3. Das Rückenmark

[373] Sehen wir von den im sympathischen Nervengeflecht vereinigten und in Organen verstreuten Ganglienzellen ab, so sind alle übrigen in der grauen Masse des Rückenmarks und Gehirns vereinigt. Im ersteren bildet die graue Masse vier mit einander verbundene Säulen, von denen die rechts und links gelegenen den seitlichen Körperhälften entsprechen, während die beiden vorderen sich von den beiden hinteren dadurch unterscheiden, dass aus den ersteren die motorischen, aus den letzteren die sensiblen Nerven entspringen. Diese vier Säulen sind nun von einer Hülle weisser Nervenmasse umgeben, in welcher die nach aufwärts leitenden sensiblen und die nach abwärts leitenden motorischen Fasern zusammengefasst sind.

Hieraus ergibt sich zunächst, dass es keine directe Leitung nach den höheren Nervencentren für die aus dem Rückenmark entspringenden Körpernerven gibt, sondern dass bei der centrifugalen und centripetalen Leitung immer diejenige Stelle der grauen Rückenmarkssubstanz passirt werden muss, aus welcher der betreffende Nerv entspringt. Mit andern Worten, die Leitungsfasern im Rückenmark sind mit den Körpernerven nicht direct, sondern nur durch Vermittelung von Ganglienzellen verbunden, und bei jeder Leitung vom Gehirn zu den Muskeln oder umgekehrt wirken Rückenmarksganglienzellen als active Zwischenglieder mit, welche den Reiz, sofern er für sie über der Schwelle liegt, reflectorisch weiter befördern.

Es ergibt sich weiter aus der genannten Anordnung, dass aus einer und derselben Ganglienzelle des Rückenmarks niemals gleichzeitig sensible und motorische Fasern entspringen, dass also ein Reflex von einem sensiblen auf einen motorischen Nerven sich aus[373] mehreren Einzelreflexen in mindestens zwei Ganglienzellen (einer im Hinterhorn und einer im Vorderhorn) zusammengesetzt. Der einfache Reflex in einer einzigen Ganglienzelle des Rückenmarks kann immer nur eine Art von Körpernerven in sich schliessen und das andere Glied müssen Verbindungsfasern nach andern Ganglienzellen sein, – sei es nun nach benachbarten und nebengeordneten, sei es nach höher gelegenen und übergeordneten oder tiefer gelegenen und subordinirten Zellen, – sei es ein mit Nachbarzellen verbindendes Primitivfasernetz, sei es eine nach oben oder unten führende Nervenfaser. Es ist wichtig, sich dieses Zusammenwirken mehrerer Ganglienzellen von verschiedener functioneller Bedeutung schon beim Zustandekommen des einfachsten Rückenmarksreflexes klar zu machen, um sich dadurch ein besseres Verständniss der verwickelten Cooperation und Subordination zwischen den verschiedenen Centralorganen zu erschliessen.

Würden die in der weissen Substanz des Rückenmarks verlaufenden Leitungsfasern immer auf derselben Seite bleiben, wo sie entspringen, so würden die beiden Körperhälften für schwache Empfindungs- und Bewegungsreize, welche durch den Leitungswiderstand der grauen Substanz ausgelöscht werden, gar keine Communication mit einander haben; es findet deshalb ein theilweises Hinübertreten von Nervenfasern aus der einen seitlichen Hälfte des Rückenmarks in die andere statt. Da eine Cooperation beider Körperhälften erst bei stärkeren Bewegungsreizen erforderlich scheint, welche ohnehin durch die graue Substanz geleitet werden, so erstreckt sich bei den motorischen Fasern diese Kreuzung nur auf einen kleinen Bruchtheil, wie daraus hervorgeht, dass bei halbseitiger Durchschneidung des Rückenmarks nur schwache Bewegungsstörungen auf der unverletzten Körperhälfte sichtbar werden; bei den Empfindungsreizen dagegen ist schon für schwache Reize ein genauer Connex beider Körperhälften erforderlich, und darum ist die Kreuzung der sensiblen Leitungsfasern eine weit beträchtlichere (Wundt 114-115). Auch bei den höheren Centralorganen kehrt überall diese Anordnung wieder, dass die Vermittlung zwischen beiden Körperhälften theils durch Brücken grauer Substanz oder durch besondere Commissuren (d.h. leitende Verbindungsstränge), theils durch Kreuzung der Leitungswege hergestellt ist.

Von besonderem Interesse ist dies Verhältniss bei dem Chiasma der Sehnerven, welches man früher für die Kreuzungsstelle beider Sehnerven hielt. Dies ist aber nur richtig für Thiere mit auswärts[374] gestellten Augen, die kein gemeinschaftliches Sehfeld für beide Augen haben, wogegen beim Menschen und den Thieren mit binocularem Sehfeld nur die Hälfte der Fasern jedes Nerven, und zwar die nach innen gelegene, auf die andere Seite übertritt, während die äußeren Hälften ungekreuzt bleiben. Hierdurch wird das Resultat erzielt, dass die linken Hälften beider Retinas sich im linken, die rechten Hälften beider Retinas sich im rechten Vierhügel vereinigen. Bei Thieren mit auswärts gestellten Augen zieht Verletzung eines Vierhügels Blindheit des entgegengesetzten Auges nach sich, bei Menschen aber bewirkt Erkrankung eines Vierhügels Hemiopie, d.h. Erblindung oder Sehstörung der linken oder rechten Hälfte beider Retinas (Wundt 146). Es liegt auf der Hand, dass erst durch diese Verschmelzung der gleichseitigen Hälften zweier peripherischer Organe in eine Hälfte des Centralorgans das Verschmelzen correspondirender Eindrücke auf beiden Netzhäuten erklärt, d.h. das Räthsel des Einfachsehens mit zwei Augen gelöst wird, und ich habe dieses Beispiel darum genauer erörtert, weil wir nach Analogie desselben uns die gesammte Einrichtung unseres Nervensystems vorzustellen haben, welche trotz der Zweiseitigkeit sowohl der centralen als auch der peripherischen Organe der Empfindung doch zu einer einheitlichen Empfindung unseres Körpers selbst für die schwächsten Reize führt. Nur die Verbindung von centralen Brücken oder Commissuren mit theilweisen peripherischen Leitungskreuzungen macht dieses Resultat möglich, und erhebt uns über einen Zustand, in welchem wir unsere Körperhälften gleichsam als zwei getrennte Körper empfinden würden, und es erst dem denkenden Bewusstsein überlassen bliebe, diese getrennten Empfindungen zur Einheit zusammenzufassen, wie etwa ein Gutsbesitzer auch zwei ganz von einander getrennt liegende Güter mit Hilfe Eines Hauptbuchs verwalten kann. Allerdings gilt die Nothwendigkeit der Verbindung von Commissuren mit partieller Leitungskreuzung nur für das Rückenmark und die hinteren und mittleren Theile des Gehirns, aber nicht für das Vorderhirn oder Grosshirn, und zwar aus dem doppelten Grunde, weil erstens die Verbindung der Grosshirnhemisphären durch Commissuren und Bogenfaserzüge zu einem einheitlich functionirenden Organ eine weit innigere ist, als bei den vorgenannten Centren, und zweitens, weil die motorischen Impulse des Grosshirns immer erst durch Mittelglieder (mindestens durch die motorischen Ganglien des Hirnschenkelfusses) hindurchgehen müssen, in welchen die fragliche Verschmelzung durch partielle Leitungskreuzung[375] bereits vollzogen ist, so dass eine Wiederholung dieses Mittels überflüssig wäre. Die Grosshirnhemisphären sind daher im Menschen das einzige Organ, bei welchem die Kreuzung der zuführenden halbseitigen Leitungen nicht eine partielle, sondern eine totale ist.

Dass das Rückenmark in seiner grauen Substanz ein Centralorgan niederer Ordnung von einer gewissen elativen Selbstständigkeit ist, kann gegenwärtig wohl als allgemein anerkannt gelten. Maudsley sagt: »Wir können nicht in Abrede stellen, dass das Rückenmark ein selbstständiges Centralorgan für gewisse zweckmässige Bewegungen darstellt, die ohne jede Betheiligung des Bewusstseins« (d.h. des Hirnbewusstseins) »erfolgen. Es ist nicht bloss das Centralorgan für solche coordinirte Bewegungen, zu welchen es gemäss seiner angeborenen Constitution die Fähigkeit besitzt, sondern auch für solche, die es allmählich durch individuelle Erfahrung auszuführen erlernt hat. Das Rückenmark hat ebensogut wie das Gehirn ein Gedächtniss, das ausgebildet werden muss« (S. 68). »In der That, wenn sich einer die Mühe geben wollte, die Bewegungen durchzugehen, die er während eines Tages ausgeführt hat, er würde staunen, wie wenige davon er mit bewusstem Willen vollbrachte, und wie viele dagegen aus jener oben auseinandergesetzten automatischen Bewegungssphäre entsprungen sind« (70). »Von diesen unbewussten oder unwillkürlichen Bewegungen entspringt ein grosser Theil einzig und allein aus der selbstständigen Reactionsfähigkeit der Ganglienzellen des Rückenmarkes« (64). »Acephale Missgeburten, bei denen die Abwesenheit des Gehirns nothwendig die des Bewusstseins in sich schliesst, führen nicht blos Bewegungen mit den Beinen aus, sondern sind auch im Stande, die zusammengesetzten Acte des Saugens und Schreiens zu vollbringen« (64). »Wenn man einen Frosch, der während der Brunstzeit auf einem Weibchen sitzt, enthauptet, so hält er dessen ungeachtet sein Weibchen fest; ja wenn man ihm die Pfoten abschneidet, so klammert er sich noch mit den blutigen Stümpfen fest. Das Rückenmark ist demnach nicht bloss ein Centralorgan für gewisse unregelmässige Reflexe, sondern auch für coordinirte zweckmässige Bewegungen« (65). »Pflüger19 wurde von dieser wunderbaren Zweckmässigkeit so sehr bestochen, dass er nicht anstand, dem Rückenmark wie dem Gehirn sensorielle Functionen zuzuerkennen.[376] Andere, die die Uebertragung dieser Annahme auf den Menschen nicht für zulässig erachteten, glaubten, dass sie nur bei den niederen Thieren Geltung habe. Anstatt ihrem Urtheil von den complicirten Verhältnissen beim Menschen durch die Erfahrung an diesen einfacheren Beispielen bei den niederen Thieren eine richtige Grundlage zu verschaffen, wandten sie ihre subjectiven Missdeutungen der complicirten Erscheinungen beim Menschen auf die niederen Thiere an« (65).

Maudsley spricht hier einen wichtigen methodologischen Grundsatz für die vergleichende Physiologie und Psychologie aus, den auch ich oben im Abschn. A Cap. I befolgt habe, und dessen Befolgung mir von naturwissenschaftlicher Seite mehrfach zum Vorwurf gemacht ist. Gleichwohl sollte dieser Grundsatz grade für jeden Naturforscher selbstverständlich sein, und es ist nur das psychologische Vorurtheil: dass in meinem Organismus kein Bewusstsein stecken könne, welches nicht in meinem Bewusstsein, d.h. in dem Bewusstsein meiner Grosshirnhemisphären gegenwärtig sein müsste, – welches selbst einem Wundt das Verständniss für die Grundthatsache der physiologischen Psychologie, nämlich für die Bewusstseinsfähigkeit jeder Ganglienzelle, verschlossen hat.

19

Pflüger, »Die sensorischen Functionen des Rückenmarks« (Berlin 1853).

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 373-377.
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