Zweiter Abschnitt.
Von dem ersten Gebot aller Pflichten gegen sich selbst
§ 14

[576] Dieses ist: Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst nicht nach deiner physischen Vollkommenheit (der Tauglichkeit oder Untauglichkeit zu allerlei dir beliebigen oder auch gebotenen Zwecke), sondern nach der moralischen, in Beziehung auf deine Pflicht – dein Herz – ob es gut oder böse sei, ob die Quelle deiner Handlungen lauter oder unlauter, und was, entweder als ursprünglich zur Substanz des Menschen gehörend, oder, als abgeleitet (erworben oder zugezogen) ihm selbst zugerechnet werden kann und zum moralischen Zustande gehören mag.

Das moralische Selbsterkenntnis, das in die schwerer zu ergründende Tiefen (Abgrund) des Herzens zu dringen verlangt, ist aller menschlichen Weisheit Anfang. Denn die letztere, welche in der Zusammenstimmung des Willens eines Wesen zum Endzweck besteht, bedarf beim Menschen zu allererst die Wegräumung der inneren Hindernisse (eines bösen in ihm genistelten Willens), und dann, die Entwickelung der nie verlierbaren ursprünglichen Anlage eines guten Willens in ihm zu entwickeln (nur die Höllenfahrt des Selbsterkenntnisses bahnt den Weg zur Vergötterung).


§ 15

[576] Dieses moralische Selbsterkenntnis wird erstlich die schwärmerische Verachtung seiner selbst, als Mensch (seiner ganzen Gattung) überhaupt, verbannen; denn sie widerspricht sich selbst. – Es kann ja nur durch die herrliche in uns befindliche Anlage zum Guten, welche den Menschen achtungswürdig macht, geschehen, daß er den Menschen, der dieser zuwider handelt (sich selbst, aber nicht die Menschheit in sich), verachtungswürdig findet. – Dann aber widersteht sie auch der eigenliebigen Selbstschätzung, bloße Wünsche, wenn sie mit noch so großer Sehnsucht geschähen, da sie an sich doch tatleer sind und bleiben, für Beweise eines guten Herzens zu halten (Gebet ist auch nur ein innerlich vor einem Herzenskündiger deklarierter Wunsch). Unparteilichkeit, in Beurteilung unserer selbst, in Vergleichung mit dem Gesetz und Aufrichtigkeit im Selbstgeständnisse seines inneren moralischen Werts oder Unwerts sind Pflichten gegen sich selbst, die aus jenem ersten Gebot der Selbsterkenntnis unmittelbar folgen.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 576-577.
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