3. Kapitel
Beseitigung der Befangenheit / Kü Yu

[163] Die Menschen, die in unserer Zeit die Worte anderer hören wollen, sind durch vielerlei Dinge befangen, diese vielfache Befangenheit bewirkt aber, daß man falsch hört; das kommt davon, daß die Anlässe zu Befangenheit so zahlreich sind. Die hauptsächlichsten dieser Anlässe beruhen auf den Zuneigungen und Abneigungen der Menschen. Wer nach Osten ausblickt, sieht die Wand im Westen nicht, wer nach Süden schaut, erblickt die nördlichen Gegenden nicht. Denn seine Gedanken verlaufen in einer bestimmten Richtung26.

Einst hatte jemand eine Axt verloren. Er hatte seines Nachbars Sohn in Verdacht. Er beobachtete die Art wie er ging: es war die Art eines Axtdiebes; seine Mienen: es waren die eines Axtdiebes; seine Worte: es waren die eines Axtdiebes; seine Bewegungen und sein ganzes Wesen, alles was er tat: alles war die Art eines Axtdiebes. Zufällig grub er dann einen Graben und fand seine Axt. Am andern Tag sah er wieder seines Nachbars Sohn, alle seine Bewegungen und sein ganzes Wesen glichen nicht mehr der Art eines Axtdiebes. Sein Nachbarsohn hatte sich nicht verändert. Er selbst hatte sich verändert. Was war der Grund davon? Nichts anderes, als daß etwas da war, das ihn in unbefangener Beobachtung störte.

In Dschu war es alte Sitte, die Panzerschürzen aus gewobenem Seidenstoff zu machen. Gung Si Gi sprach zum Fürsten von Dschu: »Es wäre besser, gezwirnte Seidenfäden zu nehmen. Die Festigkeit des Panzers beruht darauf, daß alle Öffnungen bedeckt sind. Jetzt ist es so, daß die Bedeckung nur die halbe Kraft der Abwehr hat. Macht man dagegen die Panzer aus gezwirnten Seidenstricken, so ist die Kraft der Bedeckung vollständig.« Der Fürst von Dschu war damit einverstanden, doch sprach er: »Woher soll man die gezwirnten Seidenstricke bekommen?« Gung Si Gi erwiderte: »Was die Regierung braucht, stellt das Volk ganz von selber her.«

Der Fürst sprach: »Gut« und erließ eine Verordnung, daß die zuständigen[164] Beamten die Panzerschürzen aus gezwirnten Seidenstricken machen sollten.

Da Gung Si Gi wußte, daß sein Rat angenommen worden war, ließ er seine ganze Familie gezwirnte Seidenstricke herstellen.

Darüber empörten sich die Leute und sagten: « Der Grund, warum Gung Si Gi wollte, daß die Panzer aus gezwirnter Seide gemacht werden, ist nur der, daß in seiner Familie viele gezwirnte Seide hergestellt wird.«

Der Fürst von Dschu wurde mißvergnügt darüber und erließ eine abermalige Verordnung, daß die zuständigen Behörden künftig die Panzer doch nicht aus gezwirnter Seide machen lassen sollten. Hierin zeigte es sich, daß der Fürst von Dschu befangen war. Wenn es praktisch war, die Panzer aus gezwirnter Seide zu machen, was schadete es dann, wenn Gung Si Gi viele gezwirnte Seide herstellen ließ? Wenn es dagegen nicht praktisch war, die Panzer aus gezwirnter Seide machen zu lassen, so hätte es auch nichts genützt, wenn Gung Si Gi keinerlei Seidenzwirn hätte machen lassen. Die Herstellung oder Nichtherstellung von Seidenzwirn war kein zureichender Grund, um den Rat des Gung Si Gi zu beeinträchtigen. Die Gesinnung, die sich im Gebrauch der gezwirnten Seide aussprach, verdient wohl beachtet zu werden.

In Lu lebte ein häßlicher Mensch. Sein Vater ging einst aus und sah den schönen Schang Guo. Als er heimkam sagte er zu seinen Nachbarn: »Schang Guo ist doch nicht so schön wie mein Sohn.« Nun war sein Sohn hervorragend häßlich und Schang Guo hervorragend schön. Er aber hielt den schönsten Jüngling für nicht so schön wie den häßlichsten, weil ihm die Unbefangenheit durch seine Liebe genommen war. Erst wenn man weiß, was an einem Schönen häßlich ist oder was an einem Häßlichen schön ist, dann kann man Schönheit und Häßlichkeit wirklich erkennen.

Dschuang Dsï sprach27: »Spielt man um Scherben, so ist einer vielleicht geschickt, geht es um Gürtelspangen, so wird er zaghaft, geht es um gelbes Gold, so verliert er alle Besinnung. Und doch ist seine Geschicklichkeit dieselbe; wenn er aber verwirrt wird, so geschieht es sicher deshalb, weil er etwas Äußeres wichtig nimmt.[165] Wenn man Äußeres wichtig nimmt, so übt das auf das Innere einen betörenden Einfluß aus.« Von dem obengenannten Mann aus Lu kann man sagen, daß er etwas Äußeres zu wichtig nahm.

Eine Erklärung dafür gibt die Geschichte von dem Mann aus Tsi28, der Gold haben wollte, und die Art wie die Anhänger des Mo Di29 in Tsi einander beneideten: sie alle litten unter Befangenheiten. Da hat Lau Dan das richtige getroffen. Er steht selbständig da wie ein Baum und kümmert sich nicht um die Welt. Das läßt sich nicht überbieten.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 163-166.
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