IX. Was ist Tugendpflicht?

[525] Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht. – Alle Stärke wird nur durch Hindernisse erkannt, die sie überwältigen kann; bei der Tugend aber sind diese die Naturneigungen, welche mit dem sittlichen Vorsatz in Streit kommen können, und, da der Mensch es selbst ist, der seinen Maximen diese Hindernisse in den Weg legt, so ist die Tugend nicht bloß ein Selbstzwang (denn da könnte eine Naturneigung die andere zu bezwingen trachten), sondern auch ein Zwang nach einem Prinzip der innern Freiheit, mithin durch die bloße Vorstellung seiner Pflicht, nach dem formalen Gesetz derselben.

Alle Pflichten enthalten einen Begriff der Nötigung durch das Gesetz; die ethische eine solche, wozu nur eine innere, die Rechtspflichten dagegen eine solche Nötigung, wozu auch eine äußere Gesetzgebung möglich ist; beide also eines Zwanges, er mag nun Selbstzwang oder Zwang durch einen andern sein: da dann das moralische Vermögen des ersteren Tugend, und die aus einer solchen Gesinnung (der Achtung fürs Gesetz) entspringende Handlung Tugendhandlung (ethisch) genannt werden kann, obgleich das Gesetz eine Rechtspflicht aussagt. Denn es ist die Tugendlehre, welche gebietet, das Recht der Menschen heilig zu halten.

Aber, was zu tun Tugend ist, das ist darum noch nicht so fort eigentliche Tugendpflicht. Jenes kann bloß das Formale der Maximen betreffen, diese aber geht auf die[525] Materie derselben, nämlich auf einen Zweck, der zugleich als Pflicht gedacht wird. – Da aber die ethische Verbindlichkeit zu Zwecken, deren es mehrere geben kann, nur eine weite ist, weil sie da bloß ein Gesetz für die Maxime der Handlungen enthält und der Zweck die Materie (Objekt) der Willkür ist, so gibt es viele, nach Verschiedenheit des gesetzlichen Zwecks verschiedene, Pflichten, welche Tugendpflichten (officia honestatis) genannt werden; eben darum, weil sie bloß dem freien Selbstzwange, nicht dem anderer Menschen, unterworfen sind und die den Zweck bestimmen, der zugleich Pflicht ist.

Die Tugend, als die in der festen Gesinnung gegründete Übereinstimmung des Willens mit jeder Pflicht, ist, wie alles Formale, bloß eine und dieselbe. Aber in Ansehung des Zwecks der Handlungen, der zugleich Pflicht ist, d.i. desjenigen (des Materiale), was man sich zum Zwecke machen soll, kann es mehr Tugenden geben und die Verbindlichkeit zu der Maxime desselben heißt Tugendpflicht, deren es also viele gibt.

Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist: handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann. – Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als andern Zweck und es ist nicht genug, daß er weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht.

Dieser Grundsatz der Tugendlehre verstattet, als ein kategorischer Imperativ, keinen Beweis, aber wohl eine Deduktion aus der reinen praktischen Vernunft. – Was im Verhältnis der Menschen, zu sich selbst und anderen, Zweck sein kann, das ist Zweck vor der reinen praktischen Vernunft, denn sie ist ein Vermögen der Zwecke überhaupt; in Ansehung derselben indifferent sein, d.i. kein Interesse daran zu nehmen, ist also ein Widerspruch; weil sie alsdann auch nicht die Maximen zu Handlungen (als welche letztere jederzeit einen Zweck enthalten) bestimmen, mithin keine praktische Vernunft sein würde. Die reine Vernunft aber[526] kann a priori keine Zwecke gebieten, als nur so fern sie solche zugleich als Pflicht ankündigt; welche Pflicht alsdann Tugendpflicht heißt.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 525-527.
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