X. Das oberste Prinzip der Rechtslehre war analytisch; das der Tugendlehre ist synthetisch

[527] Daß der äußere Zwang, so fern dieser ein dem Hindernisse der nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden äußeren Freiheit entgegengesetzter Widerstand (ein Hindernis des Hindernisses derselben) ist, mit Zwecken überhaupt zusammen bestehen könne, ist, nach dem Satz des Widerspruchs, klar und ich darf nicht über den Begriff der Freiheit hinausgehen, um ihn einzusehen; der Zweck, den ein jeder hat, mag sein welcher er wolle. – Also ist das oberste Rechtsprinzip ein analytischer Satz.

Dagegen geht das Prinzip der Tugendlehre über den Begriff der äußern Freiheit hinaus und verknüpft nach allgemeinen Gesetzen mit demselben noch einen Zweck, den es zur Pflicht macht. Dieses Prinzip ist also synthetisch. – Die Möglichkeit desselben ist in der Deduktion (§ IX) enthalten.

Diese Erweiterung des Pflichtbegriffs über den der äußeren Freiheit und der Einschränkung derselben durch das bloße Förmliche ihrer durchgängigen Zusammenstimmung, wo die innere Freiheit, statt des Zwanges von außen, das Vermögen des Selbstzwanges und zwar nicht vermittelst anderer Neigungen, sondern durch reine praktische Vernunft (welche alle diese Vermittelung verschmäht), aufgestellt wird, besteht darin und erhebt sich dadurch über die Rechtspflicht: daß durch sie Zwecke aufgestellet werden, von denen überhaupt das Recht abstrahiert. – Im moralischen Imperativ, und der notwendigen Voraussetzung der Freiheit zum Behuf desselben, machen: das Gesetz, das Vermögen (es zu erfüllen) und der die Maxime bestimmende Wille alle Elemente aus, welche den Begriff der Rechtspflicht bilden. Aber in demjenigen, welcher die Tugendpflicht[527] gebietet, kommt, noch über den Begriff eines Selbstzwanges, der eines Zwecks dazu, nicht den wir haben, sondern haben sollen, den also die reine praktische Vernunft in sich hat, deren höchster, unbedingter Zweck (der aber doch immer noch Pflicht ist) darin gesetzt wird: daß die Tugend ihr eigener Zweck und, bei dem Verdienst, das sie um den Menschen hat, auch ihr eigener Lohn sei. (Wobei sie, als Ideal, so glänzt, daß sie nach menschlichem Augenmaß die Heiligkeit selbst, die zur Übertretung nie versucht wird, zu verdunkeln scheint;16 welches gleichwohl eine Täuschung ist, da, weil wir kein Maß für den Grad einer Stärke, als die Größe der Hindernisse haben, die da haben überwunden werden können (welche in uns die Neigungen sind ), wir die subjektive Bedingungen der Schätzung einer Größe für die objektive der Größe an sich selbst zu halten verleitet werden.) Aber mit menschlichen Zwecken, die insgesamt ihre zu bekämpfenden Hindernisse haben, verglichen, hat es seine Richtigkeit, daß der Wert der Tugend selbst, als ihres eigenen Zwecks, den Wert alles Nutzens und aller empirischen Zwecke und Vorteile weit überwiege, die sie zu ihrer Folge immerhin haben mag.

Man kann auch gar wohl sagen: der Mensch sei zur Tugend (als einer moralischen Stärke) verbunden. Denn obgleich das Vermögen (facultas) der Überwindung aller sinnlich entgegenwirkenden Antriebe, seiner Freiheit halber, schlechthin vorausgesetzt werden kann und muß: so ist doch dieses Vermögen als Stärke (robur) etwas, was erworben werden muß, dadurch, daß die moralische Triebfeder (die Vorstellung des Gesetzes) durch Betrachtung (contemplatione) der Würde des reinen Vernunftgesetzes in uns, zugleich aber auch durch Übung (exercitio) erhoben wird.[528]

16

Der Mensch mit seinen Mängeln

Ist besser als das Heer von willenlosen Engeln. Haller.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 527-529.
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