α). Das praktische Gefühl
§ 471

[290] Der praktische Geist hat seine Selbstbestimmung in ihm zuerst auf unmittelbare Weise, damit formell, so daß er sich findet als in seiner innerlichen Natur bestimmte Einzelheit. Er ist so praktisches Gefühl. Darin hat er, da er an sich mit der Vernunft einfach identische Subjektivität ist, wohl den Inhalt der Vernunft, aber als unmittelbar einzelnen, hiermit auch als natürlichen, zufälligen und subjektiven Inhalt, der ebensowohl aus der Partikularität des Bedürfnisses, des Meinens usf. und aus der gegen das Allgemeine sich für sich setzenden Subjektivität sich bestimmt, als er an sich der Vernunft angemessen sein kann.

Wenn an das Gefühl von Recht und Moralität wie von Religion, das der Mensch in sich habe, an seine wohlwollenden Neigungen usf., an sein Herz überhaupt, d.i. an das Subjekt, insofern in ihm alle die verschiedenen praktischen Gefühle vereinigt sind, appelliert wird, so hat dies 1. den richtigen Sinn, daß diese Bestimmungen seine eigenen[290] immanenten sind, 2. und dann, insofern das Gefühl dem Verstande entgegengesetzt wird, daß es gegen dessen einseitige Abstraktionen die Totalität sein kann. Aber ebenso kann das Gefühl einseitig, unwesentlich, schlecht sein. Das Vernünftige, das in der Gestalt der Vernünftigkeit als Gedachtes ist, ist derselbe Inhalt, den das gute praktische Gefühl hat, aber in seiner Allgemeinheit und Notwendigkeit, in seiner Objektivität und Wahrheit.

Deswegen ist es einerseits töricht zu meinen, als ob im Übergange vom Gefühl zum Recht und der Pflicht an Inhalt und Vortrefflichkeit verloren werde; dieser Übergang bringt erst das Gefühl zu seiner Wahrheit. Ebenso töricht ist es, die Intelligenz dem Gefühle, Herzen und Willen für überflüssig, ja schädlich zu halten; die Wahrheit und, was dasselbe ist, die wirkliche Vernünftigkeit des Herzens und Willens kann allein in der Allgemeinheit der Intelligenz, nicht in der Einzelheit des Gefühles als solchen stattfinden. Wenn die Gefühle wahrhafter Art sind, sind sie es durch ihre Bestimmtheit, d.i. ihren Inhalt, und dieser ist wahrhaft nur, insofern er in sich allgemein ist, d.i. den denkenden Geist zu seiner Quelle hat. Die Schwierigkeit besteht für den Verstand darin, sich von der Trennung, die er sich einmal zwischen den Seelenvermögen, dem Gefühl dem denkenden Geiste willkürlich gemacht hat, loszumachen und zu der Vorstellung zu kommen, daß im Menschen nur eine Vernunft im Gefühl, Wollen und Denken ist. Damit zusammenhängend wird eine Schwierigkeit darin gefunden, daß die Ideen, die allein dem denkenden Geiste angehören, Gott, Recht, Sittlichkeit, auch gefühlt werden können. Das Gefühl ist aber nichts anderes als die Form der unmittelbaren eigentümlichen Einzelheit des Subjekts, in die jener Inhalt, wie jeder andere objektive Inhalt, dem das Bewußtsein auch Gegenständlichkeit zuschreibt, gesetzt werden kann.

Andererseits ist es verdächtig und sehr wohl mehr als dies, am Gefühle und Herzen gegen die gedachte Vernünftigkeit,[291] Recht, Pflicht, Gesetz, festzuhalten, weil das, was mehr in jenen als in dieser ist, nur die besondere Subjektivität, das Eitle und die Willkür, ist. – Aus demselben Grunde ist es ungeschickt, sich bei der wissenschaftlichen Betrachtung der Gefühle auf mehr als auf ihre Form einzulassen und ihren Inhalt zu betrachten, da dieser als gedacht vielmehr die Selbstbestimmungen des Geistes in ihrer Allgemeinheit und Notwendigkeit, die Rechte und Pflichten, ausmacht. Für die eigentümliche Betrachtung der praktischen Gefühle wie der Neigungen blieben nur die selbstsüchtigen, schlechten und bösen; denn nur sie gehören der sich gegen das Allgemeine festhaltenden Einzelheit; ihr Inhalt ist das Gegenteil von dem der Rechte und Pflichten, eben damit erhalten sie aber nur im Gegensatze gegen diese ihre nähere Bestimmtheit.


§ 472

Das praktische Gefühl enthält das Sollen, seine Selbstbestimmung als an sich seiend, bezogen auf eine seiende Einzelheit, die nur in der Angemessenheit zu jener als gültig sei. Da beiden in dieser Unmittelbarkeit noch objektive Bestimmung fehlt, so ist diese Beziehung des Bedürfnisses auf das Dasein das ganz subjektive und oberflächliche Gefühl des Angenehmen oder Unangenehmen.

Vergnügen, Freude, Schmerz usf., Scham, Reue, Zufriedenheit usw. sind teils nur Modifikationen des formellen praktischen Gefühls überhaupt, teils aber durch ihren Inhalt, der die Bestimmtheit des Sollens ausmacht, verschieden.

Die berühmte Frage nach dem Ursprünge des Übels in der Welt tritt, wenigstens insofern unter dem Übel zunächst nur das Unangenehme und der Schmerz verstanden wird, auf diesem Standpunkte des formellen Praktischen ein. Das Übel ist nichts anderes als die Unangemessenheit des Seins zu dem Sollen. Dieses Sollen hat viele Bedeutungen und, da die zufälligen Zwecke gleichfalls die Form des[292] Sollens haben, unendlich viele. In Ansehung ihrer ist das Übel nur das Recht, das an der Eitelkeit und Nichtigkeit ihrer Einbildung ausgeübt wird. Sie selbst sind schon das Übel. – Die Endlichkeit des Lebens und des Geistes fällt in ihr Urteil, in welchem sie das von ihnen abgesonderte Andere zugleich als ihr Negatives in ihnen haben, so als der Widerspruch sind, der das Übel heißt. Im Toten ist kein Übel noch Schmerz, weil der Begriff in der unorganischen Natur seinem Dasein nicht gegenübertritt und nicht in dem Unterschiede zugleich dessen Subjekt bleibt. Im Leben schon und noch mehr im Geiste ist diese immanente Unterscheidung vorhanden und tritt hiermit ein Sollen ein; und diese Negativität, Subjektivität, Ich, die Freiheit sind die Prinzipien des Übels und des Schmerzes. – Jakob Böhme hat die Ichheit als die Pein und Qual und als die Quelle der Natur und des Geistes gefaßt.[293]

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 10, Frankfurt a. M. 1979, S. 290-295.
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