49. Das Wesen der Nachgiebigkeit[53] 1

Der Berufene hat kein Herz für sich.

Er macht der Leute Herz zu seinem Herzen.

Zu den Guten bin ich gut,

und zu den Nichtguten bin ich auch gut;

denn das LEBEN ist die Güte.

Zu den Treuen bin ich treu,

und zu den Nichttreuen bin ich auch treu;

denn das LEBEN ist die Treue.

Der Berufene lebt in der Welt ganz still,

aber er macht sein Herz weit für die Welt.

Die Leute alle starren auf ihn und horchen.

Der Berufene behandelt sie alle als seine Kinder.


Erklärung

1 Auch dieser Abschnitt steht in einem gewissen Gegensatz zu dem Konfuzianismus. Kung geht wohl soweit, daß er als Maßstab für die Behandlung der andern die eigenen Ansprüche bezw. Wünsche bezeichnet. Laotse geht noch einen Schritt weiter, indem er als Ideal aufstellt, daß jeder so zu behandeln ist, wie es seinem Wesen entspricht, d.h. rein als Selbstzweck. Dies ist der Sinn der zwei ersten Zeilen. »Der Berufene hat kein Herz für sich«, wörtlich »kein Herz mit einer ein für allemal bestimmten Richtung der Handlungsweise«. Daß Laotse sich bewußt ist, ein Paradoxon auszusprechen, drückt er in den letzten Zeilen aus, wo er sagt, daß die Leute alle verwundert auf eine derartige Ausnahmeerscheinung starren.

Interessant ist die Begründung für die unbedingte Güte und Treue, ganz einerlei, wie der andere sich benimmt, im eigenen Wesen (LEBEN), das gar nicht anders kann als sich entsprechend äußern. Es ist die »Vollkommenheit, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist«, die Jesus als Motiv der Feindesliebe verlangt (Matth. 5, 48).

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 53-54.