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[38] Als inzwischen lind ihr Zorn geworden war,

Und des langen Seufzens müd' ihr schöner Mund,

Trat zu ihr, die schamvoll auf die Mägde sah,

Abends Hari, sprach mit holdem Stammeln so:

(1)


Wenn du nur ein Wörtchen sprichst, wird des Zahnes Lilienglanz dieses Bangens Nacht mir entfloren;

Deines Angesichtes Mond mit dem Lippennektarstrom labt der Augen durst'ge Cakoren.

Freundin, anmutreiche! Laß den Stolz, den grundlosen, sinken!

Von Kandarpa's Feuer ging meine Seel' in Flammen auf; gib des Mundes Met mir zu trinken!

(2)


Schöngezahnte, wenn du bist wirklich gegen mich erzürnt, gib vom Pfeil des Nagels die Wunde!

In Armfesseln schlage mich, scharfes Bisses nage mich, oder was dir lieb ist zur Stunde!

Freundin, anmutreiche! Laß den Stolz, den grundlosen, sinken!

Von Kandarpa's Feuer ging meine Seel' in Flammen auf; gib des Mundes Met mir zu trinken!

(3)


Du allein bist meine Zier, du allein mein Leben hier, mein Juwel in irdischen Schachten;

Herrin, daß du gegen mich immer freundlich seiest, das ist des Herzens eifrigstes Trachten.

Freundin, anmutreiche! Laß den Stolz, den grundlosen, sinken![39]

Von Kandarpa's Feuer ging meine Seel' in Flammen auf; gib des Mundes Met mir zu trinken!

(4)


Dein sonst lotosblaues Aug', holde, trägt erzürnt den Schein rötlicher Nymphä' im Gewässer,

Wenn du durch des Liebepfeils Regung es wie meinen Leib dunkeln ließest, ständ' es ihm besser.

Freundin, anmutreiche! Laß den Stolz, den grundlosen, sinken!

Von Kandarpa's Feuer ging meine Seel' in Flammen auf; gib des Mundes Met mir zu trinken!

(5)


Laß dein Edelsteingerank auf der Brüste Schalen sprühn, daß es färbe des Herzens Bleichen!

Laß des Gürtels Glockenspiel tönen um der Lende Wall, daß zur Lust es gebe das Zeichen!

Freundin, anmutreiche! Laß den Stolz, den grundlosen, sinken!

Von Kandarpa's Feuer ging meine Seel' in Flammen auf; gib des Mundes Met mir zu trinken!

(6)


Dein nymphäentötendes, meinen Busen rötendes, siegreich auf dem Lustkampfplatze

Schimmernd steh'ndes Sohlenpaar, sprich, soll ich's belegen zart mit des Lacks sanftglänzendem Schatze?

Freundin, anmutreiche! Laß den Stolz, den grundlosen, sinken!

Von Kandarpa's Feuer ging meine Seel' in Flammen auf; gib des Mundes Met mir zu trinken!

(7)
[40]

Gib, die Kāma's Gift versöhnt, gib, die meine Scheitel krönt, mir des Fußzweigs blühende Spitze!

Furchtbar ist in meinem Blut Madana's Verzehrungsglut; laß den Fußtritt dämpfen die Hitze!

Freundin, anmutreiche! Laß den Stolz, den grundlosen, sinken!

Von Kandarpa's Feuer ging meine Seel' in Flammen auf; gib des Mundes Met mir zu trinken!

(8)


Laß, zweifelnde, den Wahn, den Haß! In deinem Schoß und Busen

Ruht, reizende, mein Wunsch und tut für andres nie sich auf,

Eingeht ins Herz allein die Pein mir des leiblosen Gottes;

Gib, holde, gib sein Recht dem Trieb, umarmend gib dich hin.

(10)


Gib, Mädchen, mir des schonungslosen Zahnes Biß,

Der Arme Ketten, enge Busenklemmung!

Entbrannte! Deine Lust laß aus! Aus Wundenklaff

Des Mördergotts entfliehn die Lebensgeister.

(11)


Mondangesicht, die Krümmung deiner Brauen

Ist junger Herzen schwarze Todesschlange;

Die von ihr drohende Gefahr zu wenden,

Ist dein Mundnektar die Beschwörungsformel.

(12)


Nutzlos peinigt mich dein Schmollen, Schmächt'ge, kose Köstliches![41]

Blühende, mit holdanredenden Blicken scheuche den Verdruß!

Wohlgewandte, wend' einmal nicht mehr dein Antlitz ab! O tu

Dir nicht selbst weh, milde, holde, dein Geliebter ich bin da!

(13)


Bandhūka's Glanz hat deine Lipp', und deine Wange zart Madhūka's Schimmer,

O Huldin, blauen Lotosduft zu hauchen scheinen deine dunkeln Augen;

Die Nase strebt ein Tila-Sproß empor, o Kind mit Zähnen von Jasminen!

In deines Angesichtes Dienst besiegt die Welt der Gott mit Blumenwaffen.

(14)


In deinem Blick die Trunkenheit, den Mondschein auf der Stirne,

Die Anmut selbst in deinem Gang, die Füll im Schenkelpaare,

In deinem Arm die Liebeslust, die Zierd' in krauser Locke,

Wie manche Jugendgottheit bringst du mit dir her zur Erde!

(15)

Quelle:
Gītagovinda: Das indische Hohelied des bengalischen Dichters Jayadeva. Leipzig [1920], S. 38-42.
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