§ 4. Vom Leitfaden des Gewissens in Glaubenssachen

[859] Es ist hier nicht die Frage: wie das Gewissen geleitet werden solle? (denn das will keinen Leiter; es ist genug, eines zu haben), sondern wie dieses selbst zum Leitfaden in den bedenklichsten moralischen Entschließungen dienen könne. –

Das Gewissen ist ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist. Wie ist es aber möglich, sich ein solches zu denken, da das Bewußtsein aller unserer Vorstellungen nur in logischer Absicht, mithin bloß bedingter Weise, wenn wir unsere Vorstellung klar machen wollen, notwendig zu sein scheint, mithin nicht unbedingt Pflicht sein kann?[859]

Es ist ein moralischer Grundsatz, der keines Beweises bedarf: man soll nichts auf die Gefahr wagen, daß es unrecht sei (quod dubitas, ne feceris! Plin.). Das Bewußtsein also, daß eine Handlung, die ich unternehmen will, recht sei, ist unbedingte Pflicht. Ob eine Handlung überhaupt recht oder unrecht sei, darüber urteilt der Verstand, nicht das Gewissen. Es ist auch nicht schlechthin notwendig, von allen möglichen Handlungen zu wissen, ob sie recht oder unrecht sind. Aber von der, die ich unternehmen will, muß ich nicht allein urteilen, und meinen, sondern auch gewiß sein, daß sie nicht unrecht sei, und diese Forderung ist ein Postulat des Gewissens, welchem der Probabilismus, d.i. der Grundsatz entgegengesetzt ist: daß die bloße Meinung, eine Handlung könne wohl recht sein, schon hinreichend sei, sie zu unternehmen. – Man könnte das Gewissen auch so definieren: es ist die sich selbst richtende moralische Urteilskraft; nur würde diese Definition noch einer vorhergehenden Erklärung der darin enthaltenen Begriffe gar sehr bedürfen. Das Gewissen richtet nicht die Handlungen als Kasus, die unter dem Gesetz stehen; denn das tut die Vernunft, so fern sie subjektiv-praktisch ist (daher die casus conscientiae und die Kasuistik, als eine Art von Dialektik des Gewissens): sondern hier richtet die Vernunft sich selbst, ob sie auch wirklich jene Beurteilung der Handlungen mit aller Behutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) übernommen habe, und stellt den Menschen, wider oder für sich selbst, zum Zeugen auf, daß dieses geschehen, oder nicht geschehen sei.

Man nehme z.B. einen Ketzerrichter an, der an der Alleinigkeit seines statutarischen Glaubens, bis allenfalls zum Märtyrertume, fest hängt, und der einen des Unglaubens verklagten sogenannten Ketzer (sonst guten Bürger) zu richten hat, und nun frage ich: ob, wenn er ihn zum Tode verurteilt, man sagen könne, er habe seinem (obzwar irrenden) Gewissen gemäß gerichtet, oder ob man ihm vielmehr schlechthin Gewissenlosigkeit schuld geben könne? er mag geirret oder mit Bewußtsein unrecht getan haben, weil[860] man es ihm auf den Kopf zusagen kann, daß er in einem solchen Falle nie ganz gewiß sein konnte, er tue hierunter nicht völlig unrecht. Er war zwar vermutlich des festen Glaubens, daß ein übernatürlich-geoffenbarter göttlicher Wille (vielleicht nach dem Spruch; compellite intrare) es ihm erlaubt, wo nicht gar zur Pflicht macht, den vermeinten Unglauben zusamt den Ungläubigen auszurotten. Aber war er denn wirklich von einer solchen geoffenbarten Lehre, und auch diesem Sinne derselben so sehr überzeugt, als erfordert wird, um es darauf zu wagen, einen Menschen umzubringen? Daß einem Menschen, seines Religionsglaubens wegen, das Leben zu nehmen unrecht sei, ist gewiß: wenn nicht etwa (um das Äußerste einzuräumen) ein göttlicher, außerordentlich ihm bekannt gewordener Wille es anders verordnet hat. Daß aber Gott diesen fürchterlichen Willen jemals geäußert habe, beruht auf Geschichtsdokumenten, und ist nie apodiktisch gewiß. Die Offenbarung ist ihm doch nur durch Menschen zugekommen, und von diesen ausgelegt, und schiene sie ihm auch von Gott selbst gekommen zu sein (wie der an Abraham ergangene Befehl, seinen eigenen Sohn wie ein Schaf zu schlachten), so ist es wenigstens doch möglich, daß hier ein Irrtum vorwalte. Alsdann aber würde er es auf die Gefahr wagen, etwas zu tun, was höchst unrecht sein würde, und hierin eben handelt er gewissenlos. – So ist es nun mit allem Geschichts- und Erscheinungsglauben bewandt: daß nämlich die Möglichkeit immer übrig bleibt, es sei darin ein Irrtum anzutreffen, folglich ist es gewissenlos, ihm bei der Möglichkeit, daß vielleicht dasjenige, was er fordert, oder erlaubt, unrecht sei, d.i. auf die Gefahr der Verletzung einer an sich gewissen Menschenpflicht, Folge zu leisten.

Noch mehr: eine Handlung, die ein solches positives (dafür gehaltenes) Offenbarungsgesetz gebietet, sei auch an sich erlaubt, so fragt sich, ob geistliche Obere oder Lehrer es, nach ihrer vermeinten Überzeugung dem Volke als Glaubensartikel (bei Verlust ihres Standes) zu bekennen auferlegen[861] dürfen? Da die Überzeugung keine andere als historische Beweisgründe für sich hat, in dem Urteile dieses Volks aber (wenn es sich selbst nur im mindesten prüft) immer die absolute Möglichkeit eines vielleicht damit, oder bei ihrer klassischen Auslegung vorgegangenen Irrtums übrig bleibt, so würde der Geistliche das Volk nötigen, etwas, wenigstens innerlich, für so wahr, als es einen Gott glaubt, d.i. gleichsam im Angesichte Gottes, zu bekennen, was es, als ein solches, doch nicht gewiß weiß, z.B. die Einsetzung eines gewissen Tages zur periodischen öffentlichen Beförderung der Gottseligkeit, als ein von Gott unmittelbar verordnetes Religionsstück, anzuerkennen, oder ein Geheimnis, als von ihm festiglich geglaubt zu bekennen, was es nicht einmal versteht. Sein geistlicher Oberer würde hiebei selbst wider Gewissen verfahren, etwas, wovon er selbst nie völlig überzeugt sein kann, andern zum Glauben aufzudringen, und sollte daher billig wohl bedenken, was er tut, weil er allen Mißbrauch aus einem solchen Fronglauben verantworten muß. – Es kann also vielleicht Wahrheit im Geglaubten, aber doch zugleich Unwahrhaftigkeit im Glauben (oder dessen selbst bloß innerem Bekenntnisse) sein, und diese ist an sich verdammlich.

Obzwar, wie oben angemerkt worden, Menschen, die nur den mindesten Anfang in der Freiheit zu denken gemacht haben,70 da sie vorher unter einem Sklavenjoche des Glaubens waren (z.B. die Protestanten), sich sofort gleichsam für veredelt halten, je weniger sie (Positives und zur Priestervorschrift[862] Gehöriges) zu glauben nötig haben, so ist es doch bei denen, die noch keinen Versuch dieser Art haben machen können, oder wollen, gerade umgekehrt; denn dieser ihr Grundsatz ist: es ist ratsam, lieber zuviel, als zu wenig zu glauben. Denn, was man mehr tut, als man schuldig ist, schade wenigstens nicht, könne aber doch vielleicht wohl gar helfen. – Auf diesen Wahn, der die Unredlichkeit in Religionsbekenntnissen zum Grundsatze macht (wozu man sich desto leichter entschließt, weil die Religion jeden Fehler, folglich auch den der Unredlichkeit wieder gut macht), gründet sich die sogenannte Sicherheitsmaxime in Glaubenssachen (argumentum a tuto): Ist das wahr, was ich von Gott bekenne, so habe ich's getroffen; ist es nicht wahr, übrigens auch nichts an sich Unerlaubtes: so habe ich es bloß überflüssig geglaubt, was zwar nicht nötig war, mir aber nur etwa eine Beschwerde, die doch kein Verbrechen ist, aufgeladen. Die Gefahr aus der Unredlichkeit seines Vorgebens, die Verletzung des Gewissens, etwas selbst vor Gott für gewiß auszugeben, wovon er sich doch bewußt ist, daß es nicht von der Beschaffenheit sei, es mit unbedingtem Zutrauen zu beteuern, dieses alles hält der Heuchler für nichts. – Die echte mit der Religion allein vereinbarte Sicherheitsmaxime ist gerade die umgekehrte: Was, als Mittel, oder als Bedingung der Seligkeit, mir nicht durch meine eigene Vernunft, sondern nur durch Offenbarung bekannt, und vermittelst eines Geschichtsglaubens allein in meine Bekenntnisse aufgenommen werden kann,[863] übrigens aber den reinen moralischen Grundsätzen nicht widerspricht, kann ich zwar nicht für gewiß glauben und beteuern, aber auch eben so wenig als gewiß falsch abweisen. Gleichwohl, ohne etwas hierüber zu bestimmen, rechne ich darauf, daß, was darin Heilbringendes enthalten sein mag, mir, so fern ich mich nicht etwa durch den Mangel der moralischen Gesinnung in einem guten Lebenswandel dessen unwürdig mache, zu gut kommen werde. In dieser Maxime ist wahrhafte moralische Sicherheit, nämlich vor dem Gewissen (und mehr kann von einem Menschen nicht verlangt werden), dagegen ist die höchste Gefahr und Unsicherheit bei dem vermeinten Klugheitsmittel, die nachteiligen Folgen, die mir aus dem Nichtbekennen entspringen dürften, listiger Weise zu umgehen, und dadurch, daß man es mit beiden Parteien hält, es mit beiden zu verderben. –

Wenn sich der Verfasser eines Symbols, wenn sich der Lehrer einer Kirche, ja jeder Mensch, sofern er innerlich sich selbst die Überzeugung von Sätzen als göttlichen Offenbarungen gestehen soll, fragte: getrauest du dich wohl in Gegenwart des Herzenskündigers mit Verzichttuung auf alles, was dir wert und heilig ist, dieser Sätze Wahrheit zu beteuren? so müßte ich von der menschlichen (des Guten doch wenigstens nicht ganz unfähigen) Natur einen sehr nachteiligen Begriff haben, um nicht vorauszusehen, daß auch der kühnste Glaubenslehrer hiebei zittern müßte.71 Wenn das aber so ist, wie reimt es sich mit der Gewissenhaftigkeit zusammen, gleichwohl auf eine solche Glaubenserklärung, die keine Einschränkung zuläßt, zu dringen,[864] und die Vermessenheit solcher Beteurungen sogar selbst für Pflicht und gottesdienstlich auszugeben, dadurch aber die Freiheit der Menschen, die zu allem, was moralisch ist (dergleichen die Annahme einer Religion), durchaus erfordert wird, gänzlich zu Boden zu schlagen, und nicht einmal dem guten Willen Platz einzuräumen, der da sagt: »Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben!«72

70

Ich gestehe, daß ich mich in den Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: Ein gewisses Volk (was in der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit begriffen ist) ist zur Freiheit nicht reif; die Leibeigenen eines Gutseigentümers sind zur Freiheit noch nicht reif; und so auch, die Menschen überhaupt sind zur Glaubensfreiheit noch nicht reif. Nach einer solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten; denn man kann zu dieser nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist (man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können). Die ersten Versuche werden freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge anderer stand; allein man reift für die Vernunft nie anders, als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen man frei sein muß). Ich habe nichts dawider, daß die, welche die Gewalt in Händen haben, durch Zeitumstände genötigt, die Entschlagung von diesen drei Fesseln noch weit, sehr weit aufschieben. Aber es zum Grundsatze machen, daß denen, die ihnen einmal unterworfen sind, überhaupt die Freiheit nicht tauge, und man berechtigt sei, sie jederzeit davon zu entfernen, ist ein Eingriff in die Regalien der Gottheit selbst, der den Menschen zur Freiheit schuf. Bequemer ist es freilich, im Staat, Hause und Kirche zu herrschen, wenn man einen solchen Grundsatz durchzusetzen vermag. Aber auch gerechter?

71

Der nämliche Mann, der so dreust ist zu sagen: wer an diese oder jene Geschichtslehre als eine teure Wahrheit nicht glaubt, der ist verdammt, der müßte doch auch sagen können: »wenn das, was ich euch hier erzähle, nicht wahr ist, so will ich verdammt sein!« – Wenn es jemand gäbe, der einen solchen schrecklichen Ausspruch tun konnte, so würde ich raten, sich in Ansehung seiner nach dem persischen Sprichwort von einem Hadgi zu richten: ist jemand einmal (als Pilgrim) in Mekka gewesen, so ziehe aus dem Hause, worin er mit dir wohnt; ist er zweimal da gewesen, so ziehe aus derselben Straße, wo er sich befindet; ist er aber dreimal da gewesen, so verlasse die Stadt, oder gar das Land, wo er sich aufhält.

72

O Aufrichtigkeit! du Asträa, die du von der Erde zum Himmel entflohen bist, wie zieht man dich (die Grundlage des Gewissens, mithin aller inneren Religion) von da zu uns wieder herab? Ich kann es einräumen, wiewohl es sehr zu bedauren ist, daß Offenherzigkeit (die ganze Wahrheit, die man weiß, zu sagen) in der menschlichen Natur nicht angetroffen wird. Aber Aufrichtigkeit (daß alles, was man sagt, mit Wahrhaftigkeit gesagt sei) muß man von jedem Menschen fordern können, und, wenn auch selbst dazu keine Anlage in unserer Natur wäre, deren Kultur nur vernachlässigt wird, so würde die Menschenrasse in ihren eigenen Augen ein Gegenstand der tiefsten Verachtung sein müssen. – Aber jene verlangte Gemütseigenschaft ist eine solche, die vielen Versuchungen ausgesetzt ist, und manche Aufopferung kostet, daher auch moralische Stärke, d.i. Tugend (die erworben werden muß) fordert, die aber früher als jede andere bewachet und kultiviert werden muß, weil der entgegengesetzte Hang, wenn man ihn hat einwurzeln lassen, am schwersten auszurotten ist. – Nun vergleiche man damit unsere Erziehungsart, vornehmlich im Punkte der Religion, oder, besser, der Glaubenslehren, wo die Treue des Gedächtnisses, in Beantwortung der sie betreffenden Fragen, ohne auf die Treue des Bekenntnisses zu sehen (worüber nie eine Prüfung angestellt wird), schon für hinreichend angenommen wird, einen Gläubigen zu machen, der das, was er heilig beteuert, nicht einmal versteht, und man wird sich über den Mangel der Aufrichtigkeit, der lauter innere Heuchler macht, nicht mehr wundern.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 859-865.
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