50. Die enge Pforte des Lebens[54] 1

Ausgehen ist Leben, eingehen ist Tod.

Knechte des Lebens gibt es drei unter zehn,

Knechte des Todes gibt es drei unter zehn.

Menschen, die das Leben suchen und dabei ihre sterbliche Stelle regen,

gibt es auch drei unter zehn.

Warum das?

Weil sie des Lebens Völligkeit erzeugen wollen.

Ich habe wohl gehört:

Wer gut das Leben zu führen weiß,

der wandelt durch's Land

und braucht nicht zu vermeiden Tiger und Nashorn.

Er schreitet durch ein Heer

und braucht nicht zu tragen Panzer und Waffen.

Das Nashorn hat nichts an ihm, da es sein Horn einbohre.

Der Tiger hat nichts, da er seine Krallen einschlage.

Die Waffe hat nichts, das ihre Schneide aufnehme.

Warum das?

Weil er keine sterbliche Stelle hat.


Erklärung

1 »Ausgehen« sc. aus dem Nichtsein ins Sein. »Eingehen« sc. aus dem Sein ins Nichtsein. »Knechte des Lebens« sind die in der aufsteigenden Linie, »Knechte des Todes« sind die auf der absteigenden Linie begriffenen.

»Die das Leben suchen und des Todes Stelle bewegen« sind die, die in ihrem Streben nach Leben das »Verweilende« (vgl. Faust: »Werd' ich zum Augenblicke sagen: verweile doch« ...) suchen und durch dieses Verweilen dem Tod den Angriffspunkt bieten. Das sind zusammen neun Zehntel, die alle dem Tod verfallen sind. »Wer gut das Leben zu führen weiß«, das ist das übrige Zehntel der Menschen, die Weisen. Da alle Gefahren nur das individuelle Ich treffen, sind sie ihnen entnommen und brauchen sie nicht zu fürchten. Mit ihrem individuellen, zufälligen Ich haben sie zugleich »ihre sterbliche Stelle« aufgegeben. Sie leben, ob sie gleich sterben (vgl. Joh. 11, 25). Eine kleine Textvariante findet sich Zeile 13; statt »tragen« haben manche Texte »ausweichen«.

Von dieser Auffassung des Abschnitts verschieden ist die andre, die statt »drei unter zehn« erklärt: 13. Nach ihr gibt es 13 Mächte des Lebens, 13 Mächte des Todes, 13 sterbliche Stellen, doch scheitert diese Auffassung nicht nur am Kontext, sondern auch daran, daß kein Mensch weiß, was aus den geheimnisvollen 3 x 13 zu machen ist. Daß der späteren taoistischen Spielerei mit dieser Auslegung gedient war, läßt sich leicht verstehen. In der Folge hat dann auch das Suchen nach Zaubermedizinen gegen Tigerzahn und Waffenwunden seine Rolle gespielt. Die Boxerbewegung mit ihren Waffensegen ist der letzte Ausläufer dieses Aberglaubens. Daß das alles mit Laotse nichts zu tun hat, braucht nicht erst betont zu werden.

Quelle:
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, S. 54-55.