Kapitel IV.

Von den Namen der einfachen Vorstellungen

[297] § 2. Philalethes. Ich gestehe, die Bildung von Modi immer für willkürlich gehalten zu haben, habe mich aber überzeugt, daß, was die einfachen Vorstellungen und die der Substanzen anbetrifft, diese Vorstellungen außer der Möglichkeit auch ein wirkliches Dasein bezeichnen müßten.

Theophilus. Ich sehe nicht ein, daß dies notwendig ist. Gott hat die Vorstellungen vor der Schöpfung der Gegenstände derselben, und nichts hindert, daß er verständigen Kreaturen solche Vorstellungen auch mitteilen könne; es gibt selbst nicht einmal einen bündigen Beweis, welcher die Gegenstände unserer Sinne und der einfachen Vorstellungen, welche die Sinne uns vergegenwärtigen, als außer uns vorhanden dartut. Dies gilt vor allem hinsichtlich derer, welche mit den Kartesianern und unserem berühmten Autor glauben, unsere einfachen[297] Vorstellungen der sinnlichen Eigenschaften hätten keine Ähnlichkeit mit dem außer uns in den Gegenständen Vorhandenen; es würde danach keinen zwingenden Grund geben, daß diese Vorstellungen in irgend einem wirklichen Dasein begründet wären.

§§ 4. 5. 6. 7. Philalethes. Wenigstens werden Sie mir diesen zweiten Unterschied zwischen den einfachen und den zusammengesetzten Vorstellungen zugeben, daß die Namen der einfachen Vorstellungen nicht definiert werden können, während die der zusammengesetzten Vorstellungen es wohl werden können; denn die Definitionen müssen mehr als einen Ausdruck erhalten, wovon ein jeder eine Vorstellung bezeichnet. So sieht man, was definiert werden kann und was nicht, und warum die Definitionen nicht in das Unendliche gehen können, was bis jetzt niemand, daß ich wüßte, bemerkt hat.

Theophilus. In einer kleinen Abhandlung über die Vorstellungen, die vor ungefähr zwanzig Jahren in die Acta zu Leipzig eingerückt wurde, habe ich auch schon bemerkt, daß die einfachen Ausdrücke keine Nominaldefinition haben können, aber zugleich habe ich auch hinzugefügt, daß, wenn die Ausdrücke nur hinsichtlich unser einfach sind (indem wir nicht das Mittel haben, sie zu analysieren, um zu den ursprünglichen, sie bildenden Wahrnehmungen zu gelangen), wie heiß, kalt, gelb, grün, sie eine Realdefinition erhalten können, welche ihre Ursache erklären würde. So ist die Realdefinition von Grün, das Zusammengesetzte aus dem inniggemischten Blauen und Gelben zu sein. Indessen mag dabei das Grüne einer Nominaldefinition nicht mehr fähig sein, aus der man erkennt, was das Blaue und Gelbe ist. Dagegen können die an sich einfachen Ausdrucke d.h. solche, von denen man einen klaren und deutlichen Begriff hat, keine Definition empfangen, weder eine nominale noch eine reale. Sie werden in jener kleinen, in die Acta von Leipzig eingerückten Abhandlung die Begründung eines großen Teils der den Verstand betretenden Theorie kurz erläutert finden.

§§ 7. 8. Philalethes. Es wäre gut, diesen Punkt zu erläutern und zu bemerken, was definiert werden könnte und was nicht. Ich bin zu glauben versucht, daß sehr oft großer Streit sich erhebt und viel Unsinn sich in die[298] Reden der Menschen einschleicht, weil man nicht daran denkt. Jene berühmten Streitpunkte, von denen man in den Schulen so viel Wesens macht, sind daher gekommen, daß man auf diesen Unterschied in den Vorstellungen nicht gehörig geachtet hat. Auch die größten Meister in der Methode sind genötigt gewesen, den größten Teil der einfachen Vorstellungen undefiniert zu lassen, und wenn sie es zu tun unternommen haben, ist es ihnen nicht geglückt. Hätte z.B. wohl der menschliche Geist ein künstlicheres Gallimathias erfinden können, als jenes, das in folgender Definition des Aristoteles enthalten ist: die Bewegung ist die Tätigkeit eines Wesens in der Möglichkeit, sofern es in derselben ist; § 9 und die Neueren, welche die Bewegung so erklären, daß sie der Übergang aus einem Ort in den anderen sei, setzen nur ein gleichbedeutendes Wort an die Stelle des anderen.

Theophilus. Ich habe schon in einer unserer früheren Unterredungen bemerkt, daß bei Ihnen häufig Vorstellungen als einfache gelten, die es nicht sind. Zu dieses gehört die Bewegung, welche ich für definierbar halte, und die Definition, welche sie als Ortsveränderung erklärt, ist nicht zu verachten. Die Definition des Aristoteles ist nicht so widersinnig, als man denkt, wenn man begreift, daß das griechische Wort kinêsis bei ihm nicht das bezeichnete, was wir Bewegung nennen, sondern was wir durch das Wort Veränderung ausdrücken würden. Daher kommt es, daß er ihm eine so abstrakte und metaphysische Definition gibt, während das, was wir Bewegung nennen, bei ihm phora, latio, genannt wird und unter die Arten der Bewegung (tês kinêseôs) fällt.

§ 10. Philalethes. Sie werden aber die Definition desselben Schriftstellers vom Licht doch wenigstens nicht entschuldigen, daß sie nämlich der Akt (oder die Wirklichkeit) des Durchsichtigen ist.

Theophilus. Ich finde sie mit Ihnen nicht stichhaltig; er bedient sich des Ausdrucks »Akt« (Wirklichkeit) zu oft, der uns doch nicht viel sagt. Das Durchsichtige ist bei ihm ein Medium, durch welches man hindurchsehen kann, und das Licht ihm zufolge dasjenige, was in dem wirklichen Durchgang besteht. Das versteht sich.[299]

§ 11. Philalethes. Wir sind also darüber einverstanden, daß sich von unseren einfachen Vorstellungen keine Nominaldefinitionen geben lassen, wie wir den Geschmack der Ananas aus der Schilderung der Reisenden nicht erkennen könnten, wir müßten denn die Dinge durch die Ohren schmecken können, wie Sancho Pansa das Vermögen besaß, die Dulcinea durch Hörensagen zu sehen, oder wie jener Blinde, welcher von dem Glanz des Scharlachs so viel hatte reden hören, glaubte, er müsse dem Schall der Trompete gleichen.

Theophilus. Ganz recht. Alle Reisenden der Welt würden durch ihre Schilderungen nicht das geben können, was wir einem Edelmann dieses Landes verdanken, welcher drei Meilen von Hannover fast an dem Ufer der Weser Ananas mit Erfolg zieht und das Mittel gefunden hat, sie dergestalt zu vermehren, daß wir sie vielleicht einst ebensogut wie die portugiesischen Apfelsinen auf unserem Grund und Boden haben können, wenn dabei auch der Geschmack sich einigermaßen zu verschlechtern scheint.

§ 12. 13. Philalethes. Ganz anders verhält es sich mit den zuammengesetzen Vorstellungen. Ein Blinder kann verstehen, was Statue sagen will; und ein Mensch, der niemals den Regenbogen gesehen hätte, würde begreifen können, was das ist, wenn er nur die Farben gesehen hätte, aus denen er besteht. § 15. Während aber die einfachen Vorstellungen nicht definierbar sind, sind sie deshalb dennoch die am wenigsten zweifelhaften; denn die Erfahrung leistet mehr als die Definition.

Theophilus. Gleichwohl findet sich hinsichtlich der Vorstellungen, die nur rücksichtlich unserer einfach sind, eine gewisse Schwierigkeit. Es würde z.B. schwierig sein, die Grenzlinien des Blauen und des Grünen genau zu bestimmen und überhaupt die einander sehr naheliegenden Farben zu unterscheiden, während wir genaue Begriffe der Ausdrücke, deren man sich in der Arithmetik und Geometrie bedient, haben können.

§ 16. Philalethes. Auch haben die einfachen Vorstellungen noch die Eigentümlichkeit, daß sie hinsichtlich der Prädikamentallinie, wie die Logiker sie nennen, von der untersten Art bis zum höchsten Geschlecht sehr geringe Unterordnung zeigen. Die Ursache davon ist,[300] daß, da die unterste Art nur eine einfache Vorstellung ist, man von ihr nichts abtrennen kann; man kann z.B. von den Vorstellungen des Weißen und des Roten nichts abtrennen, um eine gemeinsame Erscheinung übrig zu behalten, in der sie übereinstimmen. Darum faßt man sie mit dem Gelben und anderen unter dem Geschlechtsbegriff oder dem Namen Farbe zusammen. Will man dann einen noch allgemeineren Ausdruck bilden, der auch die Töne, die Geschmäcke und die durch Berührung fühlbaren Eigenschaften umfassen soll, so bedient man sich des allgemeinen Ausdrucks Eigenschaft in dem Sinne, welchen man ihm gewöhnlich leiht, um diese Eigenschaften von der Ausdehnung, der Zahl, der Bewegung, der Lust und dem Schmerze zu unterscheiden, die alle auf den Geist wirken und ihre Vorstellungen durch mehr als einen Sinn ihm zuführen.

Theophilus. Ich habe über diese Bemerkung noch etwas zu sagen in der Hoffnung, Sie werden mir hier und anderswo die Gerechtigkeit widerfahren lassen zu glauben, daß es nicht aus einem Geist des Widerspruchs geschieht, sondern daß der Gegenstand selbst es zu fordern scheint. Es ist kein Vorteil, daß die Vorstellungen der sinnlichen Eigenschaften sich so wenig unterordnen lassen und so wenig der Untereinteilungen fähig sind, denn das kommt nur daher, daß wir sie so wenig kennen. Indessen gerade das, was alle Farben miteinander gemein haben, daß sie alle mit den Augen gesehen werden, alle durch die Körper dringen, durch welche eine und die andere unter ihnen scheint, und daß sie von den glatten Körperoberflächen, welche sie nicht durchlassen, zurückgeworfen werden, zeigt, daß man doch etwas von unseren Vorstellungen über sie abtrennen kann. Man kann sogar die Farben mit vielem Recht in äußerste (von denen die eine, nämlich das Weiße, die positive und die andere, nämlich das Schwarze, die negative ist) und in mittlere, welche man noch in einem spezielleren Sinne Farben nennt, teilen. Diese letzteren entstehen mittelst der Refraktion aus dem Licht, und man kann sie noch weiter in solche der konvexen und solche der konkaven Seite des gebrochenen Lichtstrahls einteilen. Diese Einteilungen und Untereinteilungen der Farben sind von nicht geringer Wichtigkeit.

[301] Philalethes. Wie kann man aber Gattungen in den einfachen Vorstellungen finden?

Theophilus. Da sie nur dem Anscheine nach einfach sind, so werden sie von Umständen begleitet, welche mit ihnen in Verknüpfung stehen, wenn auch diese Verknüpfung von uns nicht verstanden werden mag. Diese Umstände nun liefern uns etwas, was der Erklärung und der Analyse fähig ist, was auch einige Hoffnung gewährt, daß man einst die Gründe dieser Erscheinungen wird finden können. Daher kommt es, daß in unseren Wahrnehmungen der sinnlichen Eigenschaften ebensowohl als der sinnlichen Massen eine Art von Pleonasmus ist, und dieser ist, daß wir mehr als einen Begriff von dem nämlichen Gegenstande haben. Das Gold kann auf nominale Weise verschiedenartig definiert werden; man kann sagen: es ist der schwerste der uns bekannten Körper, es ist der dehnbarste, es ist ein schmelzbarer Körper, welcher der Kapelle und dem Scheidewasser widersteht usw. Jedes dieser Merkmale ist gut und genügt zur Erkennung des Goldes, wenigstens vorläufig und im gegenwärtigen Zustande der uns bekannten Körper, bis sich ein noch schwererer findet, wie einige Chemiker es von ihrem Stein der Weisen behaupten, oder bis man jene Luna fixa aufzeigen kann, ein Metall, das die Farbe des Silbers und fast alle die übrigen Eigenschaften des Goldes haben soll, und welches der Ritter Boyle, wie er zu sagen scheint, hergestellt hat. Auch könnte man sagen, daß für alle Gegenstände, welche wir auf dem Wege der Erfahrung kennen, alle unsere Definitionen nur vorläufig sind, wie ich schon vorher bemerkt zu haben glaube. Wir wissen also wahrhaftig nicht auf Grund eines Beweises, ob nicht eine Farbe durch die bloße Reflexion ohne Refraktion entstehen kann, und ob nicht die Farben, welche wir bisher an der konkaven Seite des gewöhnlichen Refraktionswinkels bemerkt haben, sich an der konvexen Seite einer bisher unbekannten Refraktionsweise vorfinden, und umgekehrt. So würde die einfache Vorstellung des Blauen von dem Gattungsbegriff, welchen wir ihr auf unsere Erfahrungen hin zugewiesen haben, getrennt werden müssen. Aber gut ist es, uns an das Blaue, wie wir es haben, und an die es begleitenden Umstände zu halten. Auch ist es etwas wert, daß sie[302] uns Anhaltspunkte geben, um Gattungen und Arten zu bilden.

§ 17. Philalethes. Was sagen Sie aber zu der Bemerkung, wonach die einfachen Vorstellungen, die von dem Dasein der Dinge hergenommen sind, nicht willkürlich sein sollen, während die der gemischten Modi dies gänzlich und die der Substanzen es wenigstens in einem gewissen Sinne sind?

Theophilus. Ich glaube, das Willkürliche ist nur in den Worten und gar nicht in den Vorstellungen. Denn diese drücken nur Möglichkeiten aus. So würde z.B., wenn es auch niemals einen Vatermord gegeben hätte, und alle Gesetzgeber davon ebensosehr wie Solon davon zu sprechen sich gehütet hätten, der Vatermord dennoch ein mögliches Verbrechen und die Vorstellung davon eine wirkliche sein. Denn die Vorstellungen sind in Gott von aller Ewigkeit und sind sogar in uns, ehe wir tatsächlich daran denken, wie ich in unserer Unterredung gezeigt habe. Wenn jemand sie für wirkliche Gedanken der Menschen nehmen will, so steht ihm das frei, aber er würde dann ohne Grund sich dem angenommenen Sprachgebrauch widersetzen.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 297-303.
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