XII. Ästhetische Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüts für Pflichtbegriffe überhaupt

[530] Es sind solche moralische Beschaffenheiten, die, wenn man sie nicht besitzt, es auch keine Pflicht geben kann, sich in ihren Besitz zu setzen. – Sie sind das moralische Gefühl, das Gewissen, die Liebe des Nächsten und die Achtung für sich selbst (Selbstschätzung), welche zu haben es keine Verbindlichkeit gibt; weil sie als subjektive Bedingungen der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff, nicht als objektive Bedingungen der Moralität zum Grunde liegen. Sie sind insgesamt ästhetisch und vorhergehende, aber natürliche Gemütsanlagen (praedispositio), durch Pflichtbegriffe affiziert zu werden; welche Anlagen zu haben nicht als Pflicht angesehen werden kann, sondern die jeder Mensch hat und kraft deren er verpflichtet werden kann. – Das Bewußtsein derselben ist nicht empirischen Ursprungs, sondern kann nur auf das eines moralischen Gesetzes, als Wirkung desselben aufs Gemüt, folgen.




a. Das moralische Gefühl

Dieses ist die Empfänglichkeit für Lust oder Unlust, bloß aus dem Bewußtsein der Übereinstimmung oder des Widerstreits unserer Handlung mit dem Pflichtgesetze. Alle Bestimmung der Willkür aber geht von der Vorstellung der möglichen Handlung durch das Gefühl der Lust oder Unlust, an ihr oder ihrer Wirkung ein Interesse zu nehmen, zur Tat; wo der ästhetische Zustand (der Affizierung des inneren Sinnes) nun entweder ein pathologisches oder moralisches Gefühl ist. – Das erstere ist dasjenige Gefühl, welches vor der Vorstellung des Gesetzes vorhergeht, das letztere das, was nur auf diese folgen kann.

Nun kann es keine Pflicht geben, ein moralisches Gefühl zu haben, oder sich ein solches zu erwerben; denn alles Bewußtsein der Verbindlichkeit legt dieses Gefühl zum Grunde, um sich der Nötigung, die im Pflichtbegriffe liegt, bewußt zu werden: sondern ein jeder Mensch (als ein moralisches[530] Wesen) hat es ursprünglich in sich; die Verbindlichkeit aber kann nur darauf gehen, es zu kultivieren und, selbst durch die Bewunderung seines unerforschlichen Ursprungs, zu verstärken: welches dadurch geschieht, daß gezeigt wird, wie es, abgesondert von allem pathologischen Reize und in seiner Reinigkeit, durch bloße Vernunft vorstellung eben am stärksten erregt wird.

Dieses Gefühl einen moralischen Sinn zu nennen ist nicht schicklich; denn unter dem Wort Sinn wird gemeiniglich ein theoretisches, auf einen Gegenstand bezogenes Wahrnehmungsvermögen verstanden: dahin gegen das moralische Gefühl (wie Lust und Unlust überhaupt) etwas bloß Subjektives ist, was kein Erkenntnis abgibt. – Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch; denn, bei völliger Unempfänglichkeit für diese Empfindung, wäre er sittlich tot und, wenn (um in der Sprache der Ärzte zu reden) die sittliche Lebenskraft keinen Reiz mehr auf dieses Gefühl bewirken könnte, so würde sich die Menschheit (gleichsam nach chemischen Gesetzen) in die bloße Tierheit auflösen und mit der Masse anderer Naturwesen unwiederbringlich vermischt werden. – Wir haben aber für das (sittlich-) Gute und Böse eben so wenig einen besonderen Sinn, als wir einen solchen für die Wahrheit haben, ob man sich gleich oft so ausdrückt, sondern Empfänglichkeit der freien Willkür für die Bewegung derselben durch praktische reine Vernunft (und ihr Gesetz), und das ist es, was wir das moralische Gefühl nennen.




b. Vom Gewissen

Eben so ist das Gewissen nicht etwas Erwerbliches und es gibt keine Pflicht, sich eines anzuschaffen; sondern jeder Mensch, als sittliches Wesen, hat ein solches ursprünglich in sich. Zum Gewissen verbunden zu sein, würde so viel sagen als: die Pflicht auf sich haben, Pflichten anzuerkennen. Denn Gewissen ist die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen oder Verurteilen vorhaltende praktische Vernunft. Seine Beziehung[531] also ist nicht die auf ein Objekt, sondern bloß aufs Subjekt (das moralische Gefühl durch ihren Akt zu affizieren); also eine unausbleibliche Tatsache, nicht eine Obliegenheit und Pflicht. Wenn man daher sagt: Dieser Mensch hat kein Gewissen, so meint man damit: er kehrt sich nicht an den Ausspruch desselben. Denn hätte er wirklich keines, so würde er sich auch nichts als pflichtmäßig zurechnen, oder als pflichtwidrig vorwerfen, mithin auch selbst die Pflicht, ein Gewissen zu haben, sich gar nicht denken können.

Die mancherlei Einteilungen des Gewissens gehe ich noch hier vorbei und bemerke nur, was aus dem eben Angeführten folgt: daß nämlich ein irrendes Gewissen ein Unding sei. Denn in dem objektiven Urteile, ob etwas Pflicht sei oder nicht, kann man wohl bisweilen irren; aber im subjektiven, ob ich es mit meiner praktischen (hier richtenden) Vernunft zum Behuf jenes Urteils verglichen habe, kann ich nicht irren, weil ich alsdann praktisch gar nicht geurteilt haben würde: in welchem Fall weder Irrtum noch Wahrheit statt hat. Gewissenlosigkeit ist nicht Mangel des Gewissens, sondern Hang, sich an dessen Urteil nicht zu kehren. Wenn aber jemand sich bewußt ist, nach Gewissen gehandelt zu haben, so kann von ihm, was Schuld oder Unschuld betrifft, nichts mehr verlangt werden. Es liegt ihm nur ob, seinen Verstand über das, was Pflicht ist oder nicht, aufzuklären; wenn es aber zur Tat kommt oder gekommen ist, so spricht das Gewissen unwillkürlich und unvermeidlich. Nach Gewissen zu handeln kann also selbst nicht Pflicht sein, weil es sonst noch ein zweites Gewissen geben müßte, um sich des Akts des ersteren bewußt zu werden.

Die Pflicht ist hier nur, sein Gewissen zu kultivieren, die Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen und alle Mittel anzuwenden (mithin nur indirekte Pflicht), um ihm Gehör zu verschaffen.




c. Von der Menschenliebe

Liebe ist eine Sache der Empfindung, nicht des Wollens, und ich kann nicht lieben weil ich will, noch weniger[532] aber weil ich soll (zur Liebe genötigt werden); mithin ist eine Pflicht zu lieben ein Unding. Wohlwollen (amor benevolentiae) aber kann, als ein Tun, einem Pflichtgesetz unterworfen sein. Man nennt aber oftmals ein uneigennütziges Wohlwollen gegen Menschen auch (obzwar sehr uneigentlich) Liebe: ja, wo es nicht um des andern Glückseligkeit, sondern die gänzliche und freie Ergebung aller seiner Zwecke in die Zwecke eines anderen (selbst eines übermenschlichen) Wesens zu tun ist, spricht man von Liebe, die zugleich für uns Pflicht sei. Aber alle Pflicht ist Nötigung, ein Zwang, wenn er auch ein Selbstzwang nach einem Gesetz sein sollte. Was man aber aus Zwang tut, das geschieht nicht aus Liebe.

Anderen Menschen nach unserem Vermögen wohlzutun ist Pflicht, man mag sie lieben oder nicht, und diese Pflicht verliert nichts an ihrem Gewicht, wenn man gleich die traurige Bemerkung machen müßte, daß unsere Gattung, leider! dazu nicht geeignet ist, daß, wenn man sie näher kennt, sie sonderlich liebenswürdig befunden werden dürfte. – Menschenhaß aber ist jederzeit häßlich, wenn er auch, ohne tätige Anfeindung, bloß in der gänzlichen Abkehrung von Menschen (der separatistischen Misanthropie) bestände. Denn das Wohlwollen bleibt immer Pflicht, selbst gegen den Menschenhasser, den man freilich nicht lieben, aber ihm doch Gutes erweisen kann.

Das Laster aber am Menschen zu hassen ist weder Pflicht noch pflichtwidrig, sondern ein bloßes Gefühl des Abscheues vor demselben, ohne daß der Wille darauf, oder umgekehrt dieses Gefühl auf den Willen, einigen Einfluß hätte. Wohltun ist Pflicht. Wer diese oft ausübt und es gelingt ihm mit seiner wohltätigen Absicht, kommt endlich wohl gar dahin, den, welchem er wohl getan hat, wirklich zu lieben. Wenn es also heißt: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst, so heißt das nicht: du sollst unmittelbar (zuerst) lieben und vermittelst dieser Liebe (nachher) wohltun, sondern: tue deinem Nebenmenschen wohl, und dieses Wohltun wird Menschenliebe (als Fertigkeit der Neigung zum Wohltun überhaupt) in dir bewirken![533]

Die Liebe des Wohlgefallens (amor complacentiae) würde also allein direkt sein. Zu dieser aber (als einer unmittelbar mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbundenen Lust, eine Pflicht zu haben) d.i. zur Lust woran genötigt werden zu müssen, ist ein Widerspruch.


d. Von der Achtung

Achtung (reverentia) ist eben sowohl etwas bloß Subjektives; ein Gefühl eigener Art, nicht ein Urteil über einen Gegenstand, den zu bewirken, oder zu befördern, es eine Pflicht gäbe. Denn sie könnte, als Pflicht betrachtet, nur durch die Achtung, die wir vor ihr haben, vorgestellt werden. Zu dieser also eine Pflicht zu haben würde so viel sagen, als zur Pflicht verpflichtet werden. – Wenn es demnach heißt: Der Mensch hat eine Pflicht der Selbstschätzung, so ist das unrichtig gesagt und es müßte vielmehr heißen: das Gesetz in ihm zwingt ihm unvermeidlich Achtung für sein eigenes Wesen ab und dieses Gefühl (welches von eigner Art ist) ist ein Grund gewisser Pflichten, d.i. gewisser Handlungen, die mit der Pflicht gegen sich selbst zusammen bestehen können, nicht: er habe eine Pflicht der Achtung gegen sich; denn er muß Achtung vor dem Gesetz in sich selbst haben, um sich nur eine Pflicht überhaupt denken zu können.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 530-534.
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