5. Kapitel
Aufmerksames Hören / Gin Ting

[168] In alter Zeit gab es einen Yü, der, während er einmal seinen Kopf wusch, sich dreimal das Haar aufstecken mußte und während einer Mahlzeit dreimal aufstehen mußte, da er gegen Männer, die die Wahrheit besaßen, zuvorkommend war und seine eigenen Unzulänglichkeiten ausgleichen wollte. Wer seine eigenen Unzulänglichkeiten ausgleichen will, der streitet nicht um äußerer Dinge willen, sondern er wartet ganz gelassen und ruhig, bis sie ihm selber zufallen, er läßt die Leute ausreden, bis sie ihm von selber mitteilen, was sie ihm zu sagen haben.

Der Herrscher eines Staates, dem der Untergang droht, macht es umgekehrt, er hält sich selbst für tüchtig und hält die anderen für gering. Wenn man die anderen für gering achtet, so richten sie sich in ihren Reden nach den Mienen des Fürsten und sagen nicht alles, was sie zu sagen haben, und der zuhörende Fürst hält sich selbst für klug und merkt gar nicht auf das, was jene meinen. Wenn so einer die ganze Welt besäße, was hülfe es ihm, da er die Finsternis für Licht, die Unordnung für Ordnung36, das Verderben[168] für Vollendung und die Gefahr für Sicherheit hält. Daran gingen die Dynastien Yin und Dschou zugrunde. Darum mußte ein Bi Gan sterben. Und solche Fälle gibt es noch unzählige.

Es liegt in der Natur der Fürsten, daß sie keine Fehler machen in den Dingen, über die sie Zweifel haben, sondern da Fehler machen, wo sie gar nicht zweifeln; daß sie keine Fehler machen in Dingen, die sie nicht wissen, sondern Fehler machen in Dingen, die sie zu wissen meinen. Darum ist es nötig, daß, wenn man auch keine Zweifel hat über eine Sache und sie selber schon weiß, sie dennoch prüft am Gesetz und sie ermißt nach ihrer Fähigkeit und sie am Schicksal abwägt. Wenn man es so macht, so trifft man in Billigung und Mißbilligung nie das Falsche und in Lohn und Strafe macht man keine Fehler. Wie kam es denn, daß Yau den Würdigsten auf Erden fand, als er den Schun erprobt hatte? Wie kam es, daß Schun den Würdigsten auf Erden fand, als er den Yü erprobt hatte? Sie entschieden einfach nach dem Ohr. Nach dem Ohr kann man entscheiden, wenn man auf die Grundlagen der Natur zurückzugehen versteht. Nun verstehen es unklare Menschen nicht, auf die Grundlagen der Natur zurückzugehen, und auch die nächste Klasse versteht nicht zu schauen, wodurch die fünf Herrscher und die drei Könige ihre Werke vollendet. Wie sollen sie da erkennen, daß die Zeit ungünstig ist; wie sollen sie erkennen, daß sie selbst jenen Standpunkt noch nicht erreicht haben. Die wahrhaft Großen haben die Erkenntnis; die ihnen zunächst Stehenden wissen wenigstens, daß sie nichts wissen. Wenn man etwas nicht weiß, so kann man fragen; wenn man etwas nicht kann, so kann man es lernen. Ein Sprichwort aus der Dschou-Zeit sagt: Wenn man selbst zur Besinnung kommt und daraufhin die rechte Geistesart lernt, so ist es noch nicht zu spät. Will man Tüchtigkeit lernen, so frage man, worauf die Blüte der drei ersten Dynastien beruhte. Wer aber nichts weiß und sich dünken läßt, er wisse etwas: eine solche Gesinnung ist die Grundlage aller Übel.

Der Ruhm stellt sich nicht von selber ein; große Werke vollenden sich nicht von selbst. Ein Reich besteht nicht grundlos, es bedarf tüchtiger Männer. Der Weg der tüchtigen Männer ist groß und[169] schwer zu erkennen, geheimnisvoll und schwer zu erblicken. Darum, wer einen tüchtigen Menschen sieht und nicht auf ihn lauscht, dem gehen seine Worte nicht zu Herzen. Wenn die Worte nicht zu Herzen gehen, so wird die Erkenntnis nicht tief. Das aber ist das größte Unglück, daß man die Worte der Tüchtigen nicht tief und völlig versteht. Ist der Herrscher tüchtig und die Zeit in Ordnung, so sind die Tüchtigen obenauf. Ist der Herrscher untüchtig und die Zeit in Unordnung, so sind die Tüchtigen unten durch. Heute ist das Haus Dschou erloschen und der Thron des Himmelssohns gestürzt. Es gibt aber keine größere Verwirrung, als wenn es keinen Himmelssohn mehr gibt37. Gibt es keinen Großkönig, so fallen die Starken über die Schwachen her, und die Mehrzahl vergewaltigt die Minderheit, und unaufhörliche Kriege sind die Folge. Unser Zeitalter ist ein Beispiel dafür. Darum sind in heutiger Zeit die Männer, die nach der Wahrheit streben, verborgen auf den Inseln des Meeres38, in den Tälern der Berge, und weilen in den tiefsten, verstecktesten Schluchten. Nur durch einen glücklichen Zufall vermag man sie zu finden. Hat man sie aber gefunden, so gibt es keinen Wunsch, der nicht seine Erfüllung fände, kein Werk, das nicht vollendet würde.

Tai Gung39 (der große Herzog) angelte an der Quelle Dsï, da er zur Zeit des Dschou Sin lebte. Aber der König Wen fand ihn und wurde durch ihn König. König Wen war der Herrscher eines mittleren Lehensstaates. Dschou Sin war Großkönig. Der Großkönig hatte jenen verloren und ein Lehensfürst hatte ihn gefunden, weil der eine ihn verkannt, der andere ihn erkannt hatte. Die große Masse der Menschen braucht man nicht erst zu erkennen, um sie benützen zu können, braucht man nicht erst höflich zu behandeln, um ihnen befehlen zu können. Aber einen Mann, der die Wahrheit besitzt, muß man unter allen Umständen höflich behandeln und erkennen, dann erst wird seine Weisheit und Fähigkeit sich vollständig entfalten. Beispiele hierfür sind die Art wie Schong Schu dem Herzog von Dschou Rat erteilte und dieser auf ihn hörte. Er zeigte die Fähigkeit des Hörens. Oder wie Herzog Huan von Tsi den Unterbeamten Dsï besuchte und der Fürst Wen von We[170] den Tiän Dsï Fang aufsuchte. Alle verstanden es, tüchtige Männer höflich zu behandeln40.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 168-171.
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