Episodischer Abschnitt. Von der Amphibolie der moralischen Reflexionsbegriffe: das, was Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist, für Pflicht gegen andere zu halten
§ 16

[577] Nach der bloßen Vernunft zu urteilen hat der Mensch sonst keine Pflicht, als bloß gegen den Menschen (sich selbst oder einen anderen); denn seine Pflicht gegen irgend ein Subjekt ist die moralische Nötigung durch dieses seinen Willen. Das nötigende (verpflichtende) Subjekt muß also erstlich eine Person sein, zweitens muß diese Person als Gegenstand der Erfahrung gegeben sein; weil der Mensch auf den Zweck ihres Willens hinwirken soll, welches nur in dem Verhältnisse zweier existierender Wesen zu einander[577] geschehen kann (denn ein bloßes Gedankending kann nicht Ursache von irgend einem Erfolg nach Zwecken werden). Nun kennen wir aber, mit aller unserer Erfahrung, kein anderes Wesen, was der Verpflichtung (der aktiven oder passiven) fähig wäre, als bloß den Menschen. Also kann der Mensch sonst keine Pflicht gegen irgend ein Wesen haben, als bloß gegen den Menschen, und, stellt er sich gleichwohl eine solche zu haben vor, so geschieht dieses durch eine Amphibolie der Reflexionsbegriffe und seine vermeinte Pflicht gegen andere Wesen ist bloß Pflicht gegen sich selbst; zu welchem Mißverstande er dadurch verleitet wird, daß er seine Pflicht in Ansehung anderer Wesen für Pflicht gegen diese Wesen verwechselt.

Diese vermeinte Pflicht kann nun auf unpersönliche, oder zwar persönliche aber schlechterdings unsichtbare (den äußeren Sinnen nicht darzustellende) Gegenstände bezogen werden. – Die erstere (außermenschliche) können der bloße Naturstoff, oder der zur Fortpflanzung organisierte, aber empfindungslose, oder der mit Empfindung und Willkür begabte Teil der Natur (Mineralien, Pflanzen, Tiere) sein; die zweite (übermenschliche) können als geistige Wesen (Engel, Gott) gedacht werden. – Ob zwischen Wesen beider Art und den Menschen ein Pflichtverhältnis, und welches dazwischen statt finde, wird nun gefragt.




§ 17

In Ansehung des Schönen obgleich Leblosen in der Natur ist ein Hang zum bloßen Zerstören (spiritus destructionis) der Pflicht des Menschen gegen sich selbst zuwider; weil es dasjenige Gefühl im Menschen schwächt oder vertilgt, was zwar nicht für sich allein schon moralisch ist, aber doch diejenige Stimmung der Sinnlichkeit, welche die Moralität sehr befördert, wenigstens dazu vorbereitet, nämlich etwas auch ohne Absicht auf Nutzen zu lieben (z.B. die schöne Kristallisationen, das unbeschreiblich Schöne des Gewächsreichs).

In Ansehung des lebenden, obgleich vernunftlosen Teils der Geschöpfe ist die Pflicht der Enthaltung von gewaltsamer[578] und zugleich grausamer Behandlung der Tiere der Pflicht des Menschen gegen sich selbst weit inniglicher entgegengesetzt, weil dadurch das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abgestumpft und dadurch eine der Moralität, im Verhältnisse zu anderen Menschen, sehr diensame natürliche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt wird; obgleich ihre behende (ohne Qual verrichtete) Tötung, oder auch ihre, nur nicht bis über Vermögen angestrengte, Arbeit (dergleichen auch wohl Menschen sich gefallen lassen müssen) unter die Befugnisse des Menschen gehören; da hingegen die martervolle physische Versuche, zum bloßen Behuf der Spekulation, wenn auch ohne sie der Zweck erreicht werden könnte, zu verabscheuen sind. – Selbst Dankbarkeit für lang geleistete Dienste eines alten Pferdes oder Hundes (gleich als ob sie Hausgenossen wären) gehört indirekt zur Pflicht des Menschen, nämlich in Ansehung dieser Tiere, direkt aber betrachtet ist sie immer nur Pflicht des Menschen gegen sich selbst.


§ 18

In Ansehung dessen, was ganz über unsere Erfahrungsgrenze hinaus liegt, aber doch seiner Möglichkeit nach in unseren Ideen angetroffen wird, z.B. der Idee von Gott, haben wir eben so wohl auch eine Pflicht, welche Religionspflicht genannt wird, die nämlich »der Erkenntnis aller unserer Pflichten als (instar) göttlicher Gebote«. Aber dieses ist nicht das Bewußtsein einer Pflicht gegen Gott. Denn, da diese Idee ganz aus unserer eigenen Vernunft hervorgeht, und von uns, es sei in theoretischer Absicht, um sich die Zweckmäßigkeit im Weltganzen zu erklären, oder auch, um zur Triebfeder in unserem Verhalten zu dienen, von uns selbst gemacht wird, so haben wir hiebei nicht ein gegebenes Wesen vor uns, gegen welches uns Verpflichtung obläge: denn da müßte dessen Wirklichkeit allererst durch Erfahrung bewiesen (geoffenbart) sein; sondern es ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst, diese unumgänglich der Vernunft[579] sich darbietende Idee auf das moralische Gesetz in uns, wo es von der größten sittlichen Fruchtbarkeit ist, anzuwenden. In diesem (praktischen) Sinn kann es also so lauten: Religion zu haben ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 577-580.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Metaphysik der Sitten
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
Die Metaphysik der Sitten
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (suhrkamp studienbibliothek)
Werkausgabe in 12 Bänden: VII: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Immanuel Kant Werkausgabe Band VIII: Die Metaphysik der Sitten