7. Kapitel
Grosse Ziele / Yü Da

[173] Schun hatte einst die Absicht, Vergangenheit und Gegenwart zu beschirmen. Das gelang ihm zwar nicht, aber er erreichte es wenigstens, ein göttlicher Herrscher zu werden. Yü wollte ein göttlicher Herrscher werden. Das gelang ihm zwar nicht, aber er erreichte es wenigstens, die Sitten der Barbaren an den Grenzen des Reichs zu mildern. Tang wollte das Werk Yüs fortsetzen. Das gelang ihm zwar nicht, aber er erreichte es wenigstens, die Grenzstämme zur Unterwerfung zu bringen. König Wu wollte es Tang gleich tun. Das gelang ihm zwar nicht, aber er erreichte es wenigstens, auf der Bahn eines Königs zu wandeln. Die fünf Führer der Fürsten wollten es den Königen der drei Dynastien gleich tun. Das gelang ihnen zwar nicht, aber sie erreichten es wenigstens, Häupter der Fürsten zu werden. Kung Kiu und Mo Di wollten die große Wahrheit auf Erden durchsetzen. Das gelang ihnen zwar nicht, aber sie erreichten es wenigstens, sich einen berühmten Namen zu machen. Jedes große Ziel, auch wenn es nicht erreicht wird, bewirkt, daß wenigstens etwas erreicht wird. In den Urkunden von Hia heißt es: Des Himmelssohnes Geist ist weit, beweglich und göttlich, im Krieg wie in den Werken des Friedens46. Darum:[173] worauf man achten muß, sind die Taten. Der Wert der Taten beruht auf ihrer Größe.

Die Erde ist groß. Darum beherbergt sie Tiere, wie das Tschang Hiang, Bu Ting, Ki Wu, Kün Di, Tiän Di, Bu Dschou47. Ist ein Gebirge groß, so leben darin Tiger, Panther, Bären, Affen und Meerkatzen. Ist ein Wasser groß, so leben darin Riesenfische, Drachen, Schildkröten, Krokodile, Aale und Störe. In den Urkunden von Schang heißt es: Im Tempel des fünften Ahnherrn kann man Wunderbares schauen. Das Haupt der Myriaden kann Pläne ersinnen48. In der leeren Luft gibt es keine Seen. Im Brunnen gibt es keine großen Fische. In einem jungen Wald gibt es keine hohen Bäume. Wenn man irgend etwas fertig bringen will, so muß man es auf Größe, Vielheit und Dauer anlegen. Das ist gewißlich wahr.

Meister Kung sprach49: »Die Schwalben streiten um ein gutes Plätzchen unter dem Dache. Alte und Junge schnäbeln einander und zwitschern fröhlich zusammen. Sie halten sich für sicher und geborgen. Wenn der Schornstein des Herdes platzt, so ergreift das Feuer die Dachbalken, aber die Schwälbchen ändern ihr Benehmen nicht. Woher kommt das? Weil sie nicht wissen, daß das Unglück ihnen selber droht.« Unter den Staatsdienern gibt es nur wenige, die über den Standpunkt dieser Schwalben hinaus sind. Die Staatsdiener ergötzen sich an ihrem Rang und Stand, an ihrem Einkommen und Reichtum. Väter und Söhne und wer zur Familie gehört bilden eine Clique in einem Staat und sind ein Herz und eine Seele, aber dadurch bringen sie die Grundlagen des Staates in Gefahr. Der Schornstein des Herdes ist nahe, aber sie merkens nicht. Ihr Verständnis reicht nicht weiter als das der Schwalben.

So heißt es: Wenn der Erdkreis in Verwirrung ist, so kann kein Staat in Frieden leben. Wenn ein Staat in Verwirrung ist, so kann keine Familie darin unangefochten leben. Wenn die Familie in Unordnung ist, dann gibt es keine Ruhe für die Person. Um das Kleine zu festigen, muß erst das Große gefestigt sein. Um das Große in Ordnung zu bringen, muß erst das Kleine in Ordnung sein. So hängen Groß und Klein, Vornehm und Gering50 voneinander ab,[174] und nur gemeinsam kommen sie zum Glück. Aber um das Kleine zu festigen, muß man das Große wichtig nehmen. Als Beispiel dafür mag dienen die Art wie Bo I51 den Thronfolger von We über königliche Maßregeln belehrt hat, oder wie Du Ho den Herrn Dschau Wen von Dsou über Frieden auf Erden belehrt hat, oder wie Kiang Dschang52 den Hui Dsï bedrängt hat, indem er dem König von Tsi zum Thron verhalf.

Fußnoten

1 Der Osten ist die Mitte des Holzes. Die Farbe des Holzes ist grün, darum heißt der Himmel blau (blau und grün wurden nicht unterschieden).


2 Der Nordosten ist das Ende des Wassers. Die Yin-Kraft geht zu Ende, die Yang-Kraft entsteht. Alle Dinge beginnen zu entstehen, darum heißt es »der wechselnde Himmel«.


3 Der Norden ist die Mitte des Wassers. Die Farbe des Wassers ist schwarz.


4 Der Nordwesten ist das Ende des Metalls. Die Zeit wendet sich dem großen Yin-Prinzip zu, daher dunkel.


5 Der Westen ist die Mitte des Metalls. Die Farbe des Metalls ist weiß.


6 Der Südwesten ist das Ende des Feuers, daher Scharlach.


7 Der Süden ist die Mitte des Feuers, daher Flammenhimmel.


8 Der Südosten ist das Ende des Holzes. Es wendet sich das Jahr zum großen Yang-Prinzip, daher strahlend.


9 Es ist bemerkenswert, daß trotzdem im Text die acht Himmelsrichtungen außer dem Mittelhimmel genannt werden, im Kommentar nicht die 8 Zeichen des Buchs der Wandlungen, sondern die vier Elemente (die mit Erde-Mitte die Fünfzahl bilden) vorausgesetzt wurden.


10 Im Osten vom Tsing Ho bis zum westlichen (Gelben) Fluß im Westen.


11 Der Huang Ho kommt aus dem Norden hervor, der Dsi Ho bildet seine Südgrenze.


12 Diese Landeinteilung führt nicht südlicher als die heutige Provinz Honan. Yü Dschou, das Gebiet von (Ost) Dschou entspricht etwa der heutigen Provinz Honan. Gi Dschou zwischen der Nord-Südwendung des Gelben Flusses und den alten neun Strömen entspricht etwa Schansi und einem Teil von Dschïli. Yän Dschou zwischen Gi Dschou und dem Dsi Fluß (Tsinanfu) entspricht etwa Westschantung. Tsing Dschou ist etwa Ostschantung. Sü Dschou ist etwa Südschantung und Nordkiangsu (bis zum Huaifluß). Yang Dschou ist das östliche Yangtsebecken. Ging Dschou ist das mittlere Yangtsebecken und das Siangtal bis südlich von Tschangscha. Yung Dschou ist das südliche Gebiet innerhalb der großen Schleife des Gelben Flusses und was westlich davon liegt, bis nach Kansu und Sinkiang hinein. Yu Dschou ist Norddschïli. Es tritt hier auf an Stelle des sonst im SW erwähnten Bezirkes Liang Dschou, der den Oberlauf des Han und das Land südlich bis zur Gegend von Tschongdu hin umfaßte. Es sind die alten Bezeichnungen aus dem Schu Ging (Dschou) und die zur Tsinzeit üblichen nebeneinander gestellt.


13 Der Guai Gi-Berg ist im Süden des obengenannten Yang Dschou bei Hangtschou in Tschekiang. Der Taischan ist im Westen Schantungs. Der Wang Wu-Berg (Wang Wu, Königsschloß) ist ein Berg in Schansi an der Grenze von Honan. Der Schou Schan oder Schou Yang Schan, wo Be I und Schu Tsi Hungers starben, liegt im Norden, in der Mitte der Biegung des Huang Ho. Der Tai Hua oder Hua Schan ist der westliche der heiligen Berge, und liegt in Schensi, Hua Yin Hiän. Der Ki Schan ist das Stammland der Dschou-Dynastie, ganz im Westen. Der Tai Hang ist zwischen Dschïli und Honan. Der Yang Tschang (Schafdarmberg, wegen seiner vielen Krümmungen) liegt nördlich von Tai Yüan, Dsing Yang Hiän. Der Mong Men wird im Kommentar nicht erwähnt. Nach anderen Quellen bildet er die Grenze des Tai Hang.


14 Da Fen im alten Staate Dsin, vermutlich am Fen Ho. Ming O, Ging Yüan, Fang Tschong sind dem Kommentar nach alle in Tschu gelegen. Hiau wird bei Huai Nan Dsï Hiau Ban genannt. Dsing Hing im Tschang Schan (Tai Yüan) Bezirk, Ling Tsï nach Huai Nan Dsï in Liau Si, Gou Dschu am Yän Men (Wildganstor), Gü Yung in Schang Gu westlich von Gou Dschu.


15 Gü Kü liegt zwischen Wu und Yüo, Yün Mong im Südbezirk in Hua Yung, Yang Hua in Fong Tsiang oder nach andern westlich von Hua Yin. In Da Lu hatte seinerzeit Hiän Dsï von We gejagt, es ist dasselbe wie Hua Yung in Tschu. Pu Tiän südlich vom Huang Ho in Dschung Mou. Mong Dschu im späteren Staate Liang im SO von Sui Yang. Hai Yü ist wohl die Kiau Lai-Ebene, wörtlich Meeresufer. Gü Lu ist soviel wie Guang O Tse. Da Dschau ist die Ebene um Tai Yüan.


16 Die Winde sind hier nach der Anordnung des sogenannten Hou Tiän Tu auf die acht Diagramme zurückgeführt.


N.O.Berg, Gen

O.Donner, Dschen

S.O.Wind, Sün

S.Feuer, Li

S.W.Erde, Kun

W.See, Dui

N.W.Himmel, Kiän

N.Wasser, Kan.


17 Der Ho oder Gelbe Fluß entspringt im Nordosten des Kun-Lun-Gebirges, das Rote Wasser entspringt im Südosten davon. Der Liaufluß durchfließt die Mandschurei östlich von der großen Mauer bis zum Westen der Halbinsel Liautung. Das Schwarze Wasser entspringt im Nordwesten des Kun-Lun (Mekong). Der Yangtsekiang ist der bekannte Fluß Mittelchinas. Der Huai mündet südlich von Schantung. Von den im Yü Gung angegebenen neun Strömen 1. Jo-Schui, 2. He-Schui, 3. Ho, 4. Han, 5. Giang, 6. Dsi, 7. Huai, 8. We, 9. Lo fehlen 1. Jo-Schui, das Schwache Wasser, ferner die Nebenflüsse des Ho und Giang, 4. Han, 8. We, 9. Lo, ferner der 6., Dsi. Gemeinsam sind beiden Aufzählungen: He-Schui, Ho, Giang, Huai. Zugefügt gegenüber dem Yü Gung sind: Das Rote Wasser und der Liau Ho. Das deutet auf eine Verschiebung des Kreises der bekannten Gegenden nach Osten hin.


18 Ein Li ca. 0,5 km.


19 Es handelt sich hier wohl um eine Andeutung der Mitternachtssonne in den Gegenden des Polarkreises.


20 Es ist dieser Satz, in den der Satz vom Laut ohne Echo wohl erst später der Symmetrie wegen eingeschoben wurde, eine Andeutung der tropischen Verhältnisse.


21 Der vorliegende Abschnitt besteht aus sehr heterogenen Bestandteilen, von denen es fraglich ist, ob sie immer zusammengehört haben. Der Anfang und Schluß ist naturphilosophischer Art, während die Mitte aus astronomischen und geographischen Detailnotizen besteht, die den Zusammenhang eher unterbrechen. Die Andeutungen zum Schluß sind ziemlich dunkler Art. Analog der indischen Purushavorstellungen ist Himmel und Erde als Leib eines großen Menschen aufgefaßt (Makrokosmos im Gegensatz zu Mikrokosmos). Das Prinzip der Individuation würde in der Verschiedenheit der Sinnesorganisation und Nahrung bestehen. Die alle Dinge durchdringende Allgegenwart des Brahman sowie die – in positiv und negativ geschieden – elektrizitätartige Kraft des Pranahauches sind in analogen Vorstellungen in den Gedanken des Textes zu merken.


22 Diese Zeilen sind geschrieben, noch ehe Tsin Schï Huang die Alleinherrschaft in China errungen hatte und enthalten eine Andeutung auf das Tsin- Reich.


23 Dschau Guo Tse 6; Schï Gi, Konfuzius; Schuo Yüan 13; Schï Dsï A; Gia Yü 5;


24 Huai Nan Dsï 10.


25 Die Geschichte ist Buch XX, Kap. 4 erzählt, wo ein Auszug des vorliegenden Abschnittes steht. Dschau Giän Dsï wollte We überfallen und sandte den Großsekretär Mo hin, um einen Monat lang das Land auszukundschaften. Mo kam erst nach sechs Monaten zurück und berichtete von einigen guten Beamten, die den Staat trotz des schlechten Fürsten noch in Ordnung hielten. Infolgedessen gab Dschau Giän Dsï seine Angriffsabsichten auf.


26 Vgl. Liä Dsï 8, 32; Sun Dsï 10.


27 Vgl. Liä Dsï 2, 8; Dschuang Dsï 19, 4.

Der in Liä Dsï mit »Haschen« übersetzte Ausdruck ist hier anders geschrieben. Um welche Art von Spiel es sich gehandelt, um ein Ratespiel oder Wurfspiel, läßt sich nicht entscheiden. Jedenfalls war es eine Art des Spielens um Geld bzw. Preise.


28 Vgl. Liä Dsï 8, 34.


29 Die beiden Erzählungen finden sich in Lü Schï Tschun Tsiu XVI, 7.


30 Vgl. Mo Dsï, Fe Gung Piän.


31 Vgl. Lun Yü III, 21 und die Sprüche des Konfuzius von Schiller.


32 Vgl. Dschuang Dsï, Sun Dsï, Wang Ba Piän; Fa Yän, Hüo Hing Piän.


33 Vgl. Buch XVIII, 6 Schluß.


34 Vgl. Buch XVIII, 7.


35 Vgl. Buch XVIII, 5.


36 Statt Tsï muß es Luan heißen.


37 Huai Nan Dsï 13.


38 Nämlich weil sie keinen verständigen Herrn finden.


39 Der Vorfahr des Hauses Lü, das in Tsi herrschte.


40 Die Geschichte von Dschou Gung und Schong Schu vgl. Buch XVIII, 3; die Geschichte von Huan und Wen vgl. XV, 3.


41 Vgl. Schï Ging 2, 6. 8 (Siau Ya, Da Diän Vers 3), wo der Sinn übrigens etwas abweicht.


42 Vgl. I Ging, Siau Tschu.


43 Vgl. Da Ya 3, 1. 2; Da Ming 7.


44 Vgl. Buch XXVI, 2.


45 Vgl. Buch XVIII, 1.


46 Die Stelle steht im Text abweichend im Schu Ging im Da Yü Mu.


47 Diese Tiernamen sind offenbar alle ausländischen Ursprungs, denn es ist schwer zu sagen, welche Tiere damit gemeint sind. Beachtung verdient die Bemerkung in Dschu Dsï Ping I, B. 23, der darin Berg- und Flußnamen sieht.


48 Diese Stelle kommt stark abweichend in dem Abschnitt Hiän Yu I De des heutigen Schu Ging. Der hier gebotene Text scheint dem des Schu Ging vorzuziehen, da zur Schang-Zeit vom Großkönig nur fünf Ahnen verehrt wurden, nicht sieben, wie es im heutigen Schu Ging steht.


49 Im Text steht Gi Dsï, das ist aber wohl nur ein Textfehler für Kung Tsung Dsï, vgl. den Abschnitt Wu Da XXVI, 2.


50 Vgl. Huai Nan Dsï; aus der Ausdünstung von Ochsen und Pferden entstehen Läuse. Aber die Ausdünstung der Läuse vermag keine Pferde und Ochsen hervorzubringen.


51 Vgl. Buch XXVI, 2.


52 Vgl. Buch XXI, 5.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 173-175.
Lizenz:

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Cleopatra. Trauerspiel

Cleopatra. Trauerspiel

Nach Caesars Ermordung macht Cleopatra Marcus Antonius zur ihrem Geliebten um ihre Macht im Ptolemäerreichs zu erhalten. Als der jedoch die Seeschlacht bei Actium verliert und die römischen Truppen des Octavius unaufhaltsam vordrängen verleitet sie Antonius zum Selbstmord.

212 Seiten, 10.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon