3. Kapitel
Wie man die Toten zur Ruhe bestattet / An Sï

[122] Heutzutage macht man Gräber so hoch wie die Berge und bepflanzt sie so dicht wie die Wälder. Man versieht sie mit Toren und Höfen und Tempeln und Palästen und Treppen und Stufen wie Städte und Schlösser. Wenn man auf diese Weise der Welt seinen Reichtum zeigen will, so ist es entsprechend. Wenn man[122] aber auf diese Weise für die Toten sorgen will, so geht das nicht an. Für den Tod sind zehntausend Jahre wie ein Augenblick. Des Menschen Leben währt höchstens sechzig Lebensjahre. Wenn man vom Standpunkt dieser hundert oder sechzig Jahre aus für die Ewigkeit sorgen will, so trifft man sicher nicht die richtigen Maßregeln. Man muß vom Standpunkt der Ewigkeit aus für die Toten sorgen, dann erst trifft man das Rechte.

Wenn z.B. ein Mann eine Steintafel mit folgender Inschrift auf sein Grab setzen würde: »Die Gegenstände da drin sind lauter Perlen und Edelsteine und Kunstgegenstände und Schätze und Kostbarkeiten ohne Zahl, es ist dringend zu raten, sie auszugraben; wer sie ausgräbt wird sicher sehr reich, so daß seine Familie auf Generationen hinaus Wagen fahren kann und Fleisch zu essen hat«, da würden die Leute sicher miteinander darüber lachen und es für eine große Torheit halten. Aber die vornehmen Begräbnisse von heutzutage kommen im Grunde auf dasselbe hinaus. Von Anfang an bis heute hat es noch kein Reich gegeben, das nicht aufgehört hätte. Daß aber jedes Reich ein Ende nimmt, bedeutet, daß jedes Grab einmal ausgegraben wird21. Wir haben mit eigenen Augen gesehen, daß die Staaten Tsi, Ging und Yän zugrunde gegangen sind. Die Staaten Sung und Dschung Schan sind nicht mehr, die Staaten Dschau, We und Han sind zugrunde gegangen. Alle diese Herrscher haben ihre angestammten Staaten verloren. Wenn wir weiter zurückgehen, so sind die zugrunde gegangenen Staaten gar nicht mehr zu zählen. Darum werden die großen Gräber alle früher oder später einmal ausgegraben und dennoch wetteifert man immer, noch neue zu bauen. Ist das nicht traurig?

Menschen, die von ihren Fürsten für schlechte Untertanen gehalten werden, die von ihren Vätern für unehrerbietige Söhne gehalten werden, die von ihren Brüdern für unbotmäßige Brüder gehalten werden, werden selbst von der ärmsten Landbevölkerung22 aus ihrer Gesellschaft ausgestoßen. Sie scheuen sich vor der Mühe des Land- und Gartenbaues, sie mögen nicht für andere tätig sein und möchten doch das Vergnügen schöner Kleider und üppiger Nahrung haben. Wenn sie mit all ihrem Witz und ihrer Weisheit[123] zu Ende sind und es dennoch nicht erreichen, so sammeln sie eine Schar von verwegenen Gesellen, mit denen sie in einsamen Gebirgen, verlassenen Ebenen und dichten Wäldern die Menschen überfallen und berauben. Wenn sie dann einen berühmten Begräbnisplatz, ein großes Grab, die Stelle einer prächtigen Bestattung finden, so suchen sie etwa eine Hütte in der Nähe aus, wo sie bequem wohnen können, um im geheimen das Grab auszugraben. Tag und Nacht sind sie unaufhörlich tätig, und so finden sie sicher schließlich etwas, das ihnen zum Gewinne dient und das sie miteinander teilen.

Wenn man jemand liebt und schätzt und ihn durch Diebe und Räuber und Aufrührer überfallen läßt, so bringt man Schmach auf ihn. Diese Überlegung ist etwas, das für ehrfürchtige Söhne, treue Beamte, liebevolle Väter und aufrichtige Freunde von größter Wichtigkeit ist.

Yau wurde bestattet in Gu Lin23, und man benützte den dortigen Wald als Grabhain. Tschun wurde bestattet in Gi, ohne daß die Marktleute in ihrer Beschäftigung unterbrochen wurden. Yü wurde bestattet auf dem Kuai Gi Berg24, ohne daß die Leute in ihren Arbeiten gestört wurden; so bestatteten die früheren Könige ihre Toten einfach und sparsam. Nicht daß sie die Ausgaben gescheut hätten oder die Mühe gefürchtet hätten, sondern sie sorgten für die Toten. Was die Könige des Altertums verhindern wollten, das war die Schändung der Toten. Wenn ein Grab aufgerissen wird, so werden die Toten sicher geschändet. Ein einfaches Grab wird nicht aufgerissen. Darum waren die Könige des Altertums darauf aus, daß die Bestattung einfach dem Ort und den Umständen entsprechend war. Was heißt nun dem Ort und den Umständen entsprechend? Es bedeutet, daß bei einer Bestattung im Waldgebirge man sich an die Verhältnisse des Waldgebirges anpaßt; daß man sich bei einer Beerdigung in der Tiefebene nach den Verhältnissen der Ebene richtet. Das ist wahre Menschenliebe. Es gibt wohl viele, die Liebe für ihre Toten empfinden, aber wenige sind, die es verstehen, ihre Toten auf die rechte Weise zu lieben. Daher kam es, daß noch vor dem Untergang des Staates Sung der östliche[124] Gräberhain geplündert wurde25; daß noch vor dem Untergang des Staates Tsi das Grab des Herzogs Dschuang geplündert wurde. Wenn solche Dinge vorkommen, während Ruhe und Frieden im Lande herrscht, was soll da erst geschehen nach Jahrhunderten, wenn das Reich längst aufgehört hat zu bestehen? Darum haben ehrfürchtige Söhne, treue Beamte, liebevolle Väter und aufrichtige Freunde die Pflicht, diese Dinge sorgsam zu prüfen. Heißt das aber, daß man die, die man liebt, umgekehrt in Gefahr bringt? Im Buch der Lieder heißt es26: Man darf nicht einen Tiger mit der bloßen Faust angreifen, man darf nicht einen Fluß ohne Schiff überschreiten. Wenn man aber nun das eine versteht und nicht das entsprechende andere, so heißt das, daß man nicht die richtigen Schlußfolgerungen ziehen kann27.

In Lu war Leichenfeier im Hause der Familie Gi. Meister Kung ging hin, sein Beileid zu bezeugen. Er trat ein und wandte sich links, wie es den Gästen geziemt. Da legte der Hausherr einen prächtigen Nephrit mit in den Sarg. Da schritt Meister Kung mit eiligem Schritt quer über den Hof, sprang die Treppe empor und sprach: »Wenn man einem Toten einen köstlichen Nephrit mitgibt, so ist das gerade so, als ließe man seine Gebeine im Blachfeld bleichen.« Quer über den Hof zu gehen und die Treppen emporzuspringen widerspricht der feinen Sitte. Dennoch tat es Meister Kung, um seinen Herrn vor einem groben Fehler zu bewahren.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 122-125.
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