§ 2. Das dem Religionswahne entgegengesetzte moralische Prinzip der Religion

[842] Ich nehme erstlich folgenden Satz, als einen keines Beweises benötigten Grundsatz an: alles, was, außer dem guten Lebenswandel, der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes. – Ich sage, was der Mensch tun zu können glaubt; denn, ob nicht über alles, was wir tun können, noch in den Geheimnissen der höchsten Weisheit etwas sein möge, was nur Gott tun kann, um uns zu ihm wohlgefälligen Menschen zu machen, wird hierdurch nicht verneinet. Aber, wenn die Kirche ein solches Geheimnis etwa als offenbart verkündigen sollte, so wird doch die Meinung, daß diese Offenbarung, wie sie uns die heilige Geschichte erzählt, zu glauben, und sie (es sei innerlich oder äußerlich) zu bekennen, an sich etwas sei, dadurch wir uns Gott wohlgefällig machen, ein gefährlicher Religionswahn sein. Denn dieses Glauben ist, als inneres Bekenntnis seines festen Fürwahrhaltens, so wahrhaftig ein Tun, das durch Furcht abgezwungen wird, daß ein aufrichtiger Mensch eher jede andere Bedingung als diese eingehen möchte, weil er bei allen andern Frondiensten allenfalls nur etwas Überflüssiges, hier aber etwas dem Gewissen in einer Deklaration, von deren Wahrheit er nicht überzeugt ist, Widerstreitendes tun würde. Das Bekenntnis also, wovon er sich überredet, daß es für sich selbst (als Annahme eines ihm angebotenen Guten) ihn Gott wohlgefällig machen könne, ist etwas, was er noch über den guten Lebenswandel in Befolgung der in der Welt auszuübenden moralischen Gesetze tun zu können vermeint, indem er sich mit seinem Dienst geradezu an Gott wendet.

Die Vernunft läßt uns erstlich, in Ansehung des Mangels eigener Gerechtigkeit (die vor Gott gilt), nicht ganz ohne Trost. Sie sagt: daß, wer in einer wahrhaften der Pflicht ergebenen Gesinnung so viel, als in seinem Vermögen steht,[842] tut, um (wenigstens in einer beständigen Annäherung zur vollständigen Angemessenheit mit dem Gesetze) seiner Verbindlichkeit ein Genüge zu leisten, hoffen dürfe, was nicht in seinem Vermögen steht, das werde von der höchsten Weisheit auf irgend eine Weise (welche die Gesinnung dieser beständigen Annäherung unwandelbar machen kann) ergänzt werden, ohne daß sie sich doch anmaßt, die Art zu bestimmen, und zu wissen, worin sie bestehe, welche vielleicht so geheimnisvoll sein kann, daß Gott sie uns höchstens in einer symbolischen Vorstellung, worin das Praktische allein für uns verständlich ist, offenbaren könnte, indessen, daß wir theoretisch, was dieses Verhältnis Gottes zum Menschen an sich sei, gar nicht fassen und Begriffe damit verbinden könnten, wenn er uns ein solches Geheimnis auch entdecken wollte. – Gesetzt nun, eine gewisse Kirche behaupte, die Art, wie Gott jenen moralischen Mangel am menschlichen Geschlecht ergänzt, bestimmt zu wissen, und verurteile zugleich alle Menschen, die jenes der Vernunft natürlicher Weise unbekannte Mittel der Rechtfertigung nicht wissen, darum also auch nicht zum Religionsgrundsatze aufnehmen und bekennen, zur ewigen Verwerfung: wer ist alsdann hier wohl der Ungläubige? der, welcher vertrauet, ohne zu wissen, wie das, was er hofft, zugehe, oder der, welcher diese Art der Erlösung des Menschen vom Bösen durchaus wissen will, widrigenfalls er alle Hoffnung auf dieselbe aufgibt? – Im Grunde ist dem letzteren am Wissen dieses Geheimnisses so viel eben nicht gelegen (denn das lehrt ihn schon seine Vernunft, daß etwas zu wissen, wozu er doch nichts tun kann, ihm ganz unnütz sei); sondern er will es nur wissen, um sich (wenn es auch nur innerlich geschähe) ans dem Glauben, der Annahme, dem Bekenntnisse und der Hochpreisung alles dieses Offenbarten einen Gottesdienst machen zu können, der ihm die Gunst des Himmels vor allem Aufwande seiner eigenen Kräfte zu einem guten Lebenswandel, also ganz umsonst erwerben, den letzteren wohl gar übernatürlicher Weise hervorbringen, oder, wo ihm etwa zuwider gehandelt würde, wenigstens die Übertretung vergüten könne.

[843] Zweitens: wenn der Mensch sich von der obigen Maxime nur im mindesten entfernt: so hat der Afterdienst Gottes (die Superstition) weiter keine Grenzen; denn über jene hinaus ist alles (was nur nicht unmittelbar der Sittlichkeit widerspricht) willkürlich. Von dem Opfer der Lippen an, welches ihm am wenigsten kostet, bis zu dem der Naturgüter, die sonst zum Vorteil der Menschen wohl besser benutzt werden könnten, ja bis zu der Aufopferung seiner eigenen Person, indem er sich (im Eremiten-, Fakir- oder Mönchsstande) für die Welt verloren macht, bringt er alles, nur nicht seine moralische Gesinnung Gott dar; und wenn er sagt, er brächte ihm auch sein Herz, so versteht er darunter nicht die Gesinnung eines ihm wohlgefälligen Lebenswandels, sondern einen herzlichen Wunsch, daß jene Opfer für die letztere Zahlung möchten aufgenommen werden (natio gratis anhelans, multa agendo nihil agens. Phaedrus).

Endlich, wenn man einmal zur Maxime eines vermeintlich Gott für sich selbst wohlgefälligen, ihn auch nötigenfalls versöhnenden, aber nicht rein moralischen Dienstes übergegangen ist, so ist in der Art, ihm gleichsam mechanisch zu dienen, kein wesentlicher Unterschied, welcher der einen vor der andern einen Vorzug gebe. Sie sind alle, dem Wert (oder vielmehr Unwert) nach, einerlei, und es ist bloße Ziererei, sich durch feinere Abweichung vom alleinigen intellektuellen Prinzip der echten Gottesverehrung für auserlesener zu halten, als die, welche sich eine vorgeblich gröbere Herabsetzung zur Sinnlichkeit zu Schulden kommen lassen. Ob der Andächtler seinen statutenmäßigen Gang zur Kirche, oder ob er eine Wallfahrt nach den Heiligtümern in Loretto oder Palästina anstellt, ob er seine Gebetsformeln mit den Lippen, oder, wie der Tibetaner (welcher glaubt, daß diese Wünsche, auch schriftlich aufgesetzt, wenn sie nur durch irgend etwas, z.B., auf Flaggen geschrieben, durch den Wind, oder, in einer Büchse eingeschlossen, als eine Schwungmaschine mit der Hand bewegt[844] werden, ihren Zweck eben so gut erreichen), es durch ein Gebet-Rad an die himmlische Behörde bringt, oder was für ein Surrogat des moralischen Dienstes Gottes es auch immer sein mag, das ist alles einerlei und von gleichem Wert. – Es kömmt hier nicht sowohl auf den Unterschied in der äußern Form, sondern alles auf die Annehmung oder Verfassung des alleinigen Prinzips an, Gott entweder nur durch moralische Gesinnung, so fern sie sich in Handlungen, als ihrer Erscheinung, als lebendig darstellt, oder durch frommes Spielwerk und Nichtstuerei wohlgefällig zu werden.66 Gibt es aber nicht etwa auch einen sich über die Grenzen des menschlichen Vermögens erhebenden schwindligen Tugendwahn, der wohl mit dem kriechenden Religionswahn in die allgemeine Klasse der Selbsttäuschungen gezählt werden könnte? Nein, die Tugendgesinnung beschäftigt sich mit etwas Wirklichem, was für sich selbst Gott wohlgefällig ist, und zum Weltbesten zusammenstimmt. Zwar kann sich dazu ein Wahn des Eigendünkels gesellen, der Idee seiner heiligen Pflicht sich für adäquat zu halten; das ist aber nur zufällig. In ihr aber den höchsten Wert zu setzen, ist kein Wahn, wie etwa der in kirchlichen Andachtsübungen, sondern barer zum Weltbesten hinwirkender Beitrag.

Es ist überdem ein (wenigstens kirchlicher) Gebrauch, das, was vermöge des Tugendprinzips von Menschen getan werden kann, Natur, was aber nur den Mangel alles seines moralischen Vermögens zu ergänzen dient, und, weil dessen Zulänglichkeit auch für uns Pflicht ist, nur gewünscht oder auch gehofft, und erbeten werden kann, Gnade zu nennen, beide zusammen als wirkende Ursachen einer zum Gott[845] wohlgefälligen Lebenswandel zureichenden Gesinnung anzusehen, sie aber auch nicht bloß von einander zu unterscheiden, sondern einander wohl gar entgegen zu setzen.

Die Überredung, Wirkungen der Gnade von denen der Natur (der Tugend) unterscheiden, oder die letztern wohl gar in sich hervorbringen zu können, ist Schwärmerei; denn wir können weder einen übersinnlichen Gegenstand in der Erfahrung irgendworan kennen, noch weniger auf ihn Einfluß haben, um ihn zu uns herabzuziehen, wenn gleich sich im Gemüt bisweilen aufs Moralische hinwirkende Bewegungen ereignen, die man sich nicht erklären kann, und von denen unsere Unwissenheit zu gestehen genötigt ist: »der Wind wehet, wohin er will, aber du weißt nicht, woher er kömmt u.s.w.« Himmlische Einflüsse in sich wahrnehmen zu wollen, ist eine Art Wahnsinn, in welchem wohl gar auch Methode sein kann (weil sich jene vermeinte innere Offenbarungen doch immer an moralische, mithin an Vernunftideen anschließen müssen), der aber immer doch eine der Religion nachteilige Selbsttäuschung bleibt. Zu glauben, daß es Gnadenwirkungen geben könne, und vielleicht zu Ergänzung der Unvollkommenheit unserer Tugendbestrebung auch geben müsse, ist alles, was wir davon sagen können; übrigens sind wir unvermögend, etwas in Ansehung ihrer Kennzeichen zu bestimmen, noch mehr aber, zur Hervorbringung derselben etwas zu tun.

Der Wahn, durch religiöse Handlungen des Cultus etwas in Ansehung der Rechtfertigung vor Gott auszurichten, ist der religiöse Aberglaube; so wie der Wahn, dieses durch Bestrebung zu einem vermeintlichen Umgange mit Gott bewirken zu wollen, die religiöse Schwärmerei. – Es ist abergläubischer Wahn, durch Handlungen, die ein jeder Mensch tun kann, ohne daß er eben ein guter Mensch sein darf, Gott wohlgefällig werden zu wollen (z.B. durch Bekenntnis statutarischer Glaubenssätze, durch Beobachtung kirchlicher Observanz und Zucht u.d.g.). Er wird aber darum abergläubisch genannt, weil er sich bloße Naturmittel (nicht moralische) wählt, die zu dem, was nicht Natur ist (d.i.[846] dem sittlich Guten), für sich schlechterdings nichts wirken können. – Ein Wahn aber heißt schwärmerisch, wo sogar das eingebildete Mittel, als übersinnlich, nicht in dem Vermögen des Menschen ist, ohne noch auf die Unerreichbarkeit des dadurch beabsichtigten übersinnlichen Zwecks zu sehen; denn dieses Gefühl der unmittelbaren Gegenwart des höchsten Wesens und die Unterscheidung desselben von jedem andern, selbst dem moralischen Gefühl, wäre eine Empfänglichkeit einer Anschauung, für die in der menschlichen Natur kein Sinn ist. – Der abergläubische Wahn, weil er ein an sich für manches Subjekt taugliches und diesem zugleich mögliches Mittel, wenigstens den Hindernissen einer Gott wohlgefälligen Gesinnung entgegen zu wirken, enthält, ist doch mit der Vernunft so fern verwandt, und nur zufälliger Weise dadurch, daß er das, was bloß Mittel sein kann, zum unmittelbar Gott wohlgefälligen Gegenstände macht, verwerflich; dagegen ist der schwärmerische Religionswahn der moralische Tod der Vernunft, ohne die doch gar keine Religion, als welche, wie alle Moralität überhaupt, auf Grundsätze gegründet werden muß, statt finden kann.

Der allem Religionswahn abhelfende oder vorbeugende Grundsatz eines Kirchenglaubens ist also: daß dieser neben den statutarischen Sätzen, deren er vorjetzt nicht gänzlich entbehren kann, doch zugleich ein Prinzip in sich enthalten müsse, die Religion des guten Lebenswandels, als das eigentliche Ziel, um jener dereinst gar entbehren zu können, herbeizuführen.

66

Es ist eine psychologische Erscheinung: daß die Anhänger einer Konfession, bei der etwas weniger Statutarisches zu glauben ist, sich dadurch gleichsam veredelt, und als aufgeklärter fühlen, ob sie gleich noch genug davon übrig behalten haben, um eben nicht (wie sie doch wirklich, tun) von ihrer vermeinten. Höhe der Reinigkeit auf ihre Mitbrüder im Kirchenwahne mit Verachtung herabsehen zu dürfen. Die Ursache hievon ist, daß sie sich dadurch, so wenig es auch sei, der reinen moralischen Religion doch etwas genähert finden, ob sie gleich dem Wahne immer noch anhänglich bleiben, sie durch fromme Observanzen, wobei nur weniger passive Vernunft ist, ergänzen zu wollen.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 842-847.
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