4. Kapitel
Hören auf Worte / Ting Yän

[166] Wenn man andere reden hört, so darf man es nicht versäumen, sich ein Urteil zu bilden. Wenn man sich kein Urteil bildet, so vermag man Gut und Schlecht nicht zu unterscheiden; die Unfähigkeit aber, Gut und Schlecht zu unterscheiden, führt zur schlimmsten Verwirrung. Die Herrscher der drei ersten Dynastien vermochten Gut und Schlecht zu unterscheiden, darum beherrschten sie die Welt. Heutzutage verkommt die Welt immer mehr, der Pfad der heiligen Könige gerät in Vergessenheit. Die Fürsten der Gegenwart frönen vielfach nur ihren Lüsten, sie vergrößern ihre Glocken und Pauken, bauen luxuriöse Terrassen und Aussichtsplätze, Gärten und Parks. Dadurch bringen sie die Leute um ihr Geld. Leichtsinnig stürzen sie ihre Untertanen in den Tod, um ihrem Zorn Luft zu machen. Die Alten und Schwachen sterben vor Kälte und Hunger eines frühzeitigen Todes, die Starken und Kräftigen werden ausgerottet, aufgezehrt, erschöpft und vernichtet. Dazu kommt Tod und Gefangenschaft, Angriffskriege gegen unschuldige Staaten, um Land an sich zu reißen, Tötung von schuldlosen Untertanen, um Gewinn zu erzielen. Wünscht man dabei dann doch noch, daß die Ahnentempel in Ruhe bleiben und die Land- und Kornaltäre nicht in Gefahr kommen, so ist das etwas, das mit dem eigenen Beginnen allzu schwer sich vereinigen läßt. Wenn jemand sagen würde: »Jener Mann besitzt viele Schätze, seine Hausmauer ist vom Regen durchnäßt, sein Wachthund ist gestorben, die Umstände[166] sind günstig um einzubrechen«, so würde man ihn sicher verurteilen. Wenn aber jemand sagt: »Jenes Reich leidet unter Hungersnot, seine Mauern und Wälle sind niedrig, seine Verteidigungsmittel gering, man kann es überfallen30«, so verurteilt man ihn nicht: das heißt die Gleichartigkeit dieser Vorschläge verkennen.

In den Urkunden von Dschou heißt es: »Die Vergangenheit kann man nicht zurückholen, die Zukunft darf man nicht erwarten, wer die Gegenwart richtig und klar zu benützen versteht, der heißt der Sohn des Himmels31.« Darum wer heutzutage es verstünde, Gut und Schlecht zu unterscheiden, für den würde es nicht schwer sein, Großkönig zu werden. Gut und Schlecht entscheidet sich auf Grund der Gerechtigkeit, nicht der Neigung. Die Neigung zum Gewinn aber ist jetzt ganz allgemein verbreitet.

Wer in fernen Ländern reist und zehn Tage oder einen Monat unterwegs ist, der freut sich, wenn er jemand Menschenähnliches begegnet. Ist er jahrelang weg und sieht auch nur Dinge, die er im Reich der Mitte stets gesehen, so freut er sich. Je länger jemand weg ist, desto tiefer ist seine Sehnsucht nach Menschen. Heutzutage in unserer verdorbenen Zeit ist es auch schon lange her, daß es keine weisen Könige mehr gab, darum sehnt sich das Volk nach ihnen Tag und Nacht, ohne Unterlaß. Darum wenn ein weiser Fürst oder tüchtiger Staatsmann Liebe zum Volk besitzt, so muß er notwendig darauf achten.

Das Werk geht dem Ruhm voran, die Arbeit geht dem Werk voran, die Worte gehen der Arbeit voran. Wer sich nicht auf die Arbeit versteht, wie vermag der den Worten anderer zuzuhören? Wer sich nicht auf die Umstände versteht, wie will der die richtigen Worte zu treffen vermögen? Wer mit anderen gute Worte spricht, ist der beredt oder nicht?

Dsau Fu hatte bei Tai Dou gelernt. Pong Men hatte bei Gan Ying gelernt. Der erstere hielt sich im Rosselenken nur an die Lehren des Tai Dou; der Letztere hielt sich im Pfeilschießen nur an die Lehren des Gan Ying ohne davon abzuweichen, so daß die Leute dachten, es wären ihnen jene Künste angeboren. Durch dieses Nichtabweichen brachte es der eine dahin, daß er die größten[167] Entfernungen mit größter Geschwindigkeit zurücklegen konnte, der andere, daß er Schädliches beseitigen und Vergewaltigungen verhindern konnte32.

Alle Menschen brauchen ebenfalls eine gewisse Übung des Geistes, ehe sie richtig zu hören vermögen. Wer diese Übung des Geistes nicht besitzt, der muß sie sich verschaffen durch Lernen; daß jemand ohne zu lernen richtig zu hören vermöchte, ist in alter und neuer Zeit noch nie vorgekommen. Ein Beleg dafür ist die Art wie Bo Gui den Hui Dsï33 tadelte, oder die Art wie Gung Sun Ling dem Könige Dschau von Yän riet34 abzurüsten und wie sich das bestätigte, als er heruntergekommen und hilflos war; ferner wie Kung Tschuan den Gung Sun Lung beurteilte35 oder Dsï Dsiän dem Verfahren des Hui Dsï Schwierigkeiten machte. Die Reden dieser vier Männer betrafen vielerlei Dinge, die in anderem Zusammenhang besonders behandelt werden müssen.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 166-168.
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