XV. Die letzten Principien

[412] Wir sind in unseren bisherigen Untersuchungen immer wieder zwei Principien, Wille und Vorstellung, begegnet, ohne deren Annahme überhaupt nichts zu erklären ist, und welche eben darum Principien, d.h. ursprüngliche Elemente sind, weil uns jeder Versuch, sie in einfachere Elemente zu zerlegen, von vornherein aussichtslos erscheint, alle bisherigen Bemühungen aber, das eine der beiden auf das andere zurückzuführen, als gescheitert zu betrachten sind. Wir haben aber auch nirgends anderer, als dieser zwei Principien zu unseren Erklärungen bedurft, und haben das, was man sonst auch wohl als Principien behandelt findet, Gefühl oder Empfindung und Bewusstsein, als Folgeerscheinungen unserer Principien erkannt. Andere elementare Thätigkeiten als Vorstellen, Wollen, Bewusstwerden und Empfinden oder Fühlen sind meines Wissens bei allen bisher dagewesenen spiritualistischen Philosophien auch nicht einmal versuchsweise herangezogen worden, so dass nur Derjenige sich über unser Festhalten an Wille und Vorstellung aufhalten könnte, welcher seinerseits den Beweis erbrächte, dass die bisher angenommenen Elementarfunctionen des Geistes nicht die richtigen, und welche anderen an ihre Stelle zu setzen seien.

Was nun unsere Begriffe von diesen Principien betrifft, so verfuhren wir auch hier rein empirisch und inductiv. Wir setzten dieselben zunächst in der Weise voraus, wie der natürliche, am Gängelbande der deutschen Sprache gebildete Menschenverstand sie fasst, und veränderten, erweiterten und beschränkten dieselben dann nach Maassgabe, wie es das wissenschaftliche Erklärungsbedürfniss der Thatsachen forderte. Der Ausgangspunct unseres Philosophirens ist demnach ein anthropologischer, insofern das sprachliche Volksbewusstsein und die philosophische Empirie beide zunächst aus der inneren[412] Erfahrung der menschlichen Geistesthätigkeit schöpfen. In der That erscheint dieser Ausgangspunct bei einigem Besinnen als der einzig mögliche: nur was wir durch Analogie mit uns selber zu verstehen vermögen, nur das können wir überhaupt an der Welt verstehen, und wären wir nicht selbst ein Stück der Welt, und wären nicht unsere anthropologischen Elementarleistungen gleich allen übrigen Erscheinungen dieser Welt aus den gemeinsamen einfachen Grundprincipien eben dieser Welt herausgewachsen, so würde mit der fehlenden Aehnlichkeit und Analogie zwischen uns und der übrigen Welt auch jede Möglichkeit eines Verständnisses derselben für uns abgeschnitten sein. Aber gerade auf diese innige Verwandtschaft unsrer selbst mit den übrigen Naturproducten und mit den gemeinsamen metaphysischen Wurzeln aller gestützt dürfen wir uns vertrauensvoll dem vorsichtigen Gebrauch der Analogie hingeben und die analoge Uebertragung der anthropologischen Principien auf die übrige Natur wagen, wenn wir nur kritisch genug in der Aussonderung derjenigen Eigenthümlichkeiten verfahren, welche uns Menschen von der übrigen Natur unterscheiden.

So erweiterten wir die anthropologischen Principien Wille und Vorstellung durch Wiedererkennung derselben zunächst in der absteigenden Stufenreihe der Thiere, dann in den selbstständigen niederen Nervencentris des menschlichen Organismus, dann im Reiche der niederen Thiere und Protisten, dann im Pflanzenreiche, dann endlich im Reiche der unorganischen Materie; wir fühlten uns aber dabei durch die Kritik genöthigt, bei den dem Menschen schon ferner stehenden Stufen dasjenige mehr und mehr abzustreifen, was beim Menschen für die Selbstwahrnehmung das in die Augen stechendste ist, nämlich das Bewusstsein, erkannten gleichzeitig aber auch, dass sogar in die höchsten Formen der menschlichen Geistesthätigkeit solches Wollen und Vorstellen in bedeutungsvollster Weise mit hineinspielen, welche von der Form des Bewusstseins frei sind, dass auch der Mensch das, was er ist, nur dadurch ist, dass derselbe unbewusste Geist in ihm waltet, den er in den Aeusserungen der Naturerscheinungen von minder hoch entwickeltem Bewusstsein schon längst im Stillen bewunderte. Wir begriffen ferner, dass dieser unbewusste Geist das gemeinsame Band der Welt und der Träger der Einheit des in ihr waltenden Schöpfungsplanes, ja dass er überhaupt das einheitliche metaphysische Wesen sein müsse, als dessen objective Erscheinungen allein die nur scheinbar substantiell getrennten[413] Naturindividuen zu betrachten seien. So concrescirte sich vor unsern forschenden Blicken die Einheit der Principien »unbewusster Wille« und »unbewusste Vorstellung« zu dem Alles seienden geistigen Weltwesen, das der dunkle Drang der Menschheit von jeher auf den verschiedensten Wegen gesucht und mit den verschiedensten Namen bezeichnet hat, aber doch überall bei einigermassen fortgeschrittener Bildung als Geist begriffen hat. Verstehen können wir, wie gesagt, von der Natur eines solchen Wesens gerade nur soviel, als von dieser Natur sich auch in uns vermittelst innerer Erfahrung offenbart, als wir selbst seine Erscheinungen sind und uns als solche erfassen, als seine Principien auch in uns sich sichtbar entfalten; nur Derjenige, welcher die Wesenseinheit und Continuität der Welt und die Uebereinstimmung der in ihr wirksamen Principien mit den sie erzeugenden Principien leugnet, würde unser Verfahren als solches ein anthropopathisches schelten können, und nur der absolute Denkverzicht des consequentesten Skepticismus bliebe übrig, wenn diese Verfahrungsweise principiell verpönt würde. Nur soweit ist die Warnung vor Anthropopathismus berechtigt, als sie sich auf die schärfste kritische Ausscheidung alles dessen aus den letzten Principien beschränkt, was irgend zu der speciellen Erscheinungsform des Weltwesens im Menschen oder im Thierreiche oder sonst in einer engeren, nicht die Natur in ihrer Totalität erschöpfenden Gruppe von Objectivationen des All-Einen gehören könnte. In dieser Richtung aber glaube ich in der That auch den weitgehendsten und scrupulösesten Anforderungen gewissenhaft genügt zu haben, was wohl am besten dadurch bewiesen wird, dass die Principien Wille und Vorstellung in dem höchsten Grade einer aller empirischen Besonderheit entkleideten Allgemeinheit gefasst sind, nämlich so allgemein, als es die Nothwendigkeit, überhaupt noch einen positiven und präcisen Begriff übrigzubehalten, nur irgend zulässt. So ist jeder unberechtigte und unwahre Anthropopathismus auf das Sorgfältigste vermieden, ohne doch den einzigen Weg des Verständnisses aufzugeben, den unsere Stellung in der Welt uns ermöglicht, aber auch erlaubt, d.h. als berechtigt erkennen lässt, ohne also aus verkehrtem Skepticismus den wahren Anthropopathismus zu verdächtigen und zu verschmähen, der ja gerade nur so weit reicht, als wir selbst metaphysischen Wesens (oder theologisch ausgedrückt: göttlichen Geschlechtes) sind.

Wenn nun nach den Resultaten unserer bisherigen Untersuchungen[414] die beiden Principien Wille und Vorstellung in metaphysischer Wesenseinheit gefasst, wirklich zur Erklärung der in der bekannten Welt sich uns darbietenden Erscheinungen ausreichen, so bilden sie die Spitze der Pyramide der inductiven Erkenntniss, und es bleibt uns nur übrig, diesen so erklommenen Gipfel zum Schlusse noch einmal in Augenschein zu nehmen, wobei auch eine Vergleichung mit den letzten Principien bestehender philosophischer Systeme nicht uninteressant sein dürfte. Dieses Capitel bildet mithin die unmittelbare Fortsetzung von den Cap. A. IV., C. I, VII, VIII, und z. Th. auch XI, XII und XIV, deren Inhalt ich den geneigten Leser bitte, sich zunächst zu vergegenwärtigen.

Dem Leser ohne philosophische Vorbildung werden vielleicht die Betrachtungen dieses Capitels an und für sich am wenigsten interessant sein, weil sie sich mehr als alle vorhergehenden in die Zergliederung von Begriffen verlieren, welche an die letzte Grenze der Abstraction und unseres Verstandes überhaupt hinanreichen; indessen dürfte doch einerseits das hier erst näher angedeutete Verhältniss meines Standpunctes zu den Systemen der wichtigsten Philosophen und andererseits die strengere Erörterung der Begriffe, welche bisher in ihrer Bedeutung und ihren gegenseitigen Beziehungen grösstentheils vorausgesetzt war, für denjenigen Leser, der das Vorangehende mit Interesse verfolgt hat, wegen der auf dieses Vorangehende zurückstrahlenden Aufklärung mancher bisher in Dunkelheit gelassener Puncte anziehend genug sein, um auch dieses Schlusscapitel nicht ungelesen zu lassen.

Wenn man den Werth wissenschaftlicher Resultate allein nach dem Grade ihrer Gewissheit oder Sicherheit schätzt, so ist unzweifelhaft der Werth derselben um so kleiner, je weiter sie sich vom Boden der zu erklärenden Thatsachen entfernen, weil ihre Wahrscheinlichkeit um so kleiner wird, und am kleinsten wäre dann der Werth, den der Gipfel der Erkenntnisspyramide beanspruchen könnte. Indess dürften zu der Bestimmung des Werthes doch wohl noch andere Elemente als bloss der Grad der Wahrscheinlichkeit in Rechnung zu stellen sein, welche sich zusammenfassen lassen in dem Grade der Wichtigkeit, welche diese Resultate im Vergleiche zu anderen Gegenständen der Erkenntniss haben würden, vorausgesetzt, dass sie sämmtlich mit der Wahrscheinlichkeit 1, d.h. mit absoluter Gewissheit, erfasst wären. Was diesen Factor betrifft, so steigt offenbar der Werth des Gipfels der Erkenntnisspyramide über alle anderen möglichen Gegenstände der Erkenntniss hinaus, und darum[415] will auch ich nicht müde werden, zur besseren Feststellung der letzten metaphysischen Principien mein Scherflein beizutragen, hoffend, dass recht bald ein Anderer komme, der es weiter bringt als ich. Andererseits aber hoffe ich, dass die Nachfolger das Fundament der Pyramide von mir gut und fest genug gebaut finden werden, um darauf fortzubauen, und nicht Ursache haben werden, dasselbe in wesentlichen Theilen einzureissen.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 412-416.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
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