3. Resultate für den Begriff der Geschichte der Philosophie

[47] So ist die Philosophie System in der Entwicklung, so ist es auch die Geschichte der Philosophie, und dies ist der Hauptpunkt, der Grundbegriff, den diese Abhandlung dieser Geschichte darstellen wird.[47]

Um dies zu erläutern, muß zuerst der Unterschied in Ansehung der Weise der Erscheinung bemerklich gemacht werden, der stattfinden kann. Das Hervorgehen der unterschiedenen Stufen im Fortschreiten des Gedankens kann nämlich mit dem Bewußtsein der Notwendigkeit, nach der sich jede folgende ableitet und nach der nur diese Bestimmung und Gestalt hervortreten kann, – oder es kann ohne dies Bewußtsein, nach Weise eines natürlichen, zufällig scheinenden Hervorgehens geschehen, so daß innerlich der Begriff zwar nach seiner Konsequenz wirkt, aber diese Konsequenz nicht ausgedrückt ist, wie in der Natur in der Stufe der Entwicklung der Zweige, der Blätter, Blüte, Frucht jedes für sich hervorgeht, aber die innere Idee das Leitende und Bestimmende dieser Aufeinanderfolge ist, oder wie im Kinde nacheinander die körperlichen Vermögen und vornehmlich die geistigen Tätigkeiten zur Erscheinung kommen, einfach und unbefangen, so daß die Eltern, die das erste Mal eine solche Erfahrung machen, wie ein Wunder vor sich sehen, wo das alles herkommt, von innen für sich da [ist] und jetzt sich zeigt und die ganze Folge dieser Erscheinungen nur die Gestalt der Aufeinanderfolge in der Zeit [hat].

Die eine Weise dieses Hervorgehens, die Ableitung der Gestaltungen, die gedachte, erkannte Notwendigkeit der Bestimmungen darzustellen, ist die Aufgabe und das Geschäft der Philosophie selbst; und indem es die reine Idee ist, auf die es hier ankommt, noch nicht die weiter besonderte Gestaltung derselben als Natur und als Geist, so ist jene Darstellung vornehmlich die Aufgabe und das Geschäft der logischen Philosophie. Die andere Weise aber, daß die unterschiedenen Stufen und Entwicklungsmomente in der Zeit, in der Weise des Geschehens, an diesen besonderen Orten, unter diesem oder jenem Volke, unter diesen politischen Umständen und unter diesen Verwicklungen mit denselben hervortreten – kurz, unter dieser empirischen Form –, dies ist das Schauspiel, welches uns die Geschichte der Philosophie zeigt. Diese Ansicht ist es, welche die einzig würdige für diese[48] Wissenschaft ist; sie ist in sich durch den Begriff der Sache die wahre; und daß sie der Wirklichkeit nach ebenso sich zeigt und bewährt, dies wird sich durch das Studium dieser Geschichte selbst ergeben.

Nach dieser Idee behaupte ich nun, daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee. Ich behaupte, daß, wenn man die Grundbegriffe der in der Geschichte der Philosophie erschienenen Systeme rein dessen entkleidet, was ihre äußerliche Gestaltung, ihre Anwendung auf das Besondere und dergleichen betrifft, so erhält man die verschiedenen Stufen der Bestimmung der Idee selbst in ihrem logischen Begriffe. Umgekehrt, den logischen Fortgang für sich genommen, so hat man darin nach seinen Hauptmomenten den Fortgang der geschichtlichen Erscheinungen; – aber man muß freilich diese reinen Begriffe in dem zu erkennen wissen, was die geschichtliche Gestalt enthält. Ferner unterscheidet sich allerdings auch nach einer Seite die Folge als Zeitfolge der Geschichte von der Folge in der Ordnung der Begriffe. Wo diese Seite liegt, dies näher zu zeigen, würde uns aber von unserem Zwecke zu weit abführen.

Ich bemerke nur noch dies, daß aus dem Gesagten erhellt, daß das Studium der Geschichte der Philosophie Studium der Philosophie selbst ist, wie es denn nicht anders sein kann. Wer Geschichte der Physik, Mathematik usf. studiert, macht sich damit ja auch mit der Physik, Mathematik selbst bekannt. Aber um in der empirischen Gestalt und Erscheinung, in der die Philosophie geschichtlich auftritt, ihren Fortgang als Entwicklung der Idee zu erkennen, muß man freilich die Erkenntnis der Idee schon mitbringen, so gut als man zur Beurteilung der menschlichen Handlungen die Begriffe von dem, was recht und gehörig ist, mitbringen muß. Sonst, wie wir dies in so vielen Geschichten der Philosophie sehen, bietet sich dem ideenlosen Auge freilich nur ein unordentlicher Haufen von Meinungen dar. Diese Idee Ihnen[49] nachzuweisen, die Erscheinungen sonach zu erklären – dies ist das Geschäft dessen, der die Geschichte der Philosophie vorträgt. Weil der Beobachter den Begriff der Sache schon mitbringen muß, um ihn in ihrer Erscheinung zu sehen und den Gegenstand wahrhaft auslegen zu können, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn es so manche schale Geschichte der Philosophie gibt, wenn in ihnen die Reihe der philosophischen Systeme als eine Reihe von bloßen Meinungen, Irrtümern, Gedankenspielen vorgestellt wird – Gedankenspielen, die zwar mit großem Aufwand von Scharfsinn, Anstrengung des Geistes und was man alles über das Formelle derselben für Komplimente sagt, ausgeheckt worden seien. Bei dem Mangel des philosophischen Geistes, den solche Geschichtsschreiber mitbringen, wie sollten sie das, was vernünftiges Denken ist, auffassen und darstellen können?

Aus dem, was über die formelle Natur der Idee an gegeben worden ist, erhellt, daß nur eine Geschichte der Philosophie, als ein solches System der Entwicklung der Idee aufgefaßt, den Namen einer Wissenschaft verdient (nur darum gebe ich mich damit ab, halte Vorlesungen darüber); eine Sammlung von Kenntnissen macht keine Wissenschaft aus. Nur so, als durch die Vernunft begründete Folge der Erscheinungen, welche selbst das, was die Vernunft ist, zu ihrem Inhalte haben und es enthüllen, zeigt sich diese Geschichte selbst als etwas Vernünftiges; sie zeigt, daß sie eine vernünftige Begebenheit. Wie sollte das alles, was in Angelegenheiten der Vernunft geschehen ist, nicht selbst vernünftig sein? Es muß schon vernünftiger Glaube sein, daß nicht der Zufall in den menschlichen Dingen herrscht; und es ist eben Sache der Philosophie, zu erkennen, daß, sosehr ihre eigene Erscheinung Geschichte ist, sie nur durch die Idee bestimmt ist.

Durch diese vorausgeschickten allgemeinen Begriffe sind nun die Kategorien bestimmt, deren nähere Anwendung auf die Geschichte der Philosophie wir zu betrachten haben – eine Anwendung, welche uns die bedeutendsten Gesichtspunkte dieser Geschichte vor Augen bringen wird.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 47-50.
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