1. Die Erinnerung
§ 452

[258] Als die Anschauung zunächst erinnernd, setzt die Intelligenz den Inhalt des Gefühls in ihre Innerlichkeit, in ihren eigenen Raum und ihre eigene Zeit. So ist er αα) Bild, von seiner ersten Unmittelbarkeit und abstrakten Einzelheit gegen anderes befreit, als in die Allgemeinheit des Ich überhaupt aufgenommen. Das Bild hat nicht mehr die vollständige Bestimmtheit, welche die Anschauung hat, und ist willkürlich[258] oder zufällig, überhaupt isoliert von dem äußerlichen Orte, der Zeit und dem unmittelbaren Zusammenhang, in dem sie stand.


§ 453

ββ) Das Bild für sich ist vorübergehend, und die Intelligenz[259] selbst ist als Aufmerksamkeit die Zeit und auch der Raum, das Wann und Wo desselben. Die Intelligenz ist aber nicht nur das Bewußtsein und Dasein, sondern als solche das Subjekt und das Ansich ihrer Bestimmungen; in ihr erinnert, ist das Bild, nicht mehr existierend, bewußtlos aufbewahrt.

Die Intelligenz als diesen nächtlichen Schacht, in welchem eine Welt unendlich vieler Bilder und Vorstellungen aufbewahrt ist, ohne daß sie im Bewußtsein wären, zu fassen, ist einerseits die allgemeine Forderung, den Begriff als konkret, wie den Keim z.B. so zu fassen, daß er alle Bestimmtheiten, welche in der Entwicklung des Baumes erst zur Existenz kommen, in virtueller Möglichkeit, affirmativ enthält. Die Unfähigkeit, dies in sich konkrete und doch einfach bleibende Allgemeine zu fassen, ist es, welche das Gerede vom Aufbewahren der besonderen Vorstellungen in besonderen Fibern und Plätzen veranlaßt hat; das Verschiedene soll wesentlich nur eine auch vereinzelte räumliche Existenz haben. – Der Keim aber kommt aus den existierenden Bestimmtheiten nur in einem Anderen, dem Keime der Frucht, zur Rückkehr in seine Einfachheit, wieder zur Existenz des Ansichseins. Aber die Intelligenz ist als solche die freie Existenz des in seiner Entwicklung sich in sich erinnernden Ansichseins. Es ist also andererseits die Intelligenz als dieser bewußtlose Schacht, d.i. als das existierende Allgemeine, in welchem das Verschiedene noch nicht als diskret gesetzt ist, zu fassen. Und zwar ist dieses Ansich die erste Form der Allgemeinheit, die sich im Vorstellen darbietet.
[260]


§ 454

γγ) Solches abstrakt aufbewahrte Bild bedarf zu seinem Dasein einer daseienden Anschauung; die eigentliche sogenannte Erinnerung ist die Beziehung des Bildes auf eine Anschauung, und zwar als Subsumtion der unmittelbaren einzelnen Anschauung unter das der Form nach Allgemeine, unter die Vorstellung, die derselbe Inhalt ist; so daß die Intelligenz in der bestimmten Empfindung und deren Anschauung sich innerlich ist und sie als das bereits Ihrige erkennt, so wie sie zugleich ihr zunächst nur inneres Bild nun auch als unmittelbares der Anschauung und an solcher als bewährt weiß. – Das Bild, das im Schachte der Intelligenz nur ihr Eigentum war, ist mit der Bestimmung der Äußerlichkeit nun auch im Besitze derselben. Es ist damit zugleich unterscheidbar von der Anschauung und trennbar von der einfachen Nacht, in der es zunächst versenkt ist, gesetzt. Die Intelligenz ist so die Gewalt, ihr Eigentum äußern zu können und für dessen Existenz in ihr nicht mehr der äußeren Anschauung zu bedürfen. Diese Synthese des innerlichen Bildes mit dem erinnerten Dasein ist die eigentliche Vorstellung, indem das Innere nun auch an ihm die Bestimmung hat, vor die Intelligenz gestellt werden zu können, in ihr Dasein zu haben.[261]

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 10, Frankfurt a. M. 1979, S. 258-262.
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