung nicht mehr etwas Aeusseres, sondern der eigene Körper selbst ist, da wir doch nicht die Grenze zu fixiren im Stande sind, wo der eigene Körper anfängt und aufhört, wie bei dem Gespinnst der Raupe, dem Haus der Schnecke, dem Federkleid des Vogels, wie zwischen Excretionen und Secretionen? Nimmt man dem Polypen seine Fangarme oder dem Wurm seinen Kopf, so muss das Thier aus Mangel an Nahrung sterben, und wenn das Thier die Fangarme oder den Kopf ersetzt und weiter lebt, so sollte etwas anderes als die unbewusste Vorstellung dieser Unentbehrlichkeit die Grundursache des Ersatzes sein? Man wende nicht ein, der Unterschied zwischen Instinct und Heilkraft läge darin, dass im ersteren Fall Vorstellung und Wollen wenigstens des Mittels bewusst, im letzteren Falle aber auch diese unbewusst seien. Denn nach den Auseinandersetzungen über die Selbstständigkeit der niederen Nervencentra wird man nicht bezweifeln, dass das Wollen des Mittels sehr wohl auf irgend eine Weise und irgendwo in niederen Nervencentren, z.B. den kleinen Ganglienzellen, aus welchen die der Ernährung[123] vorstehenden sympathischen Nervenfasern entspringen, zum Bewusstsein kommen kann, auch wenn das Hauptcentrum des Thieres nichts davon weiss, und andererseits wird sich Niemand die Entscheidung zutrauen, ob und wie weit bei niederen Thieren im Instinct auch nur das Wollen des Mittels immer zum Bewusstsein kommt.

Betrachten wir nun die Wirkungen der Heilkraft etwas näher:

Bei den Hydren wird jeder Theil ihrer Masse wieder ersetzt, so dass aus jedem Stücke ein neues Thier sich bildet, man mag sie in die Quere oder in die Länge durchschnitten, oder auch in mehrere Streifen getheilt haben. Bei Planarien wird jedes Segment, und wenn es nur 1/10 – 1/8 des ganzen Thieres beträgt, zu einem neuen Thiere. Bei Anneliden oder Würmern er folgt nur bei Quertheilungen der Ersatz, Kopf oder Schwanz wird immer regenerirt; bei einigen kann man das Thier in mehrere Stücke schneiden, und jedes einzelne ergänzt sich zu einem vollkommenen Exemplar seiner Gattung. Es scheint hier deutlich genug, dass wenn bei unendlich viel möglichen Arten der Schnittführung der abgetrennte Theil stets ein Exemplar liefert, welches die typische Idee seiner Gattung ausdrückt, dass nicht die todte Causalität diese Wirkung haben kann, sondern dass diese typische Idee in jedem Stücke des Thieres vorhanden sein muss. Eine Idee kann aber nur vorhanden sein, entweder realiter in ihrer äusseren Darstellung als verwirklichte Idee, oder idealiter, insofern sie vorgestellt wird und in und durch den Vorstellungsact, es muss also jedes Bruchstück des Thieres die unbewusste Vorstellung vom Gattungstypus haben, nach welchem es die Regeneration vornimmt, gerade wie die Biene vor dem Bau ihrer ersten Zelle und ohne je eine solche gesehen zu haben, die unbewusste Vorstellung der sechsseitigen Zelle bis auf die halbe Winkelminute genau in sich trägt, oder wie jeder Vogel die zu seiner Gattungsidee gehörige Form des Nestbaues oder der Sangesweise unbewusst vorstellen muss, noch ehe er sie an anderen oder an sich selber erfahren hat. Wenn man den Regenerationsact z.B. bei einem durchschnittenen Regenwurm beobachtet, so sieht man an der Schnittwunde ein weisses Knöpfchen hervorsprossen, welches allmählich grösser wird, bald schmale, dicht beisammenstehende, dann nach allen Seiten sich ausdehnende Ringe bekommt und Verlängerungen des Verdauungskanals, des Blutgefässsystems und des Ganglienstranges enthält. Es gehört ein starker Glaube dazu, wenn man annehmen wollte, dass die Beschaffenheit der Ausschwitzung an der[124] Wunde und die Nachbarschaft der entsprechenden Organe genügend wäre, um ein Weiterwachsen des Thieres zu bewirken; wenn man aber sieht, wie von zwei gleichen Schnittflächen aus nach mehreren anderen Ringen auf der einen Seite der Kopf mit seinen besonderen Organen gebildet wird, auf der anderen Seite der Schwanz mit den seinigen, und zwar mit Organen, die in dem bildenden Rumpfstück gar kein Analogon finden, dann wird die Annahme einer todten Causalität, eines materiellen Mechanismus ohne ideelles Moment zu einer baaren Unmöglichkeit.

Dazu kommen noch verschiedene Nebenumstände, welche es auf's Deutlichste bestätigen, dass die Vorstellung dessen, was der Gattungsidee nach in dem bestimmten Falle geleistet werden muss, das ursprünglich Bestimmende bei diesen Vorgängen ist. Wenn das Thier noch nicht ausgewachsen ist, und ihm ein Theil entrissen wird, so ist der regenerirte Theil nicht dem alten Zustande entsprechend, sondern so beschaffen, wie jener Theil sein müsste, wenn er den der Gattungsidee gemässen Process durchgemacht hätte. Dies kann man sehen, wenn man jungen Salamandern ein Bein oder einer Froschlarve den Schwanz abschneidet. Etwas Aehnliches ist es mit dem Hirschgeweihe, welches jedes Jahr vollkommener ersetzt wird, so lange die Jugendkraft des Thieres noch vorhält; ist aber die Entwickelung des Organismus auf ihrer Höhe angelangt und neigt sich wieder abwärts, dann bleibt entweder das letzte Geweih bis zum Tode stehen, oder das jährlich neu erzeugte wird im höheren Alter kürzer und einfacher.

Ferner richtet sich eine um so grössere Kraft auf den Wiederersatz eines Theiles, je wichtiger derselbe zum Bestehen des Thieres ist; so ergänzen z.B. nach Spallanzani die Würmer den Kopf früher als den Schwanz, und bei Fischen erfolgt der Ersatz der abgeschnittenen Flossen in der Reihenfolge, wie dieselben für die Bewegung wichtig sind, also zuerst die Schwanzflosse, dann die Brust- und Bauchflossen, zuletzt die Rückenflosse. Reicht die Kraft, oder deutlicher die Macht des unbewussten Willens in Bewältigung des Stoffes und der äusseren Umstände zur Regeneration eines Theils in der normalen Weise nicht aus, so schimmert der Typus der Gattung durch die dann entstehenden Missbildungen stets noch durch. So z.B.: wenn an einem abgeschnittenen Schnecken kopf statt beider nur ein Fühlhorn wiedergewachsen ist, so trägt dies zwei Augen, und bei Menschen, die ein Fingerglied verloren haben, wächst bisweilen ein Nagel auf dem zweiten. Je mehr ein Theil der Beschädigung exponirt[125] ist, desto mehr ist derselbe von solcher Beschaffenheit gebildet, welche einen leichten Ersatz gestattet. So z.B. die Strahlen der Asterien, die Beine von Spinnen, die Fühlhörner und Antennen der Schnecken und Käfer, die Schwänze der Eidechsen besitzen wegen ihrer Gefährdetheit eine grosse Regenerationskraft. Meistens ist ein bestimmtes Gelenk dasjenige, von dem die Regeneration am leichtesten ausgeht, dann ist das Glied auch hier am gebrechlichsten, und tritt eine Beschädigung wo anders ein, so wird das Glied häufig nachträglich an dieser Stelle abgeworfen. Dies thun z.B. die Krabben. Die Spinnen reissen sich ebenfalls von einem Beine los, an dem man sie gefasst hat und drückt, wenn man aber das Thier festhält, während man sein Bein zerdrückt, so kann es nachher das Bein nicht ohne Weiteres abwerfen, sondern verwickelt es in sein Gewebe, stemmt sich dann mit den anderen Beinen an und sprengt es so ab. Dies ist doch offenbar Instinct, und wenn die Krabbe das beschädigte Bein von selbst abstösst, das sollte etwas vom Instinct Grundverschiedenes sein? Und Abwerfen des beschädigten Gliedes ist doch bloss der erste Act des Ersatzes. Noch wunderbarer ist der Instinct der in der Südsee bei den Philippineninseln lebenden Holothurien. Dieselben fressen nämlich Korallensand, und stossen, wenn man sie herausgeschöpft und in klares Seewasser gebracht hat, alsbald freiwillig den Darmkanal mit Lungen und allen andern Organen, die daran hängen, durch den After aus, um neue Eingeweide zu bilden, die dem veränderten Medium besser entsprechen. (Eine mit Nadeln oder Messern belästigte Holothurie fährt buchstäblich aus der Haut, indem sie dieselbe von sich wirft, ohne ihr Inneres irgendwie zu verletzen.)

Je höher wir nun in der Stufenreihe der Thiere hinaufsteigen, desto mehr nimmt im Ganzen die Macht der Heilkraft ab und erreicht im Menschen ihren niedrigsten Grad. Darum konnte, so lange man ausschliesslich am Menschen Physiologie trieb, wohl eher der Irrthum entstehen, dass ein bloss materieller Mechanismus die Heilwirkungen hervorbringt; aber wie die Anatomie erst von da an erhebliche Resultate gab, als sie vergleichend betrieben wurde, und die Psychologie erst von da an wahrhafte Aufklärung bringen wird, so kann auch in der Physiologie nur vergleichende Untersuchung das rechte Verständniss geben. Sind wir aber einmal durch die klar liegenden Verhältnisse an dem niederen Thier auf den rechten Weg gekommen, so wird es nicht schwer sein, diese Ansicht auch auf den höchsten Stufen der Organisation als die einzig mögliche anzuerkennen.[126]

Die Gründe für die Beschränkung der Heilkraft bei den oberen Thierclassen sind theils innere, theils äussere. Der innerste und tiefste Grund ist der, dass die organisirende Kraft sich von den Aussenwerken immer mehr und mehr abwendet, und ihre ganze Energie auf den letzten Zweck aller Organisation, das Organ des Bewusstseins wendet, um dieses zu immer höherer Vollkommenheit zu steigern. Die äusseren Gründe sind die, dass die Organe der höheren Thierclassen fester gebildet sind und auch vermöge der Lebensweise dieser Geschöpfe viel weniger dem Abbrechen und der Verstümmelung unterliegen, sondern für gewöhnlich höchstens Verwundungen und Verletzungen ausgesetzt sind, für deren Mehrzahl die Heilkraft ausreicht, dass ferner diese grössere Festigkeit der Gebilde einen Ersatz in grösserem Maassstabe physicalisch und chemisch erschwert. Denn eines Theils sehen wir schon bei niederen Thieren, dass die Wasserthiere wegen grösseren Feuchtigkeitsgehaltes eine grössere Regenerationskraft besitzen, als die Landthiere derselben Art (z.B. Wasser- und Landregenwürmer), anderentheils besteht die Hauptmasse der eines ausgedehnten Ersatzes fähigen Thiere aus denselben Gebilden, welche auch noch beim Menschen die höchste Regenerationskraft zeigen, z.B. Schichtgebilde, die den wirbellosen Thieren meistens die Festigkeit geben (Haut, Haare, Schalen), Zellgewebe, Gefässsystem, oder gar die organische Urmasse der untersten Classen. Dass indessen diese äusseren Gründe nicht zulangen, sehen wir an den Wirbelthieren, und zwar deren zweiter Classe von unten, den Amphibien, deren viele eine ganz wunderbare Ersatzfälligkeit zeigen. Spallanzani sah bei Salamandern die vier Beine mit ihren achtundneunzig Knochen nebst dem Schwänze mit seinen Wirbeln binnen drei Monaten sechsmal sich wieder erzeugen. Bei anderen regenerirte sich der Unterkiefer mit all' seinen Muskeln, Gefässen und Zähnen; Blumenbach sah sogar das Auge sich binnen Jahresfrist wiederherstellen, wenn der Sehnerv unverletzt und ein Theil der Augenhäute im Grunde der Augenhöhle zurückgeblieben war. Bei Fröschen und Kröten regeneriren sich die Beine auch bisweilen, aber nur so lange sie jung sind, und auch dann nur langsam. Wie die psychische Kraft des Individuums zuerst ausschliesslich äusserlich sich bethätigt und dann mit Zunahme des Alters mehr und mehr nach innen sich zurückzieht und sich auf die Ausbildung des bewussten Seelenlebens wirft, so ist auch bei allen Wesen die Heilkraft um so mächtiger, je jünger sie sind, daher bei Embryonen und allen Larven, die als Embryonen betrachtet werden müssen, am grössten,[127] und darum dürfen wir uns auch nicht wundern, dass das nämliche Gesetz in der nebeneinander stehenden Stufenreihe der Thiere besteht, wo sich ja auch in weiterem Sinne die unteren zu den oberen wie Embryonen oder unvollkommene Entwickelungsstufen verhalten.

Ein sehr merkwürdiger Fall ist die von Voit beobachtete Regeneration der Hirnhemisphären bei einer der von ihm enthirnten Tauben. Nach fünf Monaten zeigte sich, nachdem in letzter Zeit die Verstandesthätigkeit des Thieres offenbar zugenommen hatte, eine weisse Masse an Stelle der fortgenommenen Hirnhemisphären, welche ganz das Ansehen und die Consistenz von weisser Hirnmasse besass, und auch ununterbrochen und unmerklich in die nicht abgetragenen Grosshirnschenkel überging. Doppelt conturirte Nervenprimitivfasern waren deutlich zu erkennen, ebenso Ganglienzellen.

Gehen wir nun zu den Säugethieren und speziell zum Menschen über, so finden wir allerdings nicht die frappanten Erscheinungen, wie an den unteren Thieren, aber immerhin genug, um die Ueberzeugung daraus zu schöpfen, dass nicht todte Causalität der materiellen Vorgänge genügt, sondern dass eine psychische Kraft es ist, welche mit der unbewussten Vorstellung des Gattungstypus und der für den Endzweck der Selbsterhaltung in jedem besonderen Falle erforderlichen Mittel diejenigen Umstände herbeiführt, vermöge welcher nach den allgemeinen physikalischen und ehe mischen Gesetzen die Wiederherstellung der normalen Zustände erfolgen muss. Bei jeder Störung tritt dieser Vorgang ein, wenn nicht die Macht des unbewussten Willens in der Bewältigung der Umstände zu gering ist, so dass die Störung eine bleibende Abnormität oder den Tod herbeiführt. Keine Medicin kann etwas anderes thun, als jenen Vorgang unterstützen und die Bewältigung der störenden Umstände erleichtern, aber die positive Initiative (der Wille) hierzu muss immer vom Organismus selbst ausgehen.

Betrachten wir zunächst das Zusammenheilen auseinander getrennter Gebilde und die Neubildung einer zerstörten Grenze.

Die erste Bedingung jeder Neubildung (ausser in den Schichtgebilden) ist Entzündung. Nach J. Müller ist die Entzündung »zusammengesetzt aus den Erscheinungen einer örtlichen Verletzung, einer örtlichen Neigung zur Zersetzung und einer dagegen wirkenden verstärkten organischen Thätigkeit, welche dem Zersetzungsstreben das Gleichgewicht zu halten strebt.« Was Müller die »örtliche Verletzung« nennt, nennt Virchow den pathologischen Reiz. Er sagt (spec. Path. u. Ther. I. 72): »So lange auf ein Irritament nur[128] functionelle Störungen zu beobachten sind, so lange spricht man von Irritation; werden neben den functionellen nutritive bemerkbar, so nennt man es Entzündung«; er nennt also weiter nutritive Störung, was Müller die örtliche Neigung zur Zersetzung nennt. Ganz besonders aber urgirt Virchow das dritte Moment, die active Thätigkeit der entzündeten Zellen. Die zunächst bei der Entzündung auffallende Erscheinung ist der vermehrte Blutandrang nach der Stelle, wo die Neubildung stattfinden soll, welcher sich in Röthe und erhöhter Wärme zeigt. Schon das Gesetz, dass der einseitig vermehrte oder verminderte Blutandrang sich nach dem Blutbedürfniss der einzelnen Organe richtet, ist fast nie aus physikalischen Ursachen allein zu erklären, da das Pumpwerk des Herzens für den ganzen Blutlauf gleichmässig wirkt; es muss deshalb schon hierin, insoweit die Erscheinung nicht durch die vermehrte active Resorption der entzündeten Zellen zu erklären ist, eine Direction der physischen Umstände durch das Wollen des Mittels zum vorgestellten Zweck angenommen werden. (Im normalen Entwickelungsgange findet z.B. eine Vermehrung des Blutandranges statt bei der Pubertätsentwickelung, Schwangerschaft, beim Vogel an den Bauchhautgefässen für die Brütwärme; eine Verminderung, wo Organe aufhören zu functioniren, oder unersetzbare Gliedmaassen verloren gegangen sind. Ebenso wunderbar wie diese Erscheinung ist, dass das Blut nur innerhalb der Blutgefässe flüssig bleibt, während es beim Austritt sofort gerinnt, auch ohne mit Luft in Berührung zu kommen.)

Bei jedem Schnitt in den thierischen Leib werden Gefässe durchschnitten, diese müssen zunächst geschlossen werden, was durch das Gerinnen des austretenden Blutes geschieht; bei grösseren Stämmen bildet sich ein innerer und ein äusserer Pfropf, der in der ersten Zeit leicht wieder ausgestossen wird, wenn der Blutandrang durch äusseren Reiz verstärkt zurückgeworfen wird. Bei Arterien, wo der Blutandrang stark ist, hilft sich der Organismus bisweilen durch eine Ohnmacht. Das Gerinnsel geht aber keine feste Verbindung mit den Wandungen ein, sondern wird, wie jedes unnöthig gewordene Hülfsmittel eines früheren Stadiums des Heilprocesses, später resorbirt. Nach etwa zwölf Stunden wird eine weisse Flüssigkeit (plastische Lymphe) secernirt, die sich meist unmittelbar darauf zu einem membranösen, undurchsichtigen Neoplasma verdichtet, welches die Wunde schliesst und mit den angrenzenden Theilen verwächst Das Neoplasma ist nicht blosses ausgeschwitztes Blutserum, sondern eine Secretion aus dem Blut von ebenso bestimmtem Charakter, wie jede[129] andere Secretionsflüssigkeit; es ist auch kein formloser Brei, sondern ein mit reichlicher Intercellularflüssigkeit durchmengtes Gewebe von Zellen, welches durch Zellenwucherung aus dem durch die Wunde entblössten Bindegewebe hervorgetrieben wird. Es bildet den Mutterboden für jede organische Neubildung, und Blutgefässe, Sehnen, Nerven, Knochen, Häute, alles geht aus ihm durch allmähliche Umwandlung der Zellen hervor. »Der nächste Schritt zur Heilung ist nun der, dass durch (?) die eintretende Entzündung reichliche Zeilen im Gewebe auftreten, und zwar zunächst in der Umgebung der Haargefässe. Diese wandeln sich durch Wucherung ihrer Kerne in Zellzapfen um, und gelungene künstliche Einspritzung der Blutgefässe beweisen, dass sich alsbald zwischen den neugebildeten Zellen feine Gänge ohne besondere Wandungen ausbilden, in welche direct aus den Capillaren die Injectionsmasse eindringt. Es ist somit eine interimistische Blutbahn entstanden, die sich als ein intercelluläres Netz darstellt. Der gleiche Vorgang geht von der entgegengesetzten Wundfläche aus, und so kommt es, dass durch Berührung dieser Wege, von denen einzelne sich erweitern und zu wirklichen Gelassen werden, die gestörte Blutcirculation beider Seiten ausgeglichen wird« (Dr. Otto Barth in den Ergänzungsbl. Bd. VI. S. 630). Auf diese Weise wird zunächst nur das Netz der Capillargefässe restituirt, demnächst aber auch grössere Blutgefässe nach Resorption der schliessenden Pfropfen wieder in Verbindung gesetzt. In der Achillessehne eines Hundes hat man das Ergänzen eines fünf Linien langen Ausschnittes in vier Monaten, bei Nerven, aus denen ein Stück ausgeschnitten war, ein Entgegenwachsen der beiden Enden mit oder ohne endliche Vereinigung beobachtet. Bewegung und Empfindung kann auf diese Weise wieder hergestellt werden, ohne dass dabei die neugebildete Masse, selbst wenn sie Strehnen und Fäden zeigt, der Sehnen- und Nervenmasse genau entspricht, was bei Muskelausfüllungen noch weniger der Fall ist. Doch nimmt die Verähnlichung der Neubildungen allmählich zu.

Wo ein röhrenförmiges Gebilde getrennt ist, bildet das Neoplasma zunächst eine Umhüllung, Zwinge oder Kapsel genannt, welche durch ihre Gefässe die verletzte Stelle auch mit den herumliegenden Gebilden in organische Verbindung setzt. So z.B. bei einem Knochenbruch, wo diese Zwinge zum provisorischen Callus erhärtet. Zugleich werden die beiden Oeffnungen der Markhöhle durch einen solche von der Markhaut ausgebildete Propfe verschlossen. Inzwischen sind die Endflächen des Knochens durch die Entzündung[130] der umliegenden Theile soweit erweicht, dass sie selbst in Entzündung übergehen und Neoplasma secerniren können, welches im Ganzen genommen langsam aus einer festen Gallert zu wahrem Knorpel wird und dann erst allmählich verknöchert, obwohl nach Virchow aus ihm auch direct Knochen oder Markzellen entstehen können, sowie sich nach demselben Knorpel, Knochen und Markzellen alle drei direct in einander verwandeln können. Während dieser Process die eigentliche Neubildung bewirkt, werden die Hülfsmittel der Zwischenstadien, der provisorische Callus, sowie die in den umliegenden Theilen enthaltene Gallert wieder erweicht und resorbirt, auch die Markhöhle wieder hergestellt, indem die dichte Substanz der Pfropfe zuerst zellig, dann dünner und dünner wird, und endlich verschwindet. Der so vertheilte Knochen zeigt einen ununterbrochenen Zusammenhang mit den alten Enden und genau dieselbe Bildung in Substanz und Gefässen. Ein sechs Linien langer Ausschnitt aus Speiche und Ellenbogen eines Hundes war nach vierzig Tagen völlig durch Knochensubstanz ausgefüllt. Stirbt die innere Schicht eines Knochenstückes ab, so geht der Ersatz von den äusseren aus, und umgekehrt, stirbt der ganze Knochen, so ersetzt ihn die Markhaut und Beinhaut, indem dieselben sich erst vom Knochen lösen; sterben auch diese ab, so wird das betreffende Stück von einem neuen Stück eingeschlossen, welches theils von den gesund gebliebenen Enden des Knochens, theils von den umliegenden weichen Theilen aus gebildet wird.

Bei Canälen, welche aus Schleimhaut gebildet sind, wie der Darmcanal, oder Ausführungsgänge von Drüsen, bildet das Neoplasma ebenfalls eine Kapsel oder Zwinge, an deren innerer Seite der betreffende Canal sich wieder bildet, während die abgestorbenen Ränder des alten Stückes (z.B. die Unterbindungen) abgestossen und durch den neugebildeten Canal abgeführt werden. Bei Darmverschlingungen oder eingeklemmten Brüchen gehen manchmal mehrere Zoll, ja fusslange Stücke Darm durch den After ab, und trotzdem bleiben die Menschen häufig am Leben, und stellen sich die Verdauungswege wieder her. – Sollte wohl bei dem Abstossen eines eingeklemmten Stückes Darm ein anderes Princip zu Grunde liegen, als bei dem Abstossen eines beschädigten Krabbenbeines, oder dem Absprengen eines Spinnenbeines?

Wenn die äussere Grenze irgend eines Gebildes zerstört ist, so wird dieselbe ebenfalls ersetzt, und ist dabei der Process im Ganzen ein höherer, als bei der Wiedervereinigung getrennter Theile, weil[131] die chemische Contactwirkung des gleichartigen Nachbargebildes noch weniger von Einfluss sein kann. Das Neoplasma tritt hier als Granulation auf, d.h. es ist gefässreicher und zeigt eine Anzahl von röthlichen Hügelchen. Auf diese Weise bildet sich neue Haut auf einer von Haut entblössten Stelle, welche zuerst wegen Mangel an Fettunterlage fest auf dem Muskel aufliegt, später aber sich der übrigen Haut verähnlicht. Die Eiterung tritt nur da von selbst ein, wo die Verletzung der Art war, dass Gewebetheile in grösserem Umfang zur Fortsetzung der Lebensfunctionen unfähig geworden (mortificirt) sind, so dass es nöthig ist, diese mortificirten Gewebetheile aus dem Organismus auszuscheiden, d.h. abzustossen, und durch an ihre Stelle tretende Neubildungen zu ersetzen (z.B. bei Quetschungen, Schusswunden u.s.w.). Wenn diese Aufgabe erfüllt ist, so hört die Eiterung von selbst auf, wie sie von selbst eintrat; wo keine abzustossende Theile vorliegen, tritt die Heilung »per primam intentionem« ohne alle Eiterung ein. Freilich kommt nur allzuhäufig auch hier Eiterung vor, so wie die Eiterung im ersteren Falle oft über das erforderliche Maass, bisweilen bis zur Erschöpfung der Kräfte fortdauert, – dies ist dann aber nicht eine Eiterung, die von selbst durch den Organismus gesetzt ist, sondern eine durch schädliche äussere Einflüsse erzeugte, beziehungsweise unterhaltene, nämlich durch die in der Luft schwimmenden Keime parasitischer Organismen, welche die leichteste Wunde bösartig und tödtlich machen können. Die Desinfection der zur Wunde gelangenden Luft durch Verbände mit Karbolsäure u.s.w. beseitigt diese schädlichen äussern Einflüsse, und beweist so experimentell die Richtigkeit obiger Angaben.

Es kann sich Schleimhaut in Epithelialhaut verwandeln, wenn sie durch abnorme Verhältnisse genöthigt wird, eine Grenze nach Aussen zu bilden (z.B. bei vorgefallenem und umgestülptem Mastdarm, Fruchtgang oder Fruchthälter). – Bei Amputationen stellt der Organismus eine Grenze her, welche alle bisherigen Canäle (Markhöhle des Knochens und Gefässe) schliesst, und dem nunmehrigen Gebrauch des Gliedes entspricht; der Knochen rundet sich geschlossen ab, die Doppelknochen des Unterarmes oder Unterschenkels erhalten durch Verwachsung am unteren Ende die teste Verbindung, welche ihnen sonst das Hand- oder Fussgelenk giebt, die Gefässe und der Blutzufluss beschränken sich nach dem nunmehr verringerten Bedürfniss, und die äussere Grenze bildet eine starke sehnige Haut, welche sich lebhaft schuppt. Die sehnige Beschaffenheit des[132] Stumpfes erstreckt sich auch theilweise auf die benachbarten Muskelfasern, Nerven und ausser Dienst getretenen Gefässe.

Betrachten wir nun noch einige andere merkwürdige Erscheinungen der Heilkraft am Menschen und Säugethier.

Bei Säugethieren, denen man die Linse aus dem Auge gezogen hatte, beobachtete man häufig einen vollkommenen Ersatz derselben, und auch bei staaroperirten Menschen findet bisweilen eine unvollkommene Regeneration der Linse statt. Wenn nach solcher Operation die obere Wundlippe der Hornhaut vorsteht und mit ihrem inneren Rande am äusseren Rande der unteren Lippe anklebt, so werden später beide Lippen weich, schwellen an, und wenn die Geschwulst sich verliert, liegen beide in gleicher Ebene. So wird die Störung beseitigt, welche eine solche Unebenheit der Hornhaut im Sehen zur Folge haben müsste. Wenn ein Knochenbruch nicht zusammenheilen kann, so sucht sich der Organismus anderweitig zu helfen; die Bruchenden schliessen und runden sich ab, und werden entweder durch einen sehnigen Strang, in welchen die Calluszwinge sich umgewandelt hat, wie durch ein cylindrisches Gelenkband an einander gehalten, oder durch ein sogenanntes falsches Gelenk vereint, indem das eine Ende eine Höhle bildet, welche das andere kugelige Ende in sich aufnimmt; beide Enden werden von einer sehnigen Kapsel eingeschlossen und erhalten wie andere an einander reibende Stellen durch eine neu gebildete Synovialblase die nöthige Schmiere. Ein ähnlicher Process vollzieht sich bei uneingerichteten Verrenkungen; die verlassene Gelenkgrube füllt sich aus, und an der Stelle, wo der Gelenkkopf nun anliegt, bildet sich eine neue mit dem übrigen Zubehör des Gelenkes.

Höchst merkwürdig ist die Bildung von zweckentsprechenden Ausführungscanälen, wenn gewisse Secretionen im Innern eines Gebildes keinen natürlichen Ausweg haben, und ohne Bildung eines solchen das Organ zerstören würden. Dies ist zunächst bei allen normalen Secretionen der Fall, wenn die natürlichen Abzugscanäle verstopft sind; es entstehen dann die Fistelgänge auf dem nächsten, oder vielmehr dem geeignetsten Wege, einen Durchbruch nach Aussen bahnend (z.B. Thränen-, Speichel-, Gallen-, Harn-, Koth-Fisteln) Sie gleichen völlig den normalen Abzugscanälen der Drüsen, indem das Zellgewebe sich an den Wänden des Ganges in eine gegen die betreffenden Ausfuhrstoffe unempfindliche Schleimhaut umwandelt. Sie sind unmöglich zu verheilen, so lange der natürliche Abzugsweg nicht wieder hergestellt ist, dann aber heilen sie[133] von selbst schnell und leicht zu. Es ist gar kein materieller Grund abzusehen, warum das Secret, welches den Ausführungsgang allerdings durch Auflösung und Verflüssigung des Zellgewebes herstellen muss, gerade nur in der Einen Richtung des Canals diese starke Zerstörung bewirkt, während nach allen anderen Seiten die Angriffe im Verhältniss hierzu verschwindend sind, warum die Richtung, in welcher diese heftige chemische Zersetzung sich äussert, gerade die zweckmässigste des neuen Abzugscanales ist, und warum dieser Canal nicht bloss Folgen der Zerstörung, sondern vielmehr organische Neubildung zeigt. Zuweilen erstrecken sich solche Canäle, namentlich bei Eiterfisteln, durch mehrere andere Organe hindurch, ehe sie nach Aussen gelangen können, z.B. aus der Leber in den Magen oder den Darm, oder durch das Zwerchfell in die Lungen. Am Wunderbarsten ist dieser Vorgang vielleicht bei der inneren Nekrose. Die Abzugscanäle (oder Cloaken) entstehen hier, wenn bloss die innere Schicht des Knochens abstirbt, in der den Ersatz vermittelnden äusseren Schicht, wenn aber auch diese abstirbt, in der neuen umgebenden Knochensubstanz gleich von Anfang ihrer Bildung an, und zwar ohne dass man Vereiterung wahrnähme. Sie sind runde oder ovale Canäle mit einer glatten, von der Markhaut zur Beinhaut gehenden Membran ausgekleidet, öffnen sich nach Aussen mit einem glatten Rande und setzen sich späterhin durch einen Fistelgang zur äusseren Oberfläche fort; sie lassen sich auf keine Weise dauernd verheilen, so lange noch abgestorbene Knochenstücke innerhalb des neu erzeugten Knochens liegen, und schliessen sich nach deren Entfernung von selbst.

In einem gewissen Zusammenhange hiermit steht bei Unmöglichkeit des Gebarens die Tödtung der Frucht, die Verzehrung derselben, die Ausführung der Ueberreste auf neu gebahnten Wegen, oder die Einhüllung dieser Ueberreste.

Beachtenswerth ist ferner der Ersatz einer bestimmten Secretion durch ganz andere Organe, als denen diese Secretion eigenthümlich zukommt, wenn letztere functionsunfähig sind. Die Secrete, welche im Haushalte des Organismus eine so grosse Rolle spielen, sind bekanntlich nie als solche, sondern immer nur ihren Elementen nach im Blute vorbanden, und gehen erst während und nach der Ausscheidung aus dem Blute in ihre eigenthümliche chemische Beschaffenheit über (daher auch die Secretionswege um so länger sind, je höher die Secrete stehen); man muss desshalb mit Recht für gewöhnlich die Secretionsorgane als die Ursache der besonderen chemischen[134] Beschaffenheit der Secrete betrachten. Um so mehr muss es befremden, dass unter gewissen Umständen, wo dieses oder jenes Organ nicht functioniren kann, aber doch das Verbleiben der Stoffe, welche durch seine Secretion sonst ausgeschieden wurden, in dem Blute dem Organismus gefährlich werden könnte, dass unter solchen Umständen auch andere Organe im Stande sind, diese Secretion in annähernd gleicher Weise zu vollziehen, und so das Fortbestehen des Organismus zu sichern.A33 Es kann das materielle Hülfsmittel, dessen der unbewusste Wille sich zu diesem Ziele bedient, nur in einer zeitweiligen Veränderung der secernirenden Membranen der vicarirenden Secretionsorgane gesucht werden, wodurch sie zu ihren vicarirenden Secretionen accommodirt werden, ähnlich wie wir einen solchen Einfluss des Willens auf Secretionsorgane im Schreck, Zorn u.s.w. beobachten.

Betrachten wir einige Beispiele. – Der Harn als solcher wirkt im Blute tödtlich; es sind im Blute nur die Elemente seiner Entstehung vorhanden, aber auch diese fordern Ausscheidung, wenn nicht der Organismus zu Grunde gehen soll. Bei Meerschweinchen, denen die Nierenarterien unterbunden waren, secernirten Bauchfell, Herzbeutel, Brustfell, Hirnhöhlen, Magen und Darm eine braune, nach Harn riechende Flüssigkeit, auch die Thränen rochen nach Harn, und Hoden und Nebenhoden enthielten eine dem Harn ganz ähnliche Flüssigkeit. Bei Hunden erfolgte Harnbrechen, bei Kaninchen flüssige Darmentleerungen. Menschen, deren Schweiss einen entschiedenen Harngeruch besitzt, zeigen meist bei der Obduction Ursachen der unterdrückten Harnsecretion. Bei Personen, deren natürliche Harnentleerung völlig gehindert war, wurde oft jahrelang tägliches Harnbrechen, bei einem so geborenen Mädchen bis zum vierzehnten Jahre Abgang durch die Brüste beobachtet. In anderen Fällen unterdrückter Urination zeigte sich Harnabgang durch die Haut der Achselhöhlen. Auch bei einer Degeneration der Nieren, wo dieselben keinen Harn mehr absondern konnten, oder bei fehlender Verbindung mit der Blase, soll jahrelange Urination auf normalen Wegen beobachtet worden sein, woraus man auf eine vicarirende Fähigkeit der Blase selbst zur Harnabsonderung hat schliessen wollen. – Eine grosse Zahl von Beobachtungen beweist die Secretion milchiger Feuchtigkeit durch die Nieren, die Haut am Nabel, an den Weichen, Schenkeln, Rücken, Geschwüren und Bauchfell bei einer in Folge von unterdrückter Milch secretion entstandenen Bauchfellentzündung. Bei derjenigen Entstehungsweise der Gelbsucht, wo[135] die Thätigkeit der Leber (wie später die Secirung zeigt) aufgehoben ist, muss die Gallensecretion in den feinsten Blutgefässen erfolgen, da alle Organe, sogar sehniges Gewebe, Knorpel, Knochen und Haare von farbigen Bestandtheilen der Galle durchdrungen sind.

Eine sehr wunderbare Erscheinung ist die Temperaturconstanz der warmblütigen Thiere bei dem mannigfaltigsten Wechsel der äusseren Umstände. Wir sind noch weit entfernt, alle Bedingungen zu kennen, durch welche diese Constanz ermöglicht wird; doch so viel ist gewiss, dass die wirksamsten, vielleicht die einzigen vom Thiere selbst abhängigen Momente die Regulirung der Nahrungseinnahme, der Excretionen und der Athmung sind. Da nun offenbar die constante Temperatur einer Thierclasse die für ihre chemischen Processe günstigste ist, so müssen wir in jedem Act des Organismus, der die Bedingungen derselben den wechselnden Verhältnissen accommodirt, einen Act der Naturheilkraft erkennen. Hiermit stellt offenbar die Beobachtung in Verbindung, dass die Menge der Hautausdünstung, wie der Lungenausdünstung (von Kohlensaure und Wasser) in kleinen Zeiträumen ohne bemerkbare Veranlassung schwankt, sich aber in längeren Zeiträumen von vielen Stunden sich ziemlich gleich bleibt.

Auffallend ist die mechanische und chemische Widerstandsfähigkeit lebender Gebilde, die sofort mit dein Tode erlischt. Sie ist am Besten am Magen und Darm zu beobachten. Die gallertartigen Medusen verdauen, ohne verletzt zu werden, mit stacheligen Panzern versehene Thiere; der Magen von Vögeln zerkleinert Glasstücke und krümmt eiserne Nägel, ohne verwundet zu werden (denn Magenwunden heilen notorisch sehr langsam, würden also sich nicht leicht der Beobachtung entziehen). Der Darm von Schollen und Schleimfischen ist oft von scharfen Muschelschalen ganz vollgestopft und ausgedehnt und wird nach dem Tode bei einer geringen Erschütterung durchschnitten. Diese Erscheinungen sind, da eine grössere mechanische Festigkeit des lebenden Gewebes nicht zu denken ist, nur durch Reflexbewegungen zu erklären, vermöge deren der bei einer Bewegung der scharfen Gegenstände bedrohte Theil zurückweicht, und die übrigen Theile den schärfen Gegenstand in eine ungefährlichere Lage bringen. Ebenso wunderbar ist der Widerstand, den der Magen den chemischen Angriffen eines besonders schärfen Magensaftes entgegensetzt. Man hat Beispiele, wo der degenerirte Magensaft sogleich nach dem Tode den Magen zu zerstören begann, und auch einen frischen Thiermagen zersetzte, ohne dass im Leben[136] eine Beschädigung eingetreten wäre. Aehnliches findet bei anderen scharfen Secreten und ihren Secretionsorganen statt.

Nach diesen Beispielen gehen wir noch über zur Beseitigung einiger Einwürfe gegen die Heilkraft als zweckwirkende Aeusserung unbewussten Wollens und Vorstellens. Wenn ich auch die gänzliche Unzulänglichkeit materialistischer Erklärungsversuche durch viele Gründe dargethan zu haben glaube, so scheint es doch wichtig, das Ungenügende der beiden hauptsächlichsten materialistischen Gründe noch einmal kurz in's Auge zu fassen. Sie lauten: 1) durch chemische Contactwirkung und Zellenvermehrung verähnlicht jedes Vorhandene sich das neu hinzutretende Material, und 2) die Beschaffenheit jeder Secretion ist von der Beschaffenheit der Nährflüssigkeit und der secernirenden Haut abhängig.

Den ersten Grund trifft der Einwand, dass im Körper Neubildungen zu verschiedenen Zeiten eintreten, welche noch keinen Anlehnungspunct an gleichen Gebilden finden, weil sie überhaupt oder an dieser Stelle des Organismus zum ersten Mal erscheinen; so z.B. bei den verschiedenen Stadien der embryonischen Entwickelung, der Geburt, der Pubertät und Schwangerschaft. Aber ausser den hierbei neu auftretenden Bildungen und Secretionen setzen ja auch manche Secretionen periodisch aus und treten wieder ein, sei es, dass dies normal oder krankhaft ist, und auch dann kann das Wiedereintreten der Secretion nicht von der Contactwirkung des Secrets herrühren, da dies nicht vorhanden ist. Ebenso ist die Regeneration fester Gebilde nicht von dem Boden der Entwickelung direct abhängig. So haben wir z.B. gesehen, dass das Neoplasma zur Neubildung von Knochenmasse auch zum grossen Theil von den benachbarten anderweitigen Gebilden ausgeschwitzt wird. Ebenso bildet sich Schleimhaut in Fistelgängen und Haut auf Granulationen ohne Contact gleicher Gebilde. So wenig man also einerseits verkennen kann, dass dieses Princip der Verähnlichung durch chemischen Contact ein ausgezeichnetes kraftersparendes Hülfsmittel in der Oeconomie des Organismus darbietet, so wenig kann man sich doch auch andererseits den Thatsachen entziehen, welche zeigen, dass der unbewusste Wille im Organismus Verhältnisse herbeiführen kann, unter denen sich den chemischen Gesetzen gemäss Producte ergeben, welche nicht durch benachbarte gleiche Gebilde veranlasst sind, welche aber dem gegenwärtigen Lebensstadium oder augenblicklichen Bedürfniss des Organismus auf das Zweckmässigste entsprechen.

Was den zweiten Punct, die Abhängigkeit des Secrets von den[137] secernirenden Häuten betrifft, so ist dies Princip im Allgemeinen ebenfalls richtig, nur darf man nicht vergessen, dass die Verschiedenheit der Secrete eines und desselben Organes zu verschiedenen Zeiten, das Neueintreten von Secreten in gewissen Lebensstadien, das Aussetzen und Wiedereintreten anderer, sowie die Lehre von den vicarirenden Secretionen die Frage nach der Inconstanz der Beschaffenheit der secernirenden Häute offen hält, dass also die Erscheinung; nach ihrer nächsten wirkenden Ursache richtig erklärt, diese wirkende Ursache aber ihrerseits nur eine einzige endgültige Erklärung, nämlich in idealer Richtung, zulässt. Mit solcher vorläufigen Erklärung hat der Naturforscher seine nächste Schuldigkeit gethan, und Niemand wird ihm dies bestreiten, wenn er nur zugiebt, dass die Frage noch ebenso offen wie vorher ist, wenn er nur nicht behauptet, mit dieser Erklärung Alles gethan zu haben, denn dann tritt er sofort in Collision mit den Thatsachen.A34

Ein anderer Einwand ist der, dass der Organismus nicht immer zweckmässig verfahre, sondern dass dieselben Erscheinungen, welche das eine Mal Genesung herbeiführen, das andere Mal die Erkrankung erst bewirken, oder eine vorhandene Krankheit zu noch schlimmerem Ende führen, als sie von selbst genommen haben würde. Dies halte ich für entschieden falsch. Ich behaupte im Gegentheil: erstens, dass Krankheiten niemals aus dem psychischen Grunde des Organismus spontan hervortreten, sondern demselben von Aussen durch Störungen aufgedrungen und gezwungen werden, und zweitens, dass Alles, was der Organismus direct in Bezug auf diese Störungen an der Normalität seiner Functionen ändert, zweckmässig zur Beseitigung derselben ist. Diese beiden Behauptungen sollen nach einander begründet werden.

Es fragt sich zunächst, was denn Krankheit sei. Krankheit ist nicht Abnormität der Bildung, denn es giebt abnorme Abbildungen, wie Riesen, Zwerge, überzählige Finger, unregelmässiger Verlauf von Adern, die Niemand zu den Krankheiten zählt. Krankheit ist nicht ein Zustand, der das Bestehen des Organismus gefährdet, denn viele Krankheiten thuen dies nicht; sie ist nicht ein Zustand, der dem Bewusstsein des Individuums Schmerz und Beschwerden verursacht, denn auch dies ist bei vielen Krankheiten gar nicht der Fall. Krankheit ist eine Abnormität in den organischen Functionen, welche allerdings Abnormitäten der Bildung sowohl zur Ursache, als zur Folge haben kann. Im ersteren Falle pflegt man auch die Abnormität der Bildung schon mit als Krankheit[138] zu bezeichnen. Streng genommen muss aber dieser abnormen Bildung schon eine andere Abnormität der Functionen als Ursache vorhergegangen sein, denn so lange alle Functionen normal vor sich gehen, ist das Zustandekommen abnormer Bildungen unmöglich. Z.B. die Lungensucht kann durch Tuberkeln verursacht sein, diese können ererbt sein, aber in dem Individuum, von welchem die Vererbung der Tuberkulose in der Familie ausgegangen ist, müssen die Tuberkeln, falls sie nicht wiederum ererbt oder durch Ansteckung (tuberkulöse Ammenmilch, Milch von miliartuberkulösen Kühen, Einathmung von Auswurfsstoffen zersetzter Lungentuberkeln u.s.w.) eingeimpft sind, nothwendig durch abnorme Functionen entstanden sein. Wenn wir also nach der Ursache einer Krankheit fragen, so müssen wir auf jeden Fall letzten Endes auf eine Abnormität der Functionen bei normaler Bildung der functionirenden Organe zurückkommen; denn so lange noch Abnormitäten der Bildung mitsprechen, haben wir die Reihe der Krankheitsursachen nicht bis zu Ende verfolgt.

Fragen wir nun, wie die primäre Ursache aller Krankheiten, Abnormität der Function bei normaler Bildung möglich sei, so antwortet Erfahrung und Speculation übereinstimmend: nur durch Störung von Aussen, aber nicht von Innen durch einen spontanen psychischen Act des Organismus. Diese Störungen können sehr mannigfacher Art sein: 1) mechanische Einwirkungen, wie jede Art von innerer oder äusserer Verletzung; 2) chemische Einwirkungen, und zwar a) durch Einführung von Stoffen, welche das Mischungsverhältniss direct stören, indem sie neue Verbindungen eingehen (z.B. Vergiftung durch Arsenik, Schwefelsäure, die meisten mineralischen Arzneien), b) durch chemische Contactwirkung, Ansteckung im weitesten Sinne, auch atmosphärische Veränderungen, welche zu eigentlich nicht ansteckenden Krankheiten disponiren; 3) organische Einwirkungen, Einnisten von pflanzlichen oder thierischen (mikroskopisch kleinen) Organismen, welche durch ihre Ernährung und Fortpflanzung das chemische Mischungsverhältniss oder die morphologische Zellenstructur des ergriffenen Organismus stören; bei vielen Krankheiten ist es noch zweifelhaft, ob ihre Ansteckung auf chemische Contactwirkung oder Einnisten von Organismen zurückzuführen ist (z.B. Pest, Syphilis, Pocken, Diphteritis, Typhoiden, Cholera, Wechselfieber u.s.w.), wenn schon das letztere immer mehr an Wahrscheinlichkeit gewinnt; 4) Abnormität des Verhältnisses von Einnahme und Ausgabe; überwiegt letzteres Moment, so[139] entsteht Massenverlust, Schwäche u.s.w., überwiegt ersteres, so entsteht im Allgemeinen Hypertrophie, die sich je nach den besonders reichlich vorhandenen Stoffen in verschiedenen Gebilden äussert (Tuberkeln, Skropheln, Gicht, Fettsucht u.s.w.); 5) ungeeignete Qualität der Einnahmen; sie bewirkt Störungen in den Verdauungsorganen und durch abnorme Blutmischung auch in der Ernährung; schlechte Luft kann auf diese Weise durch Veränderung der Blutmischung Faulfieber u.s.w. hervorrufen; 6) unangemessene Lebensweise; z.B. absolute Unthätigkeit eines Muskels bewirkt Schwäche und Abmagerung desselben, da seine Ernährungsverhältnisse auf die Voraussetzung der Bewegung basirt sind; sitzende Beschäftigung bei Menschen stört die Verdauung aus demselben Grunde, und Versetzung in ein fremdes Klima fordert Accommodation des Körpers durch die Heilkraft oder ruft Krankheiten hervor; 7) ererbte Körperfehler oder Krankheitsanlagen; hier liegen die ersten äusseren Ursachen der Krankheit in derjenigen Generation, von welcher die Vererbung ausgegangen ist, und alle nachfolgenden, die Krankheit ererbenden Glieder der Familie empfangen durch die Stoffe der Zeugung die Abnormitäten schon als Mitgift auf die Lebensreise, welche ihre Naturheilkraft oft so wenig zu bewältigen im Stande ist, wie eine direct durch äussere Störungen erweckte chronische Krankheit.A35

Ich glaube, dass auf diese oder ähnliche Störungen sich alle Krankheiten zurückführen lassen, wenn man nur immer dabei berücksichtigt, dass man auf die erste Ursache der Erscheinung zurückzugehen hat und nicht die symptomatisch vorliegende Krankheit an sich betrachtet. Ja sogar die letztere ist häufig schon ein Act der Heilkraft, die Krisis einer Reihe vorhergehender Krankheiten oder Abnormitäten, welche sich nur mehr oder weniger dem Bewusstsein entzogen (so z.B. bei allen Ausschlagskrankheiten, Gicht, Fiebern, Entzündungen u.s.w.). Die Heilkraft kommt mit ihrer Krisis sogar manchmal dem Ausbruch derjenigen Krankheit zuvor, welche aus einer Abnormität der Bildung folgen müsste (z.B. die Tödtung und Abführung der nicht zu gebärenden Frucht), und insofern ist es richtig, dass durch spontane psychische Acte des Unbewussten im Organismus Erscheinungen hervorgerufen werden, welche wir Krankheit nennen, weil sie abnorme zum Theil schmerzhafte Processe sind, aber sie beugen dann nur einer gefährlicheren Krankheit vor, sie sind die Wahl eines absichtlich hervorgerufenen kleineren Uebels zur Vermeidung eines grösseren, sind also streng genommen nicht Krankheits-, sondern Heilungsprocesse. Es kann auch sein, dass bei[140] dieser spontan hervorgerufenen Krisis der Tod erfolgt, weil dem unbewussten Willen die nöthige Macht zur Ueberwindung der vorhandenen Störungen gebricht, dann wäre er aber ohne die versuchte Krisis ganz sicher erfolgt, während hier noch die Möglichkeit des Sieges der Heilkraft da war. Sollten sich einige Krankheiten noch nicht durch äussere Störungen erklären lassen, so könnte dies die Richtigkeit des Princips nicht beeinträchtigen, dass der psychische Grund des organischen Bildens nicht erkranken kann, denn für dieses Princip sprechen fast alle Thatsachen, gegen dasselbe nichts, da man die Zurückführung etwaiger Ausnahmen auf äussere Störung noch von der künftigen Wissenschaft zu erwarten hätte. Darum kann ich nicht mit Carus' Annahme übereinstimmen, dass die Idee des Organismus von der Idee einer Krankheit gleichsam ergriffen und besessen werde, welche die Conformität der Krankheiten erklären soll; diese scheint mir hinreichend durch die gleiche Reaction gleicher Organismen auf gleiche Störungen erklärt zu sein, denn dieselbe Krankheit erscheint in der That niemals auf gleiche Weise, sondern mindestens so verschieden, wie die Individuen unter einander sind. Schon der Umstand spricht gegen jene Annahme, dass es keine pathologische Bildung im Körper giebt, welche nicht an normalen physiologischen Bildungen ihr Vorbild hätte. Virchow sagt (Cellularpathologie S. 60): »Es giebt keine andere Art von Heterologie in den krankhaften Gebilden als die ungehörige Art der Entstehung, und bezieht sich diese Ungehörigkeit entweder darauf, dass ein Gebilde erzeugt wird an einem Puncte, wo es nicht hingehört, oder zu einer Zeit, wo es nicht erzeugt werden soll, oder in einem Grade, welcher von der typischen Bildung des Körpers abweicht. Jede Heterologie ist also, genauer bezeichnet, eine Heterotopie, eine aberratio loci, oder eine aberratio temporis, eine Heterochronie oder endlich eine bloss quantitative Abweichung, Heterometrie.« – Nur da möchte jene Ansicht von den ideellen Krankheitstypen, welche von den Organismen Besitz ergreifen, eine gewisse tropische Berechtigung haben, wo Thiere oder Pflanzen die Krankheitsursache sind, z.B. Krätze, Reude, Rost des Getreides u.s.w., d.h. also in der Parasitenkunde im neueren weiteren Sinne.

Was die sogenannten Geisteskrankheiten betrifft, so ist die von alten Zeiten her dominirende und auch gegenwärtig trotz einigen Widerspruches überwiegende Auffassungsweise die, dass jede Störung bewusster Seelenthätigkeit durch eine Störung des Gehirns, als des Organes des Bewusstseins, bewirkt werde, sei diese Gehirnstörung[141] nun direct, oder durch Rückenmarks- und Nervenkrankheiten vermittelt. Auch da, wo psychische Erschütterungen eine Geisteskrankheit veranlassen, muss man wahrscheinlich eine meist ererbte Disposition des Gehirns dazu annehmen, welche bei solcher Gelegenheit nur zum Ausbruch kommt; unbedingt ist auch in diesen Fällen eine Gehirnstörung als Ursache der Störung des Bewusstseins anzunehmen, nur dass diese Gehirnstörung nicht durch materielle, sondern durch psychische Erschütterung hervorgerufen, jedenfalls aber durch äussere Einwirkung veranlasst ist, deren Träger und Vermittler nur bewusste Seelenzustände sind. Es bleiben also die Sätze unangetastet, dass das Unbewusste weder selbst erkranken, noch in seinem Organismus Erkrankung bewirken kann, sondern dass alle Krankheit Folge einer von Aussen hereingebrochenen Störung ist.

Was den zweiten Punct anbetrifft, den Zweifel an der Zweckmässigkeit der Gegenmassregeln der Heilkraft gegen die Krankheit, so ist das wichtigste Moment, das nicht ausser Acht gelassen werden darf, die Beschränktheit der Macht des Willens in Bewältigung der Umstände. Wäre der Wille des Individuums allmächtig, so wäre er nicht mehr endlich und individuell, also muss es Störungen geben, die er nicht beseitigen kann. Da nun ferner die Angriffspuncte im Organismus für den Willen ebenfalls sehr beschränkt sind, d.h. seine Macht in verschiedenen Gebilden ganz verschiedene Grenzen hat, so muss natürlich ein vorgestellter Zweck oft auf den wunderlichsten Umwegen erreicht werden, so dass die Vorstellung des Zweckes bei den vom Organismus eingeschlagenen Mitteln dem ungeübten Auge oft gänzlich entgeht, und nur vom tiefer eindringenden wissenschaftlichen Blick verstanden wird, der die Unmöglichkeit kürzerer Wege zum Ziele einsieht. Da nun die wissenschaftliche Physiologie und Pathologie noch so jung ist, so darf man sich nicht wundern, wenn sie noch heute nur ganz oberflächlich in die verschiedenen Operationen des organischen Lebens eingedrungen ist, und sie häufig nicht nur eine Menge Verbindungsglieder von Zweck und Mittel zu ahnen sich begütigen muss, sondern auch noch seltener sich Rechenschaft darüber geben kann, ob es einen noch zweckmässigeren Weg, als den eingeschlagenen, gegeben hätte. Jede erkannte Zweckmässigkeit ist wohl ein positiver, nicht zu entkräftender Beweis psychischen Wirkens, aber tausend unverstandene Verbindungen von Ursache und Wirkung können kein negativer Beweis gegen das Vorhandensein psychischer Grundlagen sein. So steht[142] aber das Verhältniss keineswegs, sondern fast überall, wo wir ein scheinbar unzweckmässiges Wirken des Organismus sehen, können wir uns von den Gründen dieser Erscheinung Rechenschaft geben. Die spontane Entstehung von Krankheit, die hierher auch zählen könnte, ist bereits beseitigt. Ein grosser Theil anderer Fälle wird sich darauf reduciren, dass die Mittel, welche zur Beseitigung einer Störung aufgeboten werden, nicht den Intentionen des Organismus gemäss ausfallen, weil anderweitig vorhandene Störungen dies hindern, so dass nun durch eine zweite Krankheit die Anstrengungen zur Hebung der ersten vereitelt werden. Dieser Fall tritt sehr häufig ein, nur ist es oft schwer, die zweite Störung zu entdecken, die sehr tief liegen und zugleich an sich sehr unbedeutend sein kann. Letzten Endes ist es dann immer wieder die unzureichende Macht des individuellen Willens (hier in Beseitigung der zweiten Störung), wodurch die aufgewandten Mittel eine schiefe Richtung bekommen und nicht zum Ziele führen. Ein besonderer Fall der unzureichenden Macht ist der, wo bei besonders intensiver Anspannung nach einer bestimmten Richtung der Wille ausser Stande ist, die extensiven Grenzen inne zu halten. So z.B. bei Knochenbruchheilung, wo eine lebhafte Tendenz zur Knochenbildung erfordert wird, verknöchern meist die umliegenden Muskel- und Sehnenpartien mit; dann macht aber später der Organismus seinen Fehler möglichst wieder gut, es werden also in diesem Beispiel die verknöcherten Nachbargebilde nach der Heilung auf ihre normale Beschaffenheit zurückgebracht.

Wie die Macht des individuellen Willens eine beschränkte ist, zeigt auch folgendes Beispiel: während der Schwangerschaft, wo der unbewusste Wille auf die Bildung des Kindes sich concentriren muss, wollen mitunter Knochenbrüche gar nicht heilen, während sie nach erfolgter Entbindung ganz gut verheilen.A36

Der letzte mögliche Einwand wäre der, dass in Folge eines dem Geschöpfe anerschaffenen Mechanismus auf jede Störung die passende Reaction folge, ohne psychische Betheiligung des Individuums. Wer bis hierher meiner Entwickelung gefolgt ist, wird keine Widerlegung brauchen. Die Unmöglichkeit eines materiellen Mechanismus haben wir gesehen, die eines psychischen leuchtet Jedem ein, der die unendliche Mannigfaltigkeit der vorkommenden Störungen erwägt, und bedenkt, dass die Function eines jeden einzelnen Organs wie des ganzen Körpers, sich in einem unaufhörlichen Abwehren und Ausgleichen herantretender Störungen bewegt, und dass nur dadurch das Dasein erhalten wird.A37 Giebt man also einmal die Zweckmässigkeit[143] dieser Ausgleichungen zum Zwecke der Selbsterhaltung zu, so kann man sich der Idee einer individuellen Vorsehung unmöglich entziehen, denn nur das Individuum selbst kann es sein, welches die Zwecke vorstellt, nach denen es bandelt. Es kann nicht fehlen, dass die in diesem und dem vorigen Capitel so eclatant hervorgetretene Wahrheit auch auf die Zurückweisung desselben Einwandes beim Instinct eine rückwirkende Beweiskraft äussert, da wir dies Alles als ein seinem Wesen nach Gleiches erkannt haben. Es wäre ganz thöricht, ein besonderes Vermögen des Instinctes, ein besonderes der Reflexbewegungen, ein besonderes der Heilkraft anzunehmen, da wir in allen diesen Erscheinungen nichts weiter als ein Setzen von Mitteln zu einem unbewusst vorgestellten und gewollten Zwecke erkannt haben, und nur die verschiedenen Arten von zur Thätigkeit auffordernden äusseren Umständen verschiedene Gattungen von Reactionen hervorrufen, wobei aber die Unterschiede nicht einmal von der Art sind, dass sie nicht in einander überflössen. Dass die organischen Heilwirkungen nicht Resultate des bewussten Vorstellens und Wollens sind, wird wohl Niemand bezweifeln, der sich erinnert, welchen Antheil sein Bewusstsein beim Heilen einer Wunde oder eines Bruches genommen habe; ja sogar, es gehen ja gerade dann die mächtigsten Heilwirkungen vor sich, wenn das Bewusstsein möglichst zurückgedrängt ist, wie im tiefen Schlafe. Dazu kommt noch, dass die organischen Functionen, in soweit sie überhaupt von Nerven abhängig sind, durch sympathische Nervenfasern geleitet werden, welche dem bewussten Willen nicht direct unterworfen sind, sondern von den Ganglienknoten aus innervirt werden, von denen sie entspringen. Wenn dennoch in den organischen Functionen der Heilwirkungen eine so wunderbare, Einem Ziele zustrebende Uebereinstimmung herrscht, so kann diese nun und nimmermehr aus materieller Communication dieser verschiedenen Ganglien begriffen werden, sondern nur durch die Einheit des über jenen waltenden Principes, des Unbewussten.[144]

A33

S. 135 Z. 6. Die vorstehenden Angaben sind aus Burdach's Physiologie entnommen. Wenn dieselben in der gegebenen Gestalt vor dem Forum der heutigen Physiologie sich nicht durchweg als haltbar herausstellen, so ändert dies doch nichts an der allgemeinen Thatsache, um welche es sich dabei handelt; vielmehr sieht sich gerade die moderne Physiologie mehr und mehr zur Anerkennung vicarirender Functionen hingedrängt, und die Biologie findet in der Descendenztheorie und der von jener gelehrten allmählichen Differenzirung der verschiedenen Organe aus ursprünglich gleichartigen Geweben den Schlüssel für die Möglichkeit solcher Vorgänge, welche aus diesem Gesichtspunkt als eine Art von atavistischer Reminiscenz der Gewebe an eine phylogenetische Entwickelungsperiode erscheinen, wo die Arbeitstheilung im Organismus noch nicht so weit vorgeschritten war.

A34

S. 138 Z. 15. Diese Stelle des Textes, welche bereits in der ersten Aufl. dieses Werkes steht, ist der deutlichste Beweis, wie wenig diejenigen den Sinn meiner Lehre verstanden haben, welche sich einbilden, ich wolle irgendwo die physikalisch-chemische Erklärung auswirkenden materiellen Ursachen durch metaphysische Erklärungen ersetzen oder gar verdrängen. Nichts liegt mir ferner, als ein so sinnloses und mit dem Geist der modernen Wissenschaft im Widerspruch stehendes Unterfangen. Im Gegentheil hat noch niemals ein speculativer Philosoph das selbstständige Recht der Naturwissenschaft so willig anerkannt und ihren Werth so hoch gestellt wie ich, der ich es für die zweifellose und hoffnungsvolle Aufgabe der Naturwissenschaft halte, nach den wirkenden materiellen Ursachen der materiellen Erscheinungen zu forschen, und der ich es für die »Schuldigkeit« des Naturforschers als solchen erachte, sich in diesem Forschen nach den wirkenden materiellen Ursachen nicht durch Einmischung metaphysischer, teleologischer oder anderweitiger Erklärungsprincipien irre machen zu lassen. Diese Anerkennung der Naturwissenschaft auf dem Gebiete der materiellen Erscheinungen und ihres Causalzusammenhanges kann mich aber nicht (wie einige »moderne« Philosophen) gegen die Einsicht blind machen, dass weder die materiellen Erscheinungen die Erscheinung des Weltwesens überhaupt, noch auch der Causalzusammenhang als solcher die Erkenntniss der materiellen Erscheinungen in ihrer gesetzmässigen Eigenthümlichkeit zu erschöpfen vermag, dass also hinter der Naturwissenschaft und ihren Lösungen noch ganz andre Probleme stehen (vgl. im dritten Theile dieses Werkes die »Allgemeinen Vorbemerkungen« zur zweiten Auflage von »Das Unbewusste vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie« und Nr. 2 der Zusätze zu Cap. II ebenda). Insofern nun ein Naturforscher zugleich den Anspruch erhebt, »homo sapiens«, d.h. ein gebildeter und denkender Mensch zu sein, so muss man von ihm verlangen, dass er sich dieser Grenzen seiner Specialwissenschaft und ihres Nichtzusammenfallens mit den Grenzen der menschlichen Erkenntniss überhaupt bewusst sei und für allgemeinere philosophische Bestrebungen sogar ein gewisses allgemeinmenschliches Interesse hege. Dagegen ist von keinem Menschen, der nicht den Anspruch erhebt, Naturforscher von Fach zu sein, zu verlangen, dass er bei der Beschäftigung mit den Problemen zunächst damit anfange, den gegenwärtigen Stand der naturwissenschaftlichen Kenntnisse zu erweitern, d.h. nach einer causalen Erklärung der materiellen Erscheinungen durch materielle Ursachen über das Maass der von der Naturwissenschaft zeitweilig schon gelieferten Aufschlüsse hinaus zu forschen; er wird diese Seite der wissenschaftlichen Aufgabe der Menschheit eben den Naturforschern von Fach überlassen, und durch diesen Verzicht keineswegs behindert, sondern vielmehr erst in den Stand gesetzt sein, der andern, ebenso wenig eine Vernachlässigung gestattenden Seite der Aufgabe seine vollen Kräfte in fruchtbarer Weise zu widmen. Wenn aber Naturforscher diese Sachlage so sehr verkennen, dass sie dem Philosophen jede Anwendung philosophischer Erklärungsprincipien und jeden persönlichen Verzicht auf selbstthätige Forschung in naturwissenschaftlicher Richtung als eine Art von Verbrechen gegen den heiligen Geist anrechnen, so kann man eine solche fachwissenschaftliche Beschränktheit des Gesichtskreises nur ebenso sehr bedauern, wie den Terrorismus, den viele Wortführer dieser Richtung auf die öffentliche Meinung ausüben, nicht ohne einen gewissen Erfolg in Bezug auf Verwirrung der Ansichten über das Wesen echter »Wissenschaftlichkeit«. Es scheint die höchste Zeit, gegen diesen Terrorismus offen aufzutreten, und die gläubigen Opferlämmer der populären naturwissenschaftlichen Vorlesungen und Zeitschriften mit Ernst und Nachdruck darauf hinzuweisen, dass der Begriff der Naturwissenschaft und ihrer Forschungsrichtung auf die materiellen Ursachen doch immer nur eine (und zwar eine den Geisteswissenschaften untergeordnete) Seite der Wissenschaft überhaupt ist. Es liegt sonst die Gefahr nahe, dass die Naturwissenschaft in unserer Zeit nach einer ebenso ungerechtfertigten und womöglich noch gefährlicheren Alleinherrschaft ringe, wie die Theologie sie im Mittelalter thatsächlich besessen hat.

A35

S. 140 Z. 21. Die neueren Untersuchungen haben inzwischen festgestellt, dass bei den auf S. 139 unten genannten und vielen anderen Krankheiten (z.B. Lungenentzündung, Tuberculose, Wundstarrkrampf, Rose, Rückfallfieber, Rotz der Pferde, Milzbrand der Rinder u.s.w.) die Infection durch organische Keime als die äussere Ursache der Erkrankung anzusehen ist; aber sie haben die Thatsache noch nicht erklärt, dass nur ein Theil der Menschen für die Ansteckung empfänglich, d.h. für das Fortwuchern der Keime ein geeigneter Nährboden ist. Warum sind vorzugsweise die Kinder der Infection durch Kinderkrankheiten ausgesetzt? Warum erkrankt nur der dritte Theil der von tollen Hunden gebissenen Menschen an Hundswuth? Warum gewährt bei vielen Krankheiten das einmalige Ueberstehen der Krankheit, beziehungsweise die Einimpfung eines abgeschwächten Ansteckungsstoffes für kürzere oder längere Frist Schutz gegen neue Ansteckung? Wir wissen jetzt, dass wir beständig von den Keimen mancher Krankheitsarten umgeben sind und dieselben einzuathmen nicht vermeiden können (z.B. die Mikroben der Lungenentzündung und Tuberculose), d.h. dass die äussere Ursache dieser Krankheiten stets, diejenigen anderer Krankheiten bei Epidemien überall, gegeben ist; muss da nicht die innere Ursache der Erkrankung, d.h. die für das Fortwuchern der aufgenommenen Keime geeignete Beschaffenheit des Organismus, seiner Gewebe und Säfte als die allein entscheidende Ursache wieder in den Vordergrund treten? Die heutige Medicin feiert ihre Triumphe in der Entdeckung der äusseren Krankheitserreger, in den hygienischen Vorbeugungsmaassregeln gegen Infection und in der chemischen und chirurgischen Bekämpfung der Krankheitserreger bei localen offenen Schäden; aber sie ist in dieser Richtung einseitig geworden und hat allzusehr verlernt, die Bedeutung der inneren Diathesen und constitutionellen Anlagen als wesentliche Ursache der Inficirbarkeit zu würdigen, welche von der älteren Humoralpathologie in ebenso einseitiger Weise ausschliesslich berücksichtigt wurde. Die für die Krankheitsentstehung prädisponirende Blut- und Körperbeschaffenheit kann nun selbst wieder individuell erworben oder ererbt sein, und so erklärt es sich, dass auch die Anlage zu infectiösen Krankheiten (wie Tuberculose) oft erblich erscheint.

A36

S. 143 Z. 12. v. u. Unter Umständen kann auch die Schädlichkeit so gross sein, dass die Anstrengungen des Organismus zu ihrer Ueberwindung nicht ausreichen und derselbe nun gerade an diesen Anstrengungen zu Grunde geht, d.h. noch früher zu Grunde geht, als wenn er jede Anstrengung zur Selbsthilfe unterlassen hätte. Man kann aber das Verhalten in solchen Fällen nicht unzweckmässig nennen, da der Organismus bei Unterlassung jeder Reaction ja doch auch zu Grunde gegangen wäre, und der Versuch zur Gegenwehr jedenfalls angezeigt und berechtigt war. Hierher gehört z.B. der Tod durch die Höhe der Fiebertemperatur in solchen Fällen, wo das Fieber als eine zweckmässige Reaction des Organismus gegen giftige Ptomaine im Blut aufzufassen ist, deren giftige Wirkung durch die Temperaturerhöhung des Blutes aufgehoben oder gemildert werden soll.

A37

S. 143 Z. 1 v. u. Gerade der Besitz von zweckmässigen Mechanismen wird nur zu häufig für den Organismus Ursache eines unzweckmässigen Verhaltens, insofern die zweckmässigen Mechanismen nur der Regel nach, d.h. für gewisse häufig eintretende Voraussetzungen zweckmässig angepasst sind, für Ausnahmefälle aber nicht passen und durch ihr Functioniren schädlich wirken. So ist es z.B. ein zweckmässiger Mechanismus, dass auf die meisten thierischen Gewebe ein constanter Druck als Wachsthumsreiz wirkt; dieser Mechanismus wird aber unzweckmässig, wenn sich aus noch unbekannten Ursachen der Dorn eines Hühnerauges im Zehen gebildet hat und der Wachsthumsreiz zu Epithelialwucherungen führt, welche den schmerzenden Druck des Dorns immer mehr verstärken. So ist es ferner ein zweckmässiger Mechanismus, dass bei der Extrauterinalschwangerschaft, welche phylogenetisch älter ist als die Uterinalschwangerschaft, das Ei durch seine saugende Kraft einen Säftestrom auf sich lenkt, welcher den mütterlichen Organismus zur Ausbildung eines ernährenden Gefässsystems reizt; unzweckmässig aber wird dieser Mechanismus, wenn das Saugende und Saftverbrauchende nicht ein selbstproducirtes Ei, sondern ein eingewanderter Parasit, z.B. ein Echinococcus oder Blasenwurm ist.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 123-145.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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