§ 1. Vom allgemeinen subjektiven Grunde des Religionswahnes

[839] Der Anthropomorphism, der, in der theoretischen Vorstellung von Gott und seinem Wesen, den Menschen kaum zu vermeiden, übrigens aber doch (wenn er nur nicht auf Pflichtbegriffe einfließt) auch unschuldig genug ist, der ist in Ansehung unsers praktischen Verhältnisses zu seinem Willen und für unsere Moralität selbst höchst gefährlich; denn da machen wir uns einen Gott,64 wie wir ihn am leichtesten[839] zu unserem Vorteil gewinnen zu können, und der beschwerlichen ununterbrochenen Bemühung, auf das Innerste unsrer moralischen Gesinnung zu wirken, überhoben zu werden glauben. Der Grundsatz, den der Mensch sich für dieses Verhältnis gewöhnlich macht, ist: daß durch alles, was wir lediglich darum tun, um der Gottheit wohl zu gefallen (wenn es nur nicht eben der Moralität geradezu widerstreitet, ob es gleich dazu nicht das mindeste beiträgt), wir Gott unsere Dienstwilligkeit als gehorsame und eben darum wohlgefällige Untertanen beweisen, also auch Gott (in potentia) dienen. – Es dürfen nicht immer Aufopferungen sein, dadurch der Mensch diesen Dienst Gottes zu verrichten glaubt: auch Feierlichkeiten, selbst öffentliche Spiele, wie bei Griechen und Römern, haben oft dazu dienen müssen, und dienen noch dazu, um die Gottheit einem Volke, oder auch den einzelnen Menschen ihrem Wahne nach günstig zu machen. Doch sind die ersteren (die Büßungen, Kasteiungen, Wallfahrten u. d. g.) jederzeit für kräftiger, auf die Gunst des Himmels wirksamer und zur Entsündigung tauglicher gehalten worden, weil sie die unbegrenzte (obgleich nicht moralische) Unterwerfung unter seinem Willen stärker zu bezeichnen dienen. Je unnützer solche Selbstpeinigungen sind, je weniger sie auf die allgemeine moralische Besserung des Menschen abgezweckt sind, desto heiliger scheinen sie zu sein; weil sie eben darum, daß sie in der Welt zu gar nichts nutzen, aber doch Mühe kosten, lediglich zur Bezeugung der Ergebenheit gegen Gott abgezweckt zu sein scheinen. – Obgleich, sagt man, Gott hierbei durch die Tat in keiner Absicht gedient worden ist: so sieht er doch hierin den guten Willen, das Herz, an, welches zwar zur Befolgung seiner moralischen Gebote zu schwach ist, aber durch seine hierzu bezeugte Bereitwilligkeit diese Ermangelung[840] wieder gut macht. Hier ist nun der Hang zu einem Verfahren sichtbar, das für sich keinen moralischen Wert hat, als etwa nur als Mittel, das sinnliche Vorstellungsvermögen zur Begleitung intellektueller Ideen des Zwecks zu erhöhen, oder um, wenn es den letztern etwa zuwider wirken könnte, es niederzudrücken;65 diesem Verfahren legen wir doch in unserer Meinung den Wert des Zwecks selbst, oder, welches eben so viel ist, wir legen der Stimmung des Gemüts zur Empfänglichkeit Gott ergebener Gesinnungen (Andacht genannt) den Wert der letztern bei; welches Verfahren mithin ein bloßer Religionswahn ist, der allerlei Formen annehmen kann, in deren einer er der moralischen ähnlicher sieht, als in der andern, der aber in allen nicht eine bloß unvorsätzliche Täuschung, sondern sogar eine Maxime ist, dem Mittel einen Wert an sich statt des Zwecks beizulegen, da denn vermöge der letztern dieser Wahn unter allen diesen Formen gleich ungereimt und als verborgene Betrugsneigung verwerflich ist.[841]

64

Es klingt zwar bedenklich, ist aber keinesweges verwerflich, zu sagen: daß ein jeder Mensch sich einen Gott mache, ja nach moralischen Begriffen (begleitet mit denen unendlich-großen Eigenschaften, die zu dem Vermögen gehören, an der Welt einen jenen angemessenen Gegenstand darzustellen) sich einen solchen selbst machen müsse, um an ihm den, der ihn gemacht hat, zu verehren. Denn auf welcherlei Art auch ein Wesen als Gott von einem anderen bekannt gemacht und beschrieben worden, ja ihm ein solches auch (wenn das möglich ist) selbst erscheinen möchte, so muß er diese Verstellung doch allererst mit seinem Ideal zusammen halten, um zu urteilen, ob er befugt sei, es für eine Gottheit zu halten und zu verehren. Aus bloßer Offenbarung, ohne jenen Begriff vorher in seiner Reinigkeit, als Probierstein, zum Grunde zu legen, kann es also keine Religion geben und alle Gottesverehrung würde Idololatrie sein.

65

Für diejenigen, welche allenthalben, wo die Unterscheidungen des Sinnlichen vom Intellektuellen ihnen nicht so geläufig sind. Widersprüche der Kritik der reinen Vernunft mit ihr selbst anzutreffen glauben, merke ich hier an, daß, wenn von sinnlichen Mitteln, das Intellektuelle (der reinen moralischen Gesinnung) zu befördern, oder von dem Hindernisse, welches die erstere dem letzteren entgegen stellen, geredet wird, dieser Einfluß zweier so ungleichartigen Prinzipien niemals als direkt gedacht werden müsse. Nämlich als Sinnenwesen können wir an den Erscheinungen des intellektuellen Prinzips, d.i. der Bestimmung unserer physischen Kräfte durch freie Willkür, die sich in Handlungen hervortut, dem Gesetz entgegen, oder ihm zu Gunsten wirken: so, daß Ursache und Wirkung als in der Tat gleichartig vorgestellt werde. Was aber das Übersinnliche (das subjektive Prinzip der Moralität in uns, was in der unbegreiflichen Eigenschaft der Freiheit verschlossen liegt), z. B, die reine Religionsgesinnung betrifft, von dieser sehen wir außer ihrem Gesetze (welches aber auch schon genug ist) nichts, das Verhältnis der Ursache und Wirkung im Menschen Betreffendes ein, d.i. wir können uns die Möglichkeit der Handlungen als Begebenheiten in der Sinnenwelt aus der moralischen Beschaffenheit des Menschen, als ihnen imputabel, nicht erklären, eben darum, weil es freie Handlungen sind, die Erklärungsgründe aber aller Begebenheiten aus der Sinnenwelt hergenommen werden müssen.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 839-842.
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