§ 3. Vom Pfaffentum67 als einem Regiment im Afterdienst des guten Prinzips

[847] Die Verehrung mächtiger unsichtbarer Wesen, welche dem hülflosen Menschen durch die natürliche auf dem Bewußtsein[847] seines Unvermögens gegründete Furcht abgenötigt wurde, fing nicht sogleich mit einer Religion, sondern von einem knechtischen Gottes-(oder Götzen-) Dienste an, welcher, wenn er eine gewisse öffentlichgesetzliche Form bekommen hatte, ein Tempeldienst, und nur, nachdem mit diesen Gesetzen allmählich die moralische Bildung der Menschen verbunden worden, ein Kirchendienst wurde: denen beiden ein Geschichtsglaube zum Grunde liegt, bis man endlich diesen bloß für provisorisch, und in ihm die symbolische Darstellung und das Mittel der Beförderung eines reinen Religionsglaubens, zu sehen angefangen hat.

Von einem tungusischen Schaman, bis zu dem Kirche und Staat zugleich regierenden europäischen Prälaten, oder (wollen wir statt der Häupter und Anführer nur auf die Glaubensanhänger nach ihrer eignen Vorstellungsart sehen) zwischen dem ganz sinnlichen Wogulitzen, der die Tatze von einem Bärenfell sich des Morgens auf sein Haupt legt, mit dem kurzen Gebet: »Schlag mich nicht tot!« bis zum sublimierten Puritaner und Independenten in Connecticut ist zwar ein mächtiger Abstand in der Manier, aber nicht im Prinzip zu glauben; denn, was dieses betrifft, so gehören sie insgesamt zu einer und derselben Klasse, derer nämlich, die in dem, was an sich keinen bessern Menschen ausmacht (im Glauben gewisser statutarischer Sätze, oder Begehen gewisser willkürlicher Observanzen), ihren Gottesdienst setzen. Diejenigen allein, die ihn lediglich in der Gesinnung eines guten Lebenswandels zu finden gemeint sind, unterscheiden sich von jenen durch den Überschritt zu einem ganz andern und über das erste weit erhabenen Prinzip, demjenigen nämlich, wodurch sie sich zu einer (unsichtbaren) Kirche bekennen, die alle Wohldenkende[848] in sich befaßt, und, ihrer wesentlichen Beschaffenheit nach, allein die wahre allgemeine sein kann.

Die unsichtbare Macht, welche über das Schicksal der Menschen gebietet, zu ihrem Vorteil zu lenken, ist eine Absicht, die sie alle haben; nur, wie das anzufangen sei, darüber denken sie verschieden. Wenn sie jene Macht für ein verständiges Wesen halten, und ihr also einen Willen beilegen, von dem sie ihr Los erwarten, so kann ihr Bestreben nur in der Auswahl der Art bestehen, wie sie, als seinem Willen unterworfene Wesen, durch ihr Tun und Lassen ihm gefällig werden können. Wenn sie es als moralisches Wesen denken, so überzeugen sie sich leicht durch ihre eigene Vernunft, daß die Bedingung, sein Wohlgefallen zu erwerben, ihr moralisch guter Lebenswandel, vornehmlich die reine Gesinnung, als das subjektive Prinzip desselben, sein müsse. Aber das höchste Wesen kann doch auch vielleicht noch überdem auf eine Art gedient sein wollen, die uns durch bloße Vernunft nicht bekannt werden kann, nämlich durch Handlungen, denen für sich selbst wir zwar nichts Moralisches ansehen, die aber doch entweder als von ihm geboten, oder auch nur, um unsere Unterwürfigkeit gegen ihn zu bezeugen, willkürlich von uns unternommen werden; in welchen beiden Verfahrungsarten, wenn sie ein Ganzes systematisch geordneter Beschäftigungen ausmachen, sie also überhaupt einen Dienst Gottes setzen. – Wenn nun beide verbunden sein sollen, so wird entweder jede als unmittelbar, oder eine von beiden nur als Mittel zu der andern, als dem eigentlichen Dienste Gottes, für die Art angenommen werden müssen, Gott wohlzugefallen. Daß der moralische Dienst Gottes (officium liberum) ihm unmittelbar gefalle, leuchtet von selbst ein. Er kann aber nicht für die oberste Bedingung alles Wohlgefallens am Menschen anerkannt werden (welches auch schon im Begriff der Moralität liegt), wenn der Lohndienst (officium mercenarium) als für sich allein Gott wohlgefällig betrachtet werden könnte; denn alsdann würde niemand wissen, welcher Dienst in einem vorkommenden Falle vorzüglicher wäre, um das Urteil über[849] seine Pflicht darnach einzurichten, oder wie sie sich einander ergänzten. Also werden Handlungen, die an sich keinen moralischen Wert haben, nur so fern sie Mittel zur Beförderung dessen, was an Handlungen unmittelbar gut ist (zur Moralität), dienen, d.i. um des moralischen Dienstes Gottes willen, als ihm wohlgefällig angenommen werden müssen.

Der Mensch nun, welcher Handlungen, die für sich selbst nichts Gott Wohlgefälliges (Moralisches) enthalten, doch als Mittel braucht, das göttliche unmittelbare Wohlgefallen an ihm und hiemit die Erfüllung seiner Wünsche zu erwerben, steht in dem Wahn des Besitzes einer Kunst, durch ganz natürliche Mittel eine übernatürliche Wirkung zuwege zu bringen; dergleichen Versuche man das Zaubern zu nennen pflegt, welches Wort wir aber (da es den Nebenbegriff einer Gemeinschaft mit dem bösen Prinzip bei sich führt, dagegen jene Versuche doch auch als übrigens in guter moralischer Absicht aus Mißverstande unternommen gedacht werden können) gegen das sonst bekannte Wort des Fetischmachens austauschen wollen. Eine übernatürliche Wirkung aber eines Menschen würde diejenige sein, die nur dadurch in seinen Gedanken möglich ist, daß er vermeintlich auf Gott wirkt, und sich desselben als Mittels bedient, um eine Wirkung in der Welt hervorzubringen, dazu seine Kräfte, ja nicht einmal seine Einsicht, ob sie auch Gott wohlgefällig sein möchte, für sich nicht zulangen; welches schon in seinem Begriffe eine Ungereimtheit enthält.

Wenn der Mensch aber, außerdem, daß er durch das, was ihn unmittelbar zum Gegenstande des göttlichen Wohlgefallens macht (durch die tätige Gesinnung eines guten Lebenswandels), sich noch überdem vermittelst gewisser Förmlichkeiten der Ergänzung seines Unvermögens durch einen übernatürlichen Beistand würdig zu machen sucht, und in dieser Absicht Observanzen, die zwar keinen unmittelbaren Wert haben, aber doch, zur Beförderung jener moralischen Gesinnung, als Mittel dienen, sich für die Erreichung[850] des Objekts seiner guten moralischen Wünsche bloß empfänglich zu machen meint, so rechnet er zwar, zur Ergänzung seines natürlichen Unvermögens, auf etwas Übernatürliches, aber doch nicht als auf etwas vom Menschen (durch Einfluß auf den göttlichen Willen) Gewirktes, sondern Empfangenes, was er hoffen, aber nicht hervorbringen kann. – Wenn ihm aber Handlungen, die an sich, so viel wir einsehen, nichts Moralisches, Gott Wohlgefälliges enthalten, gleichwohl seiner Meinung nach zu einem Mittel, ja zur Bedingung dienen sollen, die Erhaltung seiner Wünsche unmittelbar von Gott zu erwarten: so muß er in dem Wahne stehen, daß, ob er gleich für dieses Übernatürliche weder ein physisches Vermögen, noch eine moralische Empfänglichkeit hat, er es doch durch natürliche, an sich aber mit der Moralität gar nicht verwandte Handlungen (welche auszuüben es keiner Gott wohlgefälligen Gesinnung bedarf, die der ärgste Mensch also eben sowohl, als der beste, ausüben kann), durch Formeln der Anrufung, durch Bekenntnisse eines Lohnglaubens, durch kirchliche Observanzen u. dgl. bewirken, und so den Beistand der Gottheit gleichsam herbeizaubern könne; denn es ist zwischen bloß physischen Mitteln und einer moralisch wirkenden Ursache gar keine Verknüpfung nach irgend einem Gesetze, welches sich die Vernunft denken kann, nach welchem die letztere durch die erstere zu gewissen Wirkungen als bestimmbar vorgestellt werden könnte.

Wer also die Beobachtung statutarischer einer Offenbarung bedürfenden Gesetze als zur Religion notwendig, und zwar nicht bloß als Mittel für die moralische Gesinnung, sondern als die objektive Bedingung, Gott dadurch unmittelbar wohlgefällig zu werden, voranschickt, und diesem Geschichtsglauben die Bestrebung zum guten Lebenswandel nachsetzt (anstatt daß die erstere als etwas, was nur bedingterweise Gott wohlgefällig sein kann, sich nach dem letzteren, was ihm allein schlechthin wohlgefällt, richten muß), der verwandelt den Dienst Gottes in ein bloßes Fetischmachen, und übt einen Afterdienst aus, der alle Bearbeitung zur wahren Religion rückgängig macht. So viel[851] liegt, wenn man zwei gute Sachen verbinden will, an der Ordnung, in der man sie verbindet! – In dieser Unterscheidung aber besteht die wahre Aufklärung; der Dienst Gottes wird dadurch allererst ein freier, mithin moralischer Dienst. Wenn man aber davon abgeht, so wird. statt der Freiheit der Kinder Gottes, dem Menschen vielmehr das Joch eines Gesetzes (des statutarischen) auferlegt, welches dadurch, daß es als unbedingte Nötigung, etwas zu glauben, was nur historisch erkannt werden, und darum nicht für jedermann überzeugend sein kann, ein für gewissenhafte Menschen noch weit schwereres Joch ist,68 als der ganze Kram frommer auferlegter Observanzen immer sein mag, bei denen es genug ist, daß man sie begeht, um mit einem eingerichteten kirchlichen gemeinen Wesen zusammen zu passen, ohne daß jemand innerlich oder äußerlich das Bekenntnis seines Glaubens ablegen darf, daß er es für eine von Gott gestiftete Anordnung halte: denn durch dieses wird eigentlich das Gewissen belästigt.

Das Pfaffentum ist also die Verfassung einer Kirche, sofern in ihr ein Fetischdienst regiert, welches allemal da anzutreffen ist, wo nicht Prinzipien der Sittlichkeit, sondern statutarische Gebote, Glaubensregeln und Observanzen die Grundlage und das Wesentliche desselben ausmachen.[852] Nun gibt es zwar manche Kirchenformen, in denen das Fetischmachen so mannigfaltig und so mechanisch ist, daß es beinahe alle Moralität, mithin auch Religion zu verdrängen, und ihre Stelle vertreten zu sollen, scheint, und so ans Heidentum sehr nahe angrenzt; allein auf das Mehr oder Weniger kömmt es hier nicht eben an, wo der Wert oder Unwert auf der Beschaffenheit des zu oberst verbindenden Prinzips beruht. Wenn dieses die gehorsame Unterwerfung unter eine Satzung, als Frondienst, nicht aber die freie Huldigung auferlegt, die dem moralischen Gesetze zuoberst geleistet werden soll, so mögen der auferlegten Observanzen noch so wenig sein, genug, wenn sie für unbedingt notwendig erklärt werden: so ist das immer ein Fetischglauben, durch den die Menge regiert, und durch den Gehorsam unter eine Kirche (nicht der Religion) ihrer moralischen Freiheit beraubt wird. Die Verfassung derselben (Hierarchie) mag monarchisch, oder aristokratisch, oder demokratisch sein: das betrifft nur die Organisation; die Konstitution derselben ist und bleibt doch unter allen diesen Formen immer despotisch. Wo Statute des Glaubens zum Konstitutionalgesetz gezählt werden, da herrscht ein Klerus, der der Vernunft, und selbst zuletzt der Schriftgelehrsamkeit gar wohl entbehren zu können glaubt, weil er als einzig autorisierter Bewahrer und Ausleger des Willens des unsichtbaren Gesetzgebers die Glaubensvorschrift ausschließlich zu verwalten die Autorität hat, und also, mit dieser Gewalt versehen, nicht überzeugen, sondern nur befehlen darf. – Weil nun, außer diesem Klerus alles übrige Laie ist (das Oberhaupt des politischen gemeinen Wesens nicht ausgenommen): so beherrscht die Kirche zuletzt den Staat, nicht eben durch Gewalt, sondern durch Einfluß auf die Gemüter, überdem auch durch Vorspiegelung des Nutzens, den dieser vorgeblich aus einem unbedingten Gehorsam soll ziehen können, zu dem eine geistige Disziplin selbst das Denken des Volks gewöhnt hat; wobei aber unvermerkt die Gewöhnung an Heuchelei die Redlichkeit und Treue der Untertanen untergräbt, sie zum Scheindienst auch in bürgerlichen Pflichten abwitzigt, und, wie alle fehlerhaft genommene Prinzipien,[853] gerade das Gegenteil von dem hervorbringt, was beabsichtigt war.


* * *


Das alles ist aber die unvermeidliche Folge von der beim ersten Anblick unbedenklich scheinenden Versetzung der Prinzipien des allein seligmachenden Religionsglaubens, indem es darauf ankam, welchem von beiden man die erste Stelle als oberste Bedingung (der das andre untergeordnet ist) einräumen sollte. Es ist billig, es ist vernünftig, anzunehmen, daß nicht bloß »Weise nach dem Fleisch«, Gelehrte oder Vernünftler zu dieser Aufklärung in Ansehung ihres wahren Heils berufen sein werden – denn dieses Glaubens soll das ganze menschliche Geschlecht fähig sein –, sondern »was töricht ist vor der Welt«; selbst der Unwissende oder an Begriffen Eingeschränkteste muß auf eine solche Belehrung und innere Überzeugung Anspruch machen können. Nun scheint zwar ein Geschichtsglaube, vornehmlich, wenn die Begriffe, deren er bedarf, um die Nachrichten zu fassen, ganz anthropologisch und der Sinnlichkeit sehr anpassend sind, gerade von dieser Art zu sein. Denn was ist leichter, als eine solche sinnlich gemachte und einfältige Erzählung aufzufassen und einander mitzuteilen, oder von Geheimnissen die Worte nachzusprechen, mit denen es gar nicht nötig ist einen Sinn zu verbinden; wie leicht findet dergleichen, vornehmlich bei einem großen verheißenen Interesse, allgemeinen Eingang, und wie tief wurzelt ein Glaube an die Wahrheit einer solchen Erzählung, die sich überdem auf eine von langer Zeit her für authentisch anerkannte Urkunde gründet, und so ist ein solcher Glaube freilich auch den gemeinsten menschlichen Fähigkeiten angemessen. Allein, obzwar die Kundmachung einer solchen Begebenheit sowohl, als auch der Glaube an darauf gegründete Verhaltungsregeln nicht gerade oder vorzüglich für Gelehrte oder Weltweise gegeben sein darf: so sind diese doch auch davon nicht ausgeschlossen, und da finden sich nun so viel Bedenklichkeiten, teils in Ansehung ihrer Wahrheit, teils in Ansehung des Sinnes, darin ihr Vortrag genommen werden[854] soll, daß einen solchen Glauben, der so vielen (selbst aufrichtig gemeinten) Streitigkeiten unterworfen ist, für die oberste Bedingung eines allgemeinen und allein seligmachenden Glaubens anzunehmen das Widersinnischste ist, was man denken kann. – Nun gibt es aber ein praktisches Erkenntnis, das, ob es gleich lediglich auf Vernunft beruht, und keiner Geschichtslehre bedarf, doch jedem, auch dem einfältigsten Menschen so nahe liegt, als ob es ihm buchstäblich ins Herz geschrieben wäre: ein Gesetz, was man nur nennen darf, um sich über sein Ansehen mit jedem sofort einzuverstehen, und welches in jedermanns Bewußtsein unbedingte Verbindlichkeit bei sich führt, nämlich das der Moralität; und was noch mehr ist, diese Erkenntnis führt entweder schon für sich allein auf den Glauben an Gott, oder bestimmt wenigstens allein seinen Begriff als den eines moralischen Gesetzgebers, mithin leitet es zu einem reinen Religionsglauben, der jedem Menschen nicht allein begreiflich, sondern auch im höchsten Grade ehrwürdig ist; ja er führt dahin so natürlich, daß, wenn man den Versuch machen will, man finden wird, daß er jedem Menschen, ohne ihm etwas davon gelehrt zu haben, ganz und gar abgefragt werden kann. Es ist also nicht allein klüglich gehandelt, von diesem anzufangen, und den Geschichtsglauben, der damit harmoniert, auf ihn folgen zu lassen, sondern es ist auch Pflicht, ihn zur obersten Bedingung zu machen, unter der wir allein hoffen können, des Heils teilhaftig zu werden, was uns ein Geschichtsglaube immer verheißen mag, und zwar dergestalt, daß wir diesen nur nach der Auslegung, welche der reine Religionsglaube ihm gibt, für allgemein verbindlich können, oder dürfen, gelten lassen (weil dieser allgemein gültige Lehre enthält), indessen, daß der Moralischgläubige doch auch für den Geschichtsglauben offen ist, sofern er ihn zur Belebung seiner reinen Religionsgesinnung zuträglich findet, welcher Glaube auf diese Art allein einen reinen moralischen Wert hat, weil er frei und durch keine Bedrohung (wobei er nie aufrichtig sein kann) abgedrungen ist.[855]

Sofern nun aber auch der Dienst Gottes in einer Kirche auf die reine moralische Verehrung desselben, nach den der Menschheit überhaupt vorgeschriebenen Gesetzen, vorzüglich gerichtet ist, so kann man doch noch fragen: ob in dieser immer nur Gottseligkeits– oder auch reine Tugendlehre, jede besonders, den Inhalt des Religionsvortrags ausmachen solle. Die erste Benennung, nämlich Gottseligkeitslehre, drückt vielleicht die Bedeutung des Worts religio (wie es jetziger Zeit verstanden wird) im objektiven Sinn am besten aus.

Gottseligkeit enthält zwei Bestimmungen der moralischen Gesinnung im Verhältnisse auf Gott; Furcht Gottes ist diese Gesinnung in Befolgung seiner Gebote aus schuldiger (Untertans-) Pflicht, d.i. aus Achtung fürs Gesetz; Liebe Gottes aber, aus eigener freier Wahl, und aus Wohlgefallen am Gesetze (aus Kindespflicht). Beide enthalten also, noch über die Moralität, den Begriff von einem mit Eigenschaften, die das durch diese beabsichtigte, aber über unser Vermögen hinausgehende höchste Gut zu vollenden erforderlich sind, versehenen übersinnlichen Wesen, von dessen Natur der Begriff, wenn wir über das moralische Verhältnis der Idee desselben zu uns hinausgehen, immer in Gefahr steht, von uns anthropomorphistisch und dadurch oft unseren sittlichen Grundsätzen gerade zum Nachteil gedacht zu werden, von dem also die Idee in der spekulativen Vernunft für sich selbst nicht bestehen kann, sondern sogar ihren Ursprung, noch mehr aber ihre Kraft gänzlich auf der Beziehung zu unserer auf sich selbst beruhenden Pflichtbestimmung gründet. Was ist nun natürlicher in der ersten Jugendunterweisung und selbst in dem Kanzelvortrage: die Tugendlehre vor der Gottseligkeitslehre, oder diese vor jener (wohl gar ohne derselben zu erwähnen) vorzutragen? Beide stehen offenbar in notwendiger Verbindung mit einander. Dies ist aber nicht anders möglich, als, da sie nicht einerlei sind, eine müßte als Zweck, die andere bloß als Mittel gedacht und vorgetragen werden. Die Tugendlehre aber besteht durch sich selbst[856] (selbst ohne den Begriff von Gott), die Gottseligkeitslehre enthält den Begriff von einem Gegenstande, den wir uns in Beziehung auf unsere Moralität, als ergänzende Ursache unseres Unvermögens in Ansehung des moralischen Endzwecks vorstellen. Die Gottseligkeitslehre kann also nicht für sich den Endzweck der sittlichen Bestrebung ausmachen, sondern nur zum Mittel dienen, das, was an sich einen besseren Menschen ausmacht, die Tugendgesinnung, zu stärken; dadurch, daß sie ihr (als einer Bestrebung zum Guten, selbst zur Heiligkeit) die Erwartung des Endzwecks, dazu jene unvermögend ist, verheißt und sichert. Der Tugendbegriff ist dagegen aus der Seele des Menschen genommen. Er hat ihn schon ganz, obzwar unentwickelt, in sich, und darf nicht, wie der Religionsbegriff, durch Schlüsse herausvernünftelt werden. In seiner Reinigkeit, in der Erweckung des Bewußtseins eines sonst von uns nie gemutmaßten Vermögens, über die größten Hindernisse in uns Meister werden zu können, in der Würde der Menschheit, die der Mensch an seiner eignen Person und ihrer Bestimmung verehren muß, nach der er strebt, um sie zu erreichen, liegt etwas so Seelenerhebendes, und zur Gottheit selbst, die nur durch ihre Heiligkeit und als Gesetzgeber für die Tugend anbetungswürdig ist, Hinleitendes, daß der Mensch, selbst wenn er noch weit davon entfernt ist, diesem Begriffe die Kraft des Einflusses auf seine Maximen zu geben, dennoch nicht ungern damit unterhalten wird, weil er sich selbst durch diese Idee schon in gewissem Grade veredelt fühlt, indessen daß der Begriff von einem, diese Pflicht zum Gebote für uns machenden Weltherrscher noch in großer Ferne von ihm liegt, und, wenn er davon anfinge, seinen Mut (der das Wesen der Tugend mit ausmacht) niederschlagen, die Gottseligkeit aber in schmeichelnde, knechtische Unterwerfung unter eine despotisch gebietende Macht zu verwandeln in Gefahr bringen würde. Dieser Mut, auf eigenen Füßen zu stehen, wird nun selbst durch die darauf folgende Versöhnungslehre gestärkt, indem sie, was nicht zu ändern ist, als abgetan vorstellt, und nun den Pfad zu einem neuen Lebenswandel für uns eröffnet, anstatt daß, wenn diese[857] Lehre den Anfang macht, die leere Bestrebung, das Geschehene ungeschehen zu machen (die Expiation), die Furcht wegen der Zueignung derselben, die Vorstellung unseres gänzlichen Unvermögens zum Guten und die Ängstlichkeit wegen des Rückfalls ins Böse dem Menschen den Mut benehmen,69 und ihn in einen ächzenden moralischpassiven[858] Zustand, der nichts Großes und Gutes unternimmt, sondern alles vom Wünschen erwartet, versetzen muß. – Es kommt in dem, was die moralische Gesinnung betrifft, alles auf den obersten Begriff an, dem man seine Pflichten unterordnet. Wenn die Verehrung Gottes das erste ist, der man also die Tugend unterordnet, so ist dieser Gegenstand ein Idol, d.i. er wird als ein Wesen gedacht, dem wir nicht durch sittliches Wohlverhalten in der Welt, sondern durch Anbetung und Einschmeichelung zu gefallen hoffen dürften; die Religion aber ist alsdann Idololatrie. Gottseligkeit ist also nicht ein Surrogat der Tugend, um sie zu entbehren, sondern die Vollendung derselben, um mit der Hoffnung der endlichen Gelingung aller unserer guten Zwecke bekrönt werden zu können.

67

Diese bloß das Ansehen eines geistlichen Vaters (papa) bezeichnende Benennung erhält nur durch den Nebenbegriff eines geistlichen Despotismus, der in allen kirchlichen Formen, so anspruchslos und populär sie sich ankündigen, angetroffen werden kann, die Bedeutung eines Tadels. Ich will daher keinesweges so verstanden sein, als ob ich, in der Gegeneinanderstellung der Sekten, eine vergleichungsweise gegen die andere mit ihren Gebräuchen und Anordnungen, geringschätzig machen wolle. Alle verdienen gleiche Achtung, so fern ihre fernem Versuche armer Sterblichen sind, sich das Reich Gottes auf Erden zu versinnlichen; aber auch gleichen Tadel, wenn sie die Form der Darstellung dieser Idee (in einer sichtbaren Kirche) für die Sache selbst halten.

68

»Dasjenige Joch ist sanft, und die Last ist leicht«, wo die Pflicht, die jedermann obliegt, als von ihm selbst und durch seine eigene Vernunft ihm auferlegt betrachtet werden kann; das er daher so fern freiwillig auf sich nimmt. Von dieser Art sind aber nur die moralischen Gesetze, als göttliche Gebote, von denen allein der Stifter der reinen Kirche sagen konnte; »meine Gebote sind nicht schwer«. Dieser Ausdruck will nur so viel sagen: sie sind nicht beschwerlich, weil ein jeder die Notwendigkeit ihrer Befolgung von selbst einsieht, mithin ihm dadurch nichts aufgedrungen wird, dahingegen despotisch gebietende, obzwar zu unserm Besten (doch nicht durch unsere Vernunft) uns auferlegte Anordnungen, davon wir keinen Nutzen sehen können, gleichsam Vexationen (Plackereien) sind, denen man sich nur gezwungen unterwirft. An sich sind aber die Handlungen, in der Reinigkeit ihrer Quelle betrachtet, die durch jene moralische Gesetze geboten werden, gerade die, welche dem Menschen am schwersten fallen, und wofür er gerne die beschwerlichsten frommen Plackereien übernehmen möchte, wenn es möglich wäre, diese statt jener in Zahlung zu bringen.

69

Die verschiedenen Glaubensarten der Völker geben ihnen nach und nach auch wohl einen, im bürgerlichen Verhältnis äußerlich auszeichnenden, Charakter, der ihnen nachher, gleich als ob er Temperamentseigenschaft im ganzen wäre, beigelegt wird. So zog sich der Judaism, seiner ersten Einrichtung nach, da ein Volk sich, durch alle erdenkliche, zum Teil peinliche Observanzen, von allen andern Völkern absondern, und aller Vermischung mit ihnen vorbeugen sollte, den Vorwurf des Menschenhasses zu. Der Mohammedanism unterscheidet sich durch Stolz, weil er, statt der Wunder, an den Siegen und der Unterjochung vieler Völker die Bestätigung seines Glaubens findet, und seine Andachtsgebräuche alle von der mutigen Art sind. Diese merkwürdige Erscheinung (des Stolzes eines unwissenden, obgleich verständigen Volks auf seinen Glauben) kann auch von Einbildung des Stifters herrühren, als habe er den Begriff der Einheit Gottes und dessen übersinnlicher Natur allein in der Welt wiederum erneuert, der freilich eine Veredlung seines Volks durch Befreiung vom Bilderdienst und der Anarchie der Vielgötterei sein würde, wenn jener sich dieses Verdienst mit Recht zuschreiben könnte. – Was das Charakteristische der dritten Klasse von Religionsgenossen betrifft, welcher übel verstandene Demut zum Grunde hat, so soll die Herabsetzung des Eigendünkels in der Schätzung seines moralischen Werts, durch die Vorhaltung der Heiligkeit des Gesetzes nicht Verachtung seiner selbst, sondern vielmehr Entschlossenheit bewirken, dieser edlen Anlage in uns gemäß, uns der Angemessenheit zu jener immer mehr zu nähern: statt dessen Tugend, die eigentlich im Mute dazu besteht, als ein des Eigendünkels schon verdächtiger Name, ins Heidentum verwiesen und kriechende Gunstbewerbung dagegen angepriesen wird. – Andächtelei (bigotterie, devotio spuria) ist die Gewohnheit, statt Gott wohlgefälliger Handlungen (in Erfüllung aller Menschenpflichten), in der unmittelbaren Beschäftigung mit Gott durch Ehrfurchtsbezeigungen, die Übung der Frömmigkeit zu setzen; welche Übung alsdann zum Frondienst (opus operatum) gezählt werden muß, nur daß sie zu dem Aberglauben noch den schwärmerischen Wahn vermeinter übersinnlichen (himmlischer) Gefühle hinzu tut. Der hinduische Glaube gibt seinen Anhängern den Charakter der Kleinmütigkeit aus Ursachen, die denen des nächst vorhergehenden gerade entgegengesetzt sind. – Nun liegt es gewiß nicht an der innern Beschaffenheit des christlichen Glaubens, sondern an der Art, wie er an die Gemüter gebracht wird, wenn ihm an denen, die es am herzlichsten mit ihm meinen, aber vom menschlichen Verderben anhebend, und an aller Tugend verzweifelnd, ihr Religionsprinzip allein in der Frömmigkeit (worunter der Grundsatz des leidenden Verhaltens in Ansehung der durch eine Kraft von oben zu erwartenden Gottseligkeit verstanden wird) setzen, ein jenem ähnlicher Vorwurf gemacht werden kann; weil sie nie ein Zutrauen in sich selbst setzen, in beständiger Ängstlichkeit sich nach einem übernatürlichen Beistande umsehen, und selbst in dieser Selbstverachtung (die nicht Demut ist) ein Gunst erwerbendes Mittel zu besitzen vermeinen, wovon der äußere Ausdruck (im Pietismus oder der Frömmelei) eine knechtische Gemütsart ankündigt.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 847-859.
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