Probe eines Urteils über die Kritik, das vor der Untersuchung vorhergeht

[251] Dergleichen Urteil ist in den Göttingischen gelehrten Anzeigen, der Zugabe dritten Stück, vom 19. Jenner 1782, Seite 40 u. f. anzutreffen.

Wenn ein Verfasser, der mit dem Gegenstande seines Werks wohl bekannt ist, der durchgängig eigenes Nachdenken in die Bearbeitung desselben zu legen beflissen gewesen, einem Rezensenten in die Hände fällt, der seiner Seits scharfsichtig gnug ist, die Momente auszuspähen, auf die der Wert oder Unwert der Schrift eigentlich beruht, nicht an Worten hängt, sondern den Sachen nachgeht, und nicht bloß die Prinzipien, von denen der Verfasser ausging, sichtet und prüft, so mag dem letzteren zwar die Strenge des Urteils mißfallen, das Publikum ist dagegen gleichgültig, denn es gewinnt dabei, und der Verfasser selbst kann zufrieden sein, daß er Gelegenheit bekommt, seine von einem Kenner frühzeitig geprüfte Aufsätze zu berichtigen, oder zu erläuteren, und auf solche Weise, wenn er im Grunde Recht zu haben glaubt, den Stein des Anstoßes, der seiner Schrift in der Folge nachteilig werden könnte, bei Zeiten wegzuräumen.

Ich befinde mich mit meinem Rezensenten in einer ganz anderen Lage. Er scheint gar nicht einzusehen, worauf es bei der Untersuchung, womit ich mich (glücklich oder unglücklich) beschäftigte, eigentlich ankam, und, es sei nun Ungeduld, ein weitläuftig Werk durchzudenken, oder verdrießliche[251] Laune über eine angedrohete Reform einer Wissenschaft, bei der er schon längstens alles ins reine gebracht zu haben glaubte, oder, welches ich ungern vermute, ein wirklich eingeschränkter Begriff, daran schuld, dadurch er sich über seine Schulmetaphysik niemals hinauszudenken vermag; kurz, er geht mit Ungestüm eine lange Reihe von Sätzen durch, bei denen man, ohne ihre Prämissen zu kennen, gar nichts denken kann, streut hin und wieder seinen Tadel aus, von welchem der Leser eben so wenig den Grund sieht, als er die Sätze versteht, dawider derselbe gerichtet sein soll, und kann also weder dem Publikum zur Nachricht nützen, noch mir im Urteile der Kenner das mindeste schaden; daher ich diese Beurteilung gänzlich übergangen sein würde, wenn sie mir nicht zu einigen Erläuterungen Anlaß gäbe, die den Leser dieser Prolegomenen in einigen Fällen vor Mißdeutung bewahren könnten.

Damit Rezensent aber doch einen Gesichtspunkt fasse, aus dem er am leichtesten auf eine dem Verfasser unvorteilhafte Art das ganze Werk vor Augen stellen könne, ohne sich mit irgend einer besondern Untersuchung bemühen zu dürfen, so fängt er damit an, und endigt auch damit, daß er sagt: »dies Werk ist ein System des transzendenten (oder, wie er es übersetzt, des höheren)27 Idealismus«.

Beim Anblicke dieser Zeile sahe ich bald, was vor eine Rezension da herauskommen würde, ungefähr so, als wenn[252] jemand, der niemals von Geometrie etwas gehört oder gesehen hätte, einen Euklid fände, und ersucht würde, sein Urteil darüber zu fällen, nachdem er beim Durchblättern auf viel Figuren gestoßen, etwa sagte: »das Buch ist eine systematische Anweisung zum Zeichnen: der Verfasser bedient sich einer besondern Sprache, um dunkele, unverständliche Vorschriften zu geben, die am Ende doch nichts mehr ausrichten können, als was jeder durch ein gutes natürliches Augenmaß zu Stande bringen kann etc.«

Laßt uns indessen doch zusehen, was denn das vor ein Idealism sei, der durch mein ganzes Werk geht, obgleich bei weitem noch nicht die Seele des Systems ausmacht.

Der Satz aller echten Idealisten, von der Eleatischen Schule an, bis zum Bischof Berkeley, ist in dieser Formel enthalten: »alle Erkenntnis durch Sinne und Erfahrung ist nichts als lauter Schein, und nur in den Ideen des reinen Verstandes und Vernunft ist Wahrheit«.

Der Grundsatz, der meinen Idealism durchgängig regiert und bestimmt, ist dagegen: »Alles Erkenntnis von Dingen, aus bloßem reinen Verstande, oder reiner Vernunft, ist nichts als lauter Schein, und nur in der Erfahrung ist Wahrheit«.

Das ist ja aber gerade das Gegenteil von jenem eigentlichen Idealism, wie kam ich denn dazu, mich dieses Ausdrucks zu einer ganz entgegengesetzten Absicht zu bedienen, und wie der Rezensent, ihn allenthalben zu sehen ?

Die Auflösung dieser Schwierigkeit beruht auf etwas, was man sehr leicht aus dem Zusammenhange der Schrift hätte einsehen können, wenn man gewollt hätte. Raum und Zeit, samt allem, was sie in sich enthalten, sind nicht die Dinge, oder deren Eigenschaften an sich selbst, sondern gehören bloß zu Erscheinungen derselben, bis dahin bin ich mit jenen Idealisten auf einem Bekenntnisse. Allein diese, und unter ihnen vornehmlich Berkeley, sahen den Raum vor eine bloße empirische Vorstellung an, die eben so, wie die Erscheinungen in ihm, uns nur vermittelst der Erfahrung oder Wahrnehmung, zusamt allen seinen Bestimmungen bekannt würde; ich dagegen zeige zuerst: daß der Raum (und eben so die Zeit, auf welche Berkeley nicht Acht hatte) samt[253] allen seinen Bestimmungen a priori von uns erkannt werden könne, weil er so wohl, als die Zeit uns vor aller Wahrnehmung, oder Erfahrung, als reine Form unserer Sinnlichkeit beiwohnt, und alle Anschauung derselben, mithin auch alle Erscheinungen möglich macht. Hieraus folgt: daß, da Wahrheit auf allgemeinen und notwendigen Gesetzen, als ihren Kriterien beruht, die Erfahrung bei Berkeley keine Kriterien der Wahrheit haben könne, weil den Erscheinungen derselben (von ihm) nichts a priori zum Grunde gelegt ward, woraus denn folgte, daß sie nichts als lauter Schein sei, dagegen bei uns Raum und Zeit (in Verbindung mit den reinen Verstandesbegriffen) a priori aller möglichen Erfahrung ihr Gesetz vorschreiben, welches zugleich das sichere Kriterium abgibt, in ihr Wahrheit von Schein zu unterscheiden.28

Mein so genannter (eigentlich kritischer) Idealism ist also von ganz eigentümlicher Art, nämlich so, daß er den gewöhnlichen umstürzt, daß durch ihn alle Erkenntnis a priori, selbst die der Geometrie, zuerst objektive Realität bekömmt, welche ohne diese meine bewiesene Idealität des Raumes und der Zeit selbst von den eifrigsten Realisten gar nicht behauptet werden könnte. Bei solcher Bewandtnis der Sachen wünschte ich nun, allen Mißverstand zu verhüten, daß ich diesen meinen Begriff anders benennen könnte; aber ihn ganz abzuändern will sich nicht wohl tun lassen. Es sei mir also erlaubt, ihn künftig, wie oben schon angeführt worden, den formalen, besser noch den kritischen Idealism zu nennen, um ihn vom dogmatischen des Berkeley und vom skeptischen des Cartesius zu unterscheiden.[254]

Weiter finde ich in der Beurteilung dieses Buchs nichts Merkwürdiges. Der Verfasser derselben urteilt durch und durch en gros, eine Manier, die klüglich gewählt ist, weil man dabei sein eigen Wissen oder Nichtwissen nicht verrät: ein einziges ausführliches Urteil en détail würde, wenn es, wie billig, die Hauptfrage betroffen hätte, vielleicht meinen Irrtum, vielleicht auch das Maß der Einsicht des Rezensenten in dieser Art von Untersuchungen aufgedeckt haben. Es war auch kein übelausgedachter Kunstgriff, um Lesern, welche sich nur aus Zeitungsnachrichten von Büchern einen Begriff zu machen gewohnt sind, die Lust zum Lesen des Buchs selbst frühzeitig zu benehmen, eine Menge von Sätzen, die außer dem Zusammenhange mit ihren Beweisgründen und Erläuterungen gerissen (vornehmlich so antipodisch, wie diese in Ansehung aller Schulmetaphysik sind) notwendig widersinnisch lauten müssen, in einem Atem hinter einander her zu sagen, die Geduld des Lesers bis zum Ekel zu bestürmen, und denn, nachdem man mich mit dem sinnreichen Satze, daß beständiger Schein Wahrheit sei, bekannt gemacht hat, mit der derben, doch väterlichen Lektion zu schließen: Wozu denn der Streit wider die angenommene Sprache, wozu denn und woher die idealistische Unterscheidung? Ein Urteil, welches alles Eigentümliche meines Buchs, da es vorher metaphysisch-ketzerisch sein sollte, zuletzt in einer bloßen Sprachneuerung setzt, und klar beweist, daß mein angemaßter Richter auch nicht das mindeste davon, und obenein sich selbst nicht recht verstanden habe.29[255]

Rezensent spricht indessen wie ein Mann, der sich wichtiger und vorzüglicher Einsichten bewußt sein muß, die er aber noch verborgen hält; denn mir ist in Ansehung der Metaphysik neuerlich nichts bekannt geworden, was zu einem solchen Tone berechtigen könnte. Daran tut er aber sehr unrecht, daß er der Welt seine Entdeckungen vorenthält; denn es geht ohne Zweifel noch mehreren so, wie mir, daß sie, bei allem Schönen, was seit langer Zeit in diesem Fache geschrieben worden, doch nicht finden konnten, daß die Wissenschaft dadurch um einen Fingerbreit weiter gebracht worden. Sonst Definitionen anspitzen, lahme Beweise mit neuen Krücken versehen, dem Cento der Metaphysik neue Lappen, oder einen veränderten Zuschnitt geben, das findet man noch wohl, aber das verlangt die Welt nicht. Metaphysischer Behauptungen ist die Welt satt: man will die Möglichkeit dieser Wissenschaft, die Quellen, aus denen Gewißheit in derselben abgeleitet werden könne, und sichere Kriterien, den dialektischen Schein der reinen Vernunft von der Wahrheit zu unterscheiden. Hiezu muß der Rezensent den Schlüssel besitzen, sonst würde er nimmer mehr aus so hohem Tone gesprochen haben.

Aber ich gerate auf den Verdacht, daß ihm ein solches Bedürfnis der Wissenschaft vielleicht niemals in Gedanken gekommen sein mag, denn sonst würde er seine Beurteilung auf diesen Punkt gerichtet, und selbst ein fehlgeschlagener Versuch, in einer so wichtigen Angelegenheit, Achtung bei ihm erworben haben. Wenn das ist, so sind wir wieder gute Freunde. Er mag sich so tief in seine Metaphysik hinein denken, als ihm gut dünkt, daran soll ihn niemand hindern, nur über das, was außer der Metaphysik liegt, die in der Vernunft befindliche Quelle derselben, kann er nicht urteilen. Daß mein Verdacht aber nicht ohne Grund sei, beweise ich dadurch, daß er von der Metaphysik der synthetischen Erkenntnis a priori, welche die eigentliche Aufgabe war, auf deren Auflösung das Schicksal der Metaphysik gänzlich beruht, und worauf meine Kritik (eben so wie hier meine Prolegomena) ganz und gar hinauslief, nicht ein Wort erwähnete.[256] Der Idealism, auf den er stieß, und an welchem er auch hängen blieb, war nur, als das einige Mittel, jene Aufgabe aufzulösen, in den Lehrbegriff aufgenommen worden (wiewohl er denn auch noch aus andern Gründen ihre Bestätigung erhielt), und da hätte er zeigen müssen, daß entweder jene Aufgabe die Wichtigkeit nicht habe, die ich ihr (wie auch jetzt in den Prolegomenen) beilege, oder daß sie durch meinen Begriff von Erscheinungen gar nicht, oder auch auf andere Art besser könne aufgelöset werden, davon aber finde ich in der Rezension kein Wort. Der Rezensent verstand also nichts von meiner Schrift, und vielleicht auch nichts von dem Geist und dem Wesen der Metaphysik selbst, wofern nicht vielmehr, welches ich lieber annehme, Rezensenteneilfertigkeit, über die Schwierigkeit, sich durch so viel Hindernisse durchzuarbeiten, entrüstet, einen nachteiligen Schatten auf das vor ihm liegende Werk warf, und es ihm in seinen Grundzügen unkenntlich machte.

Es fehlt noch sehr viel daran, daß eine gelehrte Zeitung, ihre Mitarbeiter mögen auch mit noch so guter Wahl und Sorgfalt ausgesucht werden, ihr sonst verdientes Ansehen im Felde der Metaphysik eben so wie anderwärts behaupten könne. Andere Wissenschaften und Kenntnisse haben doch ihren Maßstab. Mathematik hat ihren in sich selbst, Geschichte und Theologie in weltlichen oder heiligen Büchern, Naturwissenschaft und Arzneikunst in Mathematik und Erfahrung, Rechtsgelehrsamkeit in Gesetzbüchern, und so gar Sachen des Geschmacks in Mustern der Alten. Allein zur Beurteilung des Dinges, das Metaphysik heißt, soll erst der Maßstab gefunden werden (ich habe einen Versuch gemacht, ihn so wohl als seinen Gebrauch zu bestimmen). Was ist nun, so lange, bis dieser ausgemittelt wird, zu tun, wenn doch über Schriften dieser Art geurteilt werden muß? Sind sie von dogmatischer Art, so mag man es halten wie man will: lange wird keiner hierin über den andern den Meister spielen, ohne daß sich einer findet, der es ihm wiedervergilt. Sind sie aber von kritischer Art, und zwar nicht in Absicht auf andere Schriften, sondern auf die Vernunft selbst, so[257] daß der Maßstab der Beurteilung nicht schon angenommen werden kann, sondern allererst gesucht wird: so mag Einwendung und Tadel unverbeten sein, aber Verträglichkeit muß dabei doch zum Grunde liegen, weil das Bedürfnis gemeinschaftlich ist, und der Mangel benötigter Einsicht ein richterlich-entscheidendes Ansehen unstatthaft macht.

Um aber diese meine Verteidigung zugleich an das Interesse des philosophierenden gemeinen Wesens zu knüpfen, schlage ich einen Versuch vor, der über die Art, wie alle metaphysische Untersuchungen auf ihren gemeinschaftlichen Zweck gerichtet, werden müssen, entscheidend ist. Dieser ist nichts anders, als was sonst wohl Mathematiker getan haben, um in einem Wettstreit den Vorzug ihrer Methoden auszumachen, nämlich, eine Ausfoderung an meinen Rezensenten, nach seiner Art irgend einen einzigen von ihm behaupteten wahrhaftig metaphysischen, d.i. synthetischen und a priori aus Begriffen erkannten, allenfalls auch einen der unentbehrlichsten, als z.B. den Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz, oder der notwendigen Bestimmung der Weltbegebenheiten durch ihre Ursache, aber, wie es sich gebührt, durch Gründe a priori zu erweisen. Kann er dies nicht (Stillschweigen aber ist Bekenntnis), so muß er einräumen: daß, da Metaphysik ohne apodiktische Gewißheit der Sätze dieser Art ganz und gar nichts ist, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit derselben vor allen Dingen zuerst in einer Kritik der reinen Vernunft ausgemacht werden müsse, mithin ist er verbunden, entweder zu gestehen, daß meine Grundsätze der Kritik richtig sind, oder ihre Ungültigkeit zu beweisen. Da ich aber schon zum voraus sehe, daß, so unbesorgt er sich auch bisher auf die Gewißheit seiner Grundsätze verlassen hat, dennoch, da es auf eine strenge Probe ankommt, er in dem ganzen Umfange der Metaphysik auch nicht einen einzigen auffinden werde, mit dem er dreust auftreten könne, so will ich ihm die vorteilhafteste Bedingung bewilligen, die man nur in einem Wettstreite erwarten kann, nämlich ihm das onus probandi abnehmen, und es mir auflegen lassen.

Er findet nämlich in diesen Prolegomenen, und in meiner Kritik S. 426 – 461 acht Sätze, deren zwei und zwei immer[258] einander widerstreiten, jeder aber notwendig zur Metaphysik gehört, die ihn entweder annehmen oder widerlegen muß (wiewohl kein einziger derselben ist, der nicht zu seiner Zeit von irgend einem Philosophen wäre angenommen worden). Nun hat er die Freiheit, sich einen von diesen acht Sätzen nach Wohlgefallen auszusuchen, und ihn ohne Beweis, den ich ihm schenke, anzunehmen; aber nur einen (denn ihm wird Zeitverspillerung eben so wenig dienlich sein wie mir), und alsdenn meinen Beweis des Gegensatzes anzugreifen. Kann ich nun diesen gleichwohl retten, und auf solche Art zeigen, daß nach Grundsätzen, die jede dogmatische Metaphysik notwendig anerkennen muß, das Gegenteil des von ihm adoptierten Satzes gerade eben so klar bewiesen werden könne, so ist dadurch ausgemacht, daß in der Metaphysik ein Erbfehler liege, der nicht erklärt, vielweniger gehoben werden kann, als wenn man bis zu ihrem Geburtsort, der reinen Vernunft selbst, hinaufsteigt, und so muß meine Kritik entweder angenommen, oder an ihrer Statt eine bessere gesetzt, sie also wenigstens studiert werden; welches das einzige ist, das ich jetzt nur verlange. Kann ich dagegen meinen Beweis nicht retten, so steht ein synthetischer Satz a priori aus dogmatischen Grundsätzen auf der Seite meines Gegners fest, meine Beschuldigung der gemeinen Metaphysik war darum ungerecht, und ich erbiete mich, seinen Tadel meiner Kritik (obgleich das lange noch nicht die Folge sein dürfte) vor rechtmäßig zu erkennen. Hiezu aber würde es, dünkt mich, nötig sein, aus dem Inkognito zu treten, weil ich nicht absehe, wie es sonst zu verhüten wäre, daß ich nicht, statt einer Aufgabe, von ungenannten und doch unberufenen Gegnern mit mehreren beehrt oder bestürmt würde.

27

Bei Leibe nicht der höhere. Hohe Türme, und die ihnen ähnliche metaphysisch-große Männer, um welche beide gemeiniglich viel Wind ist, sind nicht vor mich. Mein Platz ist das fruchtbare Bathos der Erfahrung, und das Wort transzendental, dessen so vielfältig von mir angezeigte Bedeutung vom Rezensenten nicht einmal gefaßt worden (so flüchtig hat er alles angesehen), bedeutet nicht etwas, das über alle Erfahrung hinausgeht, sondern, was vor ihr (a priori) zwar vorhergeht, aber doch zu nichts Mehrerem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntnis möglich zu machen. Wenn diese Begriffe die Erfahrung überschreiten, dann heißet ihr Gebrauch transzendent, welcher von dem immanenten, d.i. auf Erfahrung eingeschränkten Gebrauch unterschieden wird. Allen Mißdeutungen dieser Art ist in dem Werke hinreichend vorgebeugt worden: allein der Rezensent fand seinen Vorteil bei Mißdeutungen.

28

Der eigentliche Idealismus hat jederzeit eine schwärmerische Absicht, und kann auch keine andre haben, der meinige aber ist lediglich dazu, um die Möglichkeit unserer Erkenntnis a priori von Gegenständen der Erfahrung zu begreifen, welches ein Problem ist, das bisher noch nicht aufgelöset, ja nicht einmal aufgeworfen worden. Dadurch fällt nun der ganze schwärmerische Idealism, der immer (wie auch schon aus dem Plato zu ersehen) aus unseren Erkenntnissen a priori (selbst derer der Geometrie) auf eine andere (nämlich intellektuelle Anschauung), als die der Sinne schloß, weil man sich gar nicht einfallen ließ, daß Sinne auch a priori anschauen sollten.

29

Der Rezensent schlägt sich mehrenteils mit seinem eigenen Schatten. Wenn ich die Wahrheit der Erfahrung dem Traum entgegensetze, so denkt er gar nicht daran, daß hier nur von dem bekannten somnio obiective sumpto der Wolffischen Philosophie die Rede sei; der bloß formal ist, und wobei es auf den Unterschied des Schlafens und Wachens gar nicht angesehen ist, und in einer Transzendentalphilosophie auch nicht gesehen werden kann. Übrigens nennt er meine Deduktion der Kategorien und die Tafel der Verstandesgrundsätze: »gemein bekannte Grundsätze der Logik und Ontologie auf idealistische Art ausgedrückt«. Der Leser darf nur darüber diese Prolegomenen nachsehen, um sich zu überzeugen, daß ein elenderes und selbst historisch unrichtigeres Urteil gar nicht könne gefället werden.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 5, Frankfurt am Main 1977, S. 251-259.
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