Kapitel II.

Von den Graden unserer Erkenntnis

[381] § 1. Philalethes. Die Erkenntnis ist also intuitiv, wenn der Geist sich der Übereinstimmung zweier Vorstellungen unmittelbar durch sie selbst, ohne Dazwischenkunft irgend einer anderen, bewußt ist. In diesem Falle hat der Geist keine Mühe nötig, um die Wahrheit zu beweisen oder zu prüfen. Es ist so, wie das Auge das Licht sieht, wie der Geist sieht, daß das Weiße nicht das Schwarze, ein Kreis nicht ein Dreieck ist, zwei und und eins drei sind. Diese Erkenntnis ist die klarste und gewisseste, deren die menschliche Schwäche fähig ist; sie wirkt auf eine unwiderstehliche Art, ohne dem Geiste Zögerung zu verstatten. Man erkennt intuitiv, wenn die Vorstellung so im Geiste ist, wie man sich ihrer bewußt ist. Wer eine größere Gewißheit verlangt, weiß nicht, was er verlangt.

Theophilus. Die Grundwahrheiten, welche man durch Intuition weiß, sind wie die abgeleiteten von zwei Klassen. Sie sind entweder Vernunftwahrheiten oder tatsächliche Wahrheiten. Die Vernunftwahrheiten sind notwendige und die tatsächlichen sind zufällige. Die Grundwahrheiten unter den Vernunftwahrheiten sind solche, welche ich mit einem Gesamtnamen identische nenne, weil sie nur dasselbe zu wiederholen scheinen, ohne uns etwas zu lehren. Sie sind bejahend oder verneinend; die bejahenden sind wie die folgenden: Jedes Ding ist, was es ist. Und in sovielen Beispielen als man will,[381] ist A = A, B = B. Ich werde sein, was ich sein werde. Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben. Und. Nichts in Versen wie in Prosa ist nichts oder sehr wenig. Ein gleichseitiges Rechteck ist ein Rechteck. Die Kopulativ-, Disjunktiv- und andere Sätze sind gleichfalls dieser Identitätsform fähig, und ich rechne unter die bejahenden sogar folgenden Satz: Nicht A ist Nicht – A. Und folgenden hypothetischen: Wenn A Nicht – B ist, so folgt, daß A nicht B ist. Ebenso: Wenn Nicht – A BC ist, so folgt, daß Nicht – A, BC ist. Wenn eine Figur, die keinen stumpfen Winkel hat, ein regelmäßiges Dreieck sein kann, so kann eine Figur, die keinen stumpfen Winkel hat, regelmäßig sein.

Ich komme jetzt zu den identischen Verneinungssätzen, die entweder unter das Prinzip des Widerspruches fallen oder disparate sind. Das Prinzip des Widerspruchs ist im allgemeinen: Ein Satz ist entweder wahr oder falsch; dies schließt zwei andere Urteile ein: zuerst, daß das Wahre und das Falsche in demselben Satze nicht zusammen bestehen können, oder daß ein Satz nicht zugleich wahr und falsch sein kann; zweitens, daß das Entgegengesetzte oder die Verneinung des Wahren und Falschen nicht zugleich stattfindet, oder daß es zwischen Wahrem und Falschem kein Mittleres gibt, oder auch, daß ein Satz unmöglich zugleich weder wahr noch falsch sein kann. Dies alles nun ist ebenso im besonderen wahr in allen nur denkbaren Sätzen, z.B.: Was A ist, kann nicht Nicht – A sein. Ebenso: es ist wahr, daß wenn sich ein Mensch findet, er kein Tier ist. Man kann diese Urteile auf viele Arten abändern und sie mit Kopulativ-, Disjunktiv- und anderen Sätzen verbinden.

Was die disparaten Sätze betrifft, so sind dies solche, welche besagen, daß der Gegenstand einer Vorstellung nicht Gegenstand eines anderen sei, z.B. daß die Wärme nicht dasselbe ist wie die Farbe; ebenso, daß der Mensch und das lebende Wesen nicht dasselbe sind, obgleich der Mensch ein lebendes Wesen ist. Alles dies läßt sich bejahen, unabhängig von jeder Probe oder[382] jeder Zurückführung auf das Entgegengesetzte oder auf das Prinzip des Widerspruchs – wenn die Vorstellungen hinlänglich verstanden werden, um nicht eine Analyse dabei nötig zu machen, sonst ist man Irrtümern unterworfen; denn wenn man sagt: ein Dreieck und eine dreiseitige Figur ist nicht dasselbe, so würde man sich irren, weil man bei richtiger Betrachtung findet, daß die drei Seiten und die drei Winkel immer beisammen sind. Wenn man sagt: ein vierseitiges Rechteck und ein Rechteck ist nicht das selbe, würde man sich auch irren, denn man findet, daß bloß die Figur mit vier Seiten alle ihre Winkel als rechte haben kann. Indessen kann man immer in abstracto sagen, daß ein Dreieck keine dreiseitige Figur ist, oder daß die formellen Gründe für das Dreieck und die dreiseitige Figur, wie die Philosophen sagen, nicht dieselben sind. Es sind verschiedene Beziehungen derselben Sache.

Wenn nun jemand das, was wir bisher gesagt haben, mit Geduld angehört hat, wird er sie am Ende verlieren und sagen, daß wir uns mit leeren Sätzen die Zeit vertreiben, und alle identischen Wahrheiten zu nichts dienen. Aber man würde so nur urteilen, wenn man über diese Gegenstände nicht gehörig nachgedacht hat. Die logischen Folgerungen werden z.B. durch die identischen Grundsätze bewiesen, und die Geometer haben das Princip des Widerspruchs in ihren Beweisführungen nötig, welche aufs Unmögliche zurückführen.

Begnügen wir uns hier, die Anwendung der identischen Sätze in den Beweisen aus den logischen Folgerungen zu zeigen. Ich sage also, daß das bloße Prinzip des Widerspruchs genügt, um die zweite und die dritte syllogistische Figur durch die erste nachzuweisen. Man kann z.B. in der ersten Figur nach Modus Barbara schließen:

Alles B ist C,

Alles A ist B,

also Alles A ist C.

Setzen wir, daß der Schluß falsch sei (oder es sei wahr, daß einiges A nicht C ist), so muß auch einer der beiden Vordersätze falsch sein. Setzen wir, daß der Untersatz wahr ist, so muß der Obersatz falsch sein, welcher behauptet, daß alles B C ist. Es muß also das[383] Gegenteil wahr sein: Einiges B ist nicht C. Und dies ist der Schlußsatz eines neuen Syllogismus, der aus der Falschheit des Schlußsatzes und der Wahrheit des einen. Vordersatzes des vorhergehenden gezogen wird. Folgendes ist der neue Syllogismus :

Einiges A ist nicht C.

Dies ist das Gegenteil des als falsch angenommenen vorherigen Schlußsatzes.

Alles A ist B.

Dies ist der vorher als wahr angenommene Untersatz.

Also ist Einiges B nicht C.

Dies ist der nunmehrige wahre Schlußsatz, welcher dem früheren falschen Vordersatz entgegengesetzt ist. Dieser Syllogismus ist aus dem Modus Disamis der dritten Figur, welcher also offenbar und auf den ersten Blick aus dem Modus Barbara der ersten Figur sich ableiten läßt, ohne etwas anderes als das Prinzip des Widerspruchs anzuwenden. Schon in meiner Jugend, als ich diese Dinge genauer untersuchte, machte ich die Bemerkung, daß alle Modi der zweiten und dritten Figur durch diese Methode allein aus der ersten hergeleitet werden können, indem man voraussetzt, daß der Modus der ersten richtig ist und folglich, wenn der Schlußsatz falsch oder sein kontradiktorisches Gegenteil als wahr angenommen und auch einer der Vordersätze als wahr angenommen wird, das kontradiktorische Gegenteil des anderen Vordersatzes wahr sein muß. Allerdings bedient man sich in den logischen Schulen lieber der Umkehrungen, um die weniger ursprünglichen Figuren aus der ersten, welche die ursprüngliche ist, abzuleiten, weil dies für die Schüler bequemer scheint. Für diejenigen aber, welche die Beweisgründe suchen, wo man so wenig als möglich Voraussetzungen anwenden muß, wird man nicht durch die Voraussetzung der Umkehrung dasjenige beweisen, was man durch das Grundprinzip allein beweisen kann; und dies ist das des Widerspruchs, welches weiter nichts voraussetzt. Ich habe sogar folgende bemerkenswerte Beobachtung gemacht, daß nämlich allein diejenigen weniger ursprünglichen Figuren, welche man direkte nennt, nämlich die zweite oder dritte, ganz allein durch das Prinzip des Widerspruchs bewiesen werden können; die weniger ursprüngliche indirekte[384] Figur aber, welches die vierte ist, und deren Erfindung die Araber dem Galen zuschreiben, obwohl wir in dessen uns noch übrigen Schriften nichts davon finden und auch nicht in den übrigen griechischen Autoren, diese vierte sage ich, hat den Nachteil, daß sie aus der ersten oder ursprünglichen nicht durch diese Methode allein gezogen werden kann, sondern daß man noch eine andere Voraussetzung, nämlich die Umkehrungen, anwenden muß, so daß sie um einen Grad ferner steht, als die zweite und dritte, welche sich gleich verhalten und von der ersten gleichmäßig entfernt sind, während die vierte noch die zweite und dritte nötig hat, um bewiesen zu werden. Denn es trifft sich gerade, daß die Umkehrungen, deren sie nötig hat, aus der zweiten und dritten Figur bewiesen werden, welche ihrerseits von Umkehrungen unabhängig sind, wie ich soeben gezeigt habe. Schon Petrus Ramus hatte diese Bemerkung über die Beweisbarkeit der Umkehrung durch diese Figuren gemacht und warf, wenn ich mich nicht irre, den Logikern, welche sich der Umkehrung bedienen, um diese Figuren zu beweisen, einen Zirkelschluß vor, obgleich es nicht sowohl ein Zirkelschluß war, den er ihnen hätte vorwerfen sollen (denn sie bedienten sich ihrerseits gar nicht dieser Figuren, um die Umkehrungen zu rechtfertigen), als ein Hysteron Proteron oder das Spätere früher, weil die Umkehrungen eher durch diese Figuren, als diese Figuren durch die Umkehrungen nachgewiesen zu werden nötig hätten. Da aber dieser Nachweis der Umkehrungen noch die Anwendung der bejahenden Identitätssätze, welche einige für ganz nichtig ansehen, zeigt, so wird es um so passender sein, sie hierher zu setzen. Ich will nur von den Umkehrungen ohne Kontraposition sprechen, die mir hier genügen, und welche entweder einfache oder, wie man sie nennt, per accidens sind.

Die einfachen Umkehrungen sind von zwei Arten, die der allgemeinen Negation, z.B. kein Quadrat hat einen stumpfen Winkel, also ist keine Figur mit stumpfem Winkel ein Quadrat; und die der besonderen Bejahung, z.B. einige Dreiecke haben einen stumpfen Winkel, also sind einige Figuren mit stumpfem Winkel dreieckig. Die Umkehrung per accidens aber, wie man sie nennt, betrifft die allgemeine[385] Bejahung, z.B. jedes Quadrat ist ein Rechteck, also sind einige Rechtecke Quadrate. Hier versteht man unter einem Rechteck immer eine Figur, deren Winkel sämtlich rechte sind und unter einem Quadrat ein regelmäßiges Viereck.

Jetzt handelt es sich darum, diese drei Arten von Umkehrungen zu zeigen, wie folgt:

1. Kein A ist B; also kein B ist A.

2. Einiges A ist B; also einiges B ist A.

3. Alles A ist B; also einiges B ist A.

Nachweis der ersten Umkehrung im Modus Cesare, welcher der zweiten Figur angehört:

Kein A ist B,

Alles A ist B,

also Kein B ist A.

Nachweis der zweiten Umkehrung im Modus Datisi, welcher der dritten Figur angehört:

Alles A ist A,

Einiges A ist B,

also Einiges B ist A.

Nachweis der dritten Umkehrung, im Modus Darapti, welcher der dritten Figur angehört:

Alles A ist A,

Alles A ist B,

also Einiges B ist A.

Dies zeigt, daß die reinsten und scheinbar unnützesten identischen Sätze einen großen Nutzen im abstrakten und allgemeinen haben, und dies lehrt uns, daß man keine Wahrheit verachten darf. Was jenen von Ihnen noch als ein Beispiel intuitiver Erkenntnisse angeführten Satz anbetrifft, daß drei so viel ist, als zwei und eins, so will ich bemerken, daß dies nur die Definition des Ausdrucks drei ist, denn die einfachsten Definitionen der Zahlen werden so gebildet: zwei ist eins und eins; drei ist zwei und eins; vier ist drei und eins usw. fort. Allerdings steckt darin ein verhülltes Urteil, wie ich schon bemerkt habe, nämlich daß diese Vorstellungen möglich sind; und dies wird hier intuitiv erkannt. Man kann daher sagen, daß eine intuitive Erkenntnis in den Definitionen enthalten ist, wenn ihre Möglichkeit sofort[386] einleuchtet. Und auf diese Art enthalten alle adäquaten Definitionen ursprüngliche Vernunftwahrheiten und folglich intuitive Erkenntnisse. Endlich kann man im allgemeinen sagen, daß alle ursprünglichen Vernunftwahrheiten als unmittelbare aus einer Unmittelbarkeit von Vorstellungen stammen.

Was die ursprünglichen, tatsächlichen Wahrheiten anbetrifft, so sind dies die unmittelbaren inneren Erfahrungen aus einer Gefühlsunmittelbarkeit. Hierher gehört die erste Wahrheit der Kartesianer oder des heiligen Augustin: Ich denke, also bin ich, d.h. ich hin ein Wesen, das denkt. Man muß aber wissen, daß ebenso wie die identischen Sätze allgemeine oder besondere, und wie die einen ebenso klar als die anderen sind – weil es ebensoviel ist, zu sagen, daß A A ist, als zu sagen, daß ein Ding das ist, was es ist, – dies mit den ersten tatsächlichen Wahrheiten sich ebenso verhält. Denn mir ist nicht allein unmittelbar klar, daß ich denke, sondern es ist mir ganz ebenso klar, daß ich verschiedene Gedanken habe, daß ich bald A und bald B denke usw. Also ist das Kartesianische Prinzip gültig, aber es ist nicht das einzige seiner Art. Man sieht daraus, daß alle ursprünglichen Vernunft oder auch tatsächlichen Wahrheiten dies miteinander gemein haben, daß man sie nicht durch etwas Gewisseres beweisen kann.

§ 2. Philalethes. Ich bin ganz damit einverstanden, daß Sie das, was ich hinsichtlich der intuitiven Erkenntnisse nur angedeutet habe, weiter ausführen. Die demonstrative Erkenntnis ist also nur eine Verkettung der intuitiven Erkenntnisse in allen Verknüpfungen der mittelbaren Vorstellungen. Denn oft kann der Geist die Vorstellungen nicht miteinander verbinden, vergleichen oder in unmittelbare Beziehung setzen, was ihn nötigt, sich anderer vermittelnder Vorstellungen (einer oder mehrerer) zu bedienen, um die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung, welche gesucht wird, zu entdecken, und dies nennt man eben schließen, um z.B. zu beweisen, daß die drei Winkel eines Dreiecks zweien rechten gleich sind, sucht man einige andere Winkel, welche man als entweder den drei Winkeln des Dreiecks oder den beiden rechten gleich erkennt. § 3. Diese Vorstellungen, welche man[387] dazwischen treten läßt, heißen Beweise, und die Anlage des Geistes, sie zu finden, Scharfsinn. § 4. Und selbst wenn sie gefunden sind, erwirbt mäh solche Erkenntnis nicht ohne Mühe und Aufmerksamkeit, auch nicht durch einen bloßen flüchtigen Blick, denn man maß sich auf eine fortschreitende Reihe von Vorstellungen einlassen, die nur allmählich und schrittweise entsteht. § 5. Auch geht dem Beweisverfahren der Zweifel voraus. § 6. Diese demonstrative Erkenntnis ist weniger klar als die intuitive. Wie das durch mehrere Spiegel von dem einen zum andern geworfene Bild bei jeder Zurückwerfung schwächer wird und nicht mehr gleich so erkennbar ist, besonders für schwache Augen – ebenso verhält es sich mit einer durch eine lange Folge von Beweisen hervorgebrachten Erkenntnis. § 7. Und obwohl jeder Schritt, den die Vernunft beim Beweisen tut, eine intuitive oder einfach anschauende Erkenntnis ist, so nehmen nichtsdestoweniger die Menschen in dieser langen Folge von Beweisen, da das Gedächtnis diese Verbindung von Vorstellungen nicht so genau behalt, häufig Falschheiten für Beweise.

Theophilus. Außer dem natürlichen oder durch Übung erlangten Scharfsinn gibt es eine Kunst, die mittleren Vorstellungen (den Medius) zu finden, und diese Kunst ist die Analyse. Nun ist zu bemerken, daß es sich hierbei bald darum handelt, die Wahrheit oder Falschheit eines gegebenen Satzes zu finden, was nichts anderes ist, als die Beantwortung der Frage: An? d.h. ist es so oder nicht? Bald handelt es sich, auf die – unter übrigens gleichen Umständen – schwerere Frage zu antworten, wo man z.B. fragt: wodurch und wie? und wo man noch mehr zu ergänzen hat. Dies sind eigentlich die von Mathematikern »Probleme« genannten Fragen, welche einen Teil des Satzes unentschieden lassen, wie, wenn man einen Spiegel zu finden verlangt, der alle Sonnenstrahlen auf einen Punkt vereinigt, d.h. man fragt nach seiner Gestalt oder wie er sein muß. Was die erste Art von Fragen anbetrifft, wo es sich bloß um das Wahre und Falsche handelt und im Subjekt oder Prädikat nichts weiter zu ergänzen ist, findet weniger Erfindung statt, indessen doch einige, und das bloße Urteil genügt dazu nicht. Allerdings kann jemand, der Urteil hat d.h. welcher[388] der Aufmerksamkeit und Überlegung fähig ist und die nötige Muße, Geduld und Freiheit des Geistes hat, den schwersten Beweis verstehen, wenn er ihm gehörig vorgelegt wird. Aber der scharfsinnigste Mensch auf Erden wird ohne andere Hilfe niemals diesen Beweis zu finden imstande sein. Also ist auch noch Erfindung dabei, und ihrer gab es bei den Geometern sonst mehr als jetzt. Denn als die Analyse noch weniger geübt wurde, brauchte man mehr Scharfsinn, um zum Ziel zu gelangen, und deshalb haben noch einige Geometer vom alten Schlage oder andere, welche in den neuen Methoden noch nicht genug geübt sind, Wunder was zu tun geglaubt, wenn sie den Beweis irgend eines Lehrsatzes fanden, den andere vor ihnen erfunden hatten. Aber die in der Kunst des Erfindens Geübten wissen, wann dies schätzbar ist oder nicht. Wenn z.B. jemand die Quadratur eines von einer krummen und einer geraden Linie eingeschlossenen Baumes veröffentlicht, welche in allen ihren Segmenten gelingt, und die ich eine allgemeine nenne, so ist es nach unseren Methoden immer in unserer Macht, den Beweis davon zu finden, wenn man sich nur die Mühe dazu nehmen will. Es gibt aber besondere Quadraturen gewisser Abschnitte, wo die Sache so verwickelt sein kann, daß man es nicht immer in seiner Gewalt hat, sie zu entwirren. Auch geschieht es, daß die Induktion uns in den Zahlen und Figuren auf Wahrheiten bringt, deren allgemeinen Grund man noch nicht entdeckt hat. Denn es fehlt viel daran, daß man zur Vollendung der Analyse in der Geometrie und Zahlentheorie gelangt sei, wie mehrere auf die Prahlereien einiger sonst ausgezeichneter, aber ein wenig vorschneller oder zu ehrgeiziger Männer hin sich eingebildet haben.

Viel schwerer aber ist es, bedeutende Wahrheiten zu finden, und noch mehr, die Mittel zu finden, das, was man sucht, gerade dann, wann man es sucht, zu vollbringen, als den Beweis der von einem anderen entdeckten Wahrheiten. Man gelangt oft zu schönen Wahrheiten durch die Synthese, indem man vom Einfachen zum Zusammengesetzten fortschreitet; aber wenn es sich darum handelt, gerade das Mittel zu finden, um das, was man sich vorsetzt, zu vollbringen, so genügt gewöhnlich die Synthese nicht, und oft würde dies heißen, ein Meer austrinken,[389] wenn man alle die erforderlichen Kombinationen machen wollte. Freilich könnte man sich dabei häufig durch die Methode der Ausschließungen helfen, welche einen guten Teil der unnützen Kombinationen fortschafft, und oft läßt die Natur der Sache keine andere Methode zu. Aber man hat nicht immer die Mittel, sie fördersam anzuwenden. Die Analyse also hat uns in diesem Labyrinth den Faden zu geben, wenn dies möglich ist, denn es gibt Fälle, wo die Natur der Frage selbst fordert, daß man überall herumtasten geht, indem die Abkürzungen nicht immer möglich sind.

§ 8. Philalethes. Da man nun beim Beweisen immer die intuitiven Erkenntnisse voraussetzt, so hat dies, denke ich, zu dem Grundsatze Veranlassung gegeben: daß jeder Schluß aus schon Bekanntem und Zugestandenem hervorgeht (ex praecognitis et praeconcessis). Wir werden aber Gelegenheit haben, die in diesem Grundsätze enthaltene Unrichtigkeit zu besprechen, wenn wir von den Maximen handeln werden, welche man fälschlich für die Grundlage unserer Beweise nimmt.

Theophilus. Ich bin neugierig in vernehmen, welche Unrichtigkeit Sie in einem Grundsatze finden können, der so vernünftig scheint. Mußte man immer alles auf intuitive Erkenntnisse zurückfahren, so würden die Beweise oft von unerträglicher Weitschweifigkeit sein. Aus diesem Grunde haben die Mathematiker die Geschicklichkeit gehabt, die Schwierigkeiten zu teilen und die dazwischenfallenden Sätze besonders zu beweisen. Und auch dabei gibt es noch Kunstgriffe, denn da die vermittelnden Wahrheiten (welche man die Lemmata – hinzugenommene Lehrsätze – nennt, da sie nebenher zu gehen scheinen) auf mancherlei Weise ausgefunden werden können, so ist es zur Unterstützung der Fassungskraft und des Gedächtnisses gut, diejenigen davon auszuwählen, welche zur Abkürzung dienen und für sich allein behaltenswert und des Beweises würdig erscheinen. Aber es gibt noch ein anderes Hindernis, daß es nämlich nicht leicht ist, alle Grundsätze zu beweisen und die Schlüsse gänzlich auf intuitive Erkenntnisse zurückzuführen. Hätte man auch darauf warten wollen, so würden wir vielleicht die Wissenschaft der Geometrie noch nicht besitzen. Aber wir haben darüber schon in unseren ersten Unterredungen gesprochen[390] und werden Gelegenheit haben, noch mehr davon zu reden.

§ 9. Philalethes. Wir werden bald dazu kommen; jetzt werde ich nur noch bemerken, was ich schon mehr als einmal berührt habe, daß der allgemeinen Meinung nach nur die mathematischen Wissenschaften einer auf Beweis beruhenden Gewißheit fähig seien; aber da die Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung, welche intuitiv erkannt werden kann, nicht ein den Vorstellungen der Zahlen und Figuren allein anhaftendes Privilegium ist, so mag es vielleicht aus einem Mangel an Fleiß von unserer Seite geschehen sein, daß die Mathematik allein auf Schlüsse gebracht ist. § 10. Verschiedene Gründe haben dazu beigetragen. Die mathematischen Wissenschaften sind von sehr allgemeinem Nutzen, und der geringste Unterschied der Größe ist sehr leicht zu erkennen. § 11. Diejenigen übrigen einfachen Vorstellungen, welche in uns hervorgerufene Erscheinungen oder Zustände sind, haben zwar kein genaues Maß hinsichtlich ihrer verschiedenen Grade, (§ 12) aber wenn die Verschiedenheit solcher z.B. sinnlichen Qualitäten groß genug ist, um im Geiste klar unterschiedene Vorstellungen zu erwecken, wie etwa die des Blauen und Boten, so sind auch diese des Beweises ebenso fähig, als die der Zahl und der Ausdehnung.

Theophilus. Es gibt recht ansehnliche Beispiele von Schlußverfahren außer der Mathematik, und man kann sagen, daß Aristoteles deren schon in seiner ersten Analytik gegeben hat. In der Tat ist die Logik ebenso beweisfähig als die Geometrie, und man kann sagen, daß die Logik der Geometer oder die Schlußmethoden, welche Euklides bei seiner Lehre von den Sätzen erläutert und aufgestellt hat, eine besondere Erweiterung oder Entwickelung der allgemeinen Logik bilden. Archimedes ist der erste, der in seinen uns erhaltenen Schriften die Kunst des Beweisens bei einer Gelegenheit ausgeübt hat, wo er Physik behandelt, wie er in seinem Buch vom Gleichgewicht getan hat. Ferner kann man sagen, daß die Rechtsgelehrten mehrere gute Beweisführungen enthalten, vor allem die alten römischen Juristen, deren Bruchstücke uns in den Pandekten aufbewahrt worden sind. Ich bin durchaus der Ansicht des Laurentius Valla, der diese Schriftsteller nicht genug bewundern kann unter anderem,[391] weil sie alle sich so richtig und präzis ausdrücken und in der Tat auf eine Weise argumentieren, die sich der beweisenden gar sehr nähert und oft gänzlich die beweisende ist. Auch weiß ich keine Wissenschaft außer der des Rechte und, des Krieges, in welcher die Römer etwas Bedeutendes dem von den Griechen Empfangenen hinzugefügt hätten.


Tu regere imperio populos, Romane, memento;

Hae tibi erunt artes pacisque imponere morem,

Parcere subjectis et debellare superbos.


Diese Präzision des Ausdrucks ist der Grund, daß alle diese Juristen der Pandekten, obgleich sie der Zeit nach mitunter einander ganz fern stehen, doch ein einziger Autor in sein scheinen, und man viel Mähe haben würde, sie zu unterscheiden, wenn die Schriftstellernamen nicht an der Spitze der Auszüge ständen, wie man Euklides, Archimedes und Apollonius auch mit Mühe unterscheiden würde, wenn man ihre Beweise über Gegenstände liest, welche der eine ebensogut wie der andere berührt hat. Man muß gestehen, daß die Griechen in der Mathematik mit aller nur möglichen Schärfe argumentiert und dem Menschengeschlecht die Vorbilder der Kunst zu beweisen hinterlassen haben, denn wenn die Babylonier und Ägypter eine ein wenig mehr als erfahrungsmäßige Geometrie gehabt haben, so ist davon wenigstens nichts mehr übrig; aber zum Erstaunen ist es, daß eben diese Griechen, sobald sie sich nur ein wenig von den Zahlen und Figuren entfernten, gleich so weit davon abgekommen sind, indem sie zur Philosophie übergingen. Denn auffallenderweise sieht man im Plato und im Aristoteles (die erste Analytik ausgenommen) nicht einen Schatten vom Beweise und ebensowenig bei allen übrigen alten Philosophen. Proklus war ein guter Geometer, aber wenn er von Philosophie spricht, scheint er ein anderer Mensch zu sein. Aus diesem Grunde ist es denn auch viel leichter gewesen, in der Mathematik mit Beweisverfahren zu argumentieren, und zwar hauptsächlich darum, weil dabei die Erfahrung in jedem Augenblick für die Argumentation Gewähr leistet, wie es auch bei den Schlußfiguren der Fall ist Aber in der Metaphysik und Moral findet dieser Parallelismus von Gründen und Erfahrungen nicht statt, und in der Physik[392] erfordern die Erfahrungen Mühe und Ausgaben. So haben denn die Menschen gleich von vornherein in ihrer Aufmerksamkeit nachgelassen und sind folglich in die Irre geraten, nachdem sie sich von diesem treuen Führer, der Erfahrung, entfernt hatten, welcher sie auf ihrem Wege unterstützte und aufrechthielt, wie jene kleine rollende Maschine, welche die Kinder verhindert, beim Gehen zu fallen. Dabei fand eine gewisse Stellvertretung statt, was man aber nicht genug bemerkt hat und noch jetzt nicht genug bemerkt. Ich werde seiner Zeit davon reden. Übrigens sind Blau und Rot nicht imstande, Gelegenheit zu Beweisen mittels der Vorstellungen, die wir von ihnen haben, zu liefern, weil diese Vorstellungen eben verworrene sind. Diese Farben liefern zu Schlüssen nur insofern Veranlassung, als man sie erfahrungsmäßig von gewissen deutlichen Vorstellungen begleitet findet, deren Zusammenhang aber mit den sie betreffenden Vorstellungen nicht klar ist.

§ 14. Philalethes. Außer der Intuition und Demonstration (Beweisführung), welches die zwei Stufen unserer Erkenntnis sind, ist alles übrige Glaube oder Meinung und nicht Erkenntnis, wenigstens hinsichtlich aller allgemeinen Wahrheiten. Aber der Geist hat noch eine andere Art der Wahrnehmung, welche das besondere Dasein der endlichen Wesen außer uns betrifft, und das ist die sinnliche Erkenntnis.

Theophilus. Diejenige Meinung, welche in der Wahrscheinlichkeit begründet ist, verdient vielleicht auch den Namen der Erkenntnis, sonst würden fast die gesamte historische Erkenntnis und viele andere wegfallen. Aber ohne über Worte zu streiten, nehme ich an, daß die Untersuchung der Wahrscheinlichkeitsgrade sehr wichtig sein würde und uns noch fehlt, was ein großer Mangel in unseren Logiken ist. Denn wenn man nicht schlechthin eine Frage entscheiden kann, so könnte man immerhin den Grad der Wahrscheinlichkeit aus den vorliegenden Umständen (ex datis) bestimmen und folglich vernunftgemäß entscheiden, welche Wahl zu empfehlen ist. Wenn die jetzigen Moralisten (ich verstehe darunter die weisesten, solche wie den neuen Jesuitengeneral) das Gewisseste mit dem Wahrscheinlichsten verbinden und das Gewisse sogar dem Wahrscheinlichen[393] vorziehen, so entfernen sie sich in der Tat nicht von dem Wahrscheinlichsten, denn die Frage der Gewißheit dabei ist eben die nach der geringen Wahrscheinlichkeit des zu befürchtenden Übels. Der Fehler der in diesem Artikel fahrlässigen Moralisten hat zum großen Teile darin bestanden, daß sie einen zu beschränkten und zu unzureichenden Begriff des Wahrscheinlichen gehabt haben, welches sie mit dem Endoxon oder dem Angenommenen des Aristoteles verwechselt haben, denn Aristoteles hat in seiner Topik sich nur den Meinungen anderer, wie Redner und Sophisten, anbequemen wollen. »Endoxon« ist ihm das, was von der größten Zahl oder von den besten Autoritäten angenommen ist: er hat Unrecht, seine Topik darauf beschränkt zu haben, und dieser Gesichtspunkt ist der Grund, daß er sich nur an angenommene, größtenteils unsichere Grundsätze gehalten hat, als ob man nur mittels eines Quodlibets oder Sprichwörter Schlüsse ziehen wollte. Das Wahrscheinliche aber hat einen größeren Umfang; man muß es aus der Natur der Dinge gewinnen, und die Meinung derer, deren Autorität von Gewicht ist, ist nur einer der Umstände, welche dazu beitragen können, eine Meinung wahrscheinlich zu machen, aber nicht von der Art, die Wahrscheinlichkeit in ihrer Ganzheit voll zu machen. Während Kopernikus fast allein seiner Meinung war, war sie immerhin unvergleichlich wahrscheinlicher, als die der übrigen Menschheit. Ich weiß also nicht, ob die Aufrichtung der Kunst, die Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen, nicht nützlicher sein möchte, als ein guter Teil unserer demonstrativen Wissenschaften; und ich habe mehr als einmal an sie gedacht.

Philalethes. Die sinnliche Erkenntnis, oder diejenige, welche das Dasein der besonderen Wesen außer uns dartut, geht über die bloße Wahrscheinlichkeit hinaus, aber sie hat nicht die ganze Gewißheit der beiden eben besprochenen Erkenntnisgrade. Daß die von uns empfangene Vorstellung eines äußeren Gegenstandes in unserem Geiste sei – nichts ist sicherer als das, und dies ist eine intuitive Erkenntnis; aber zu wissen, ob wir von da aus sicher schließen dürfen auf ein dieser Vorstellung entsprechendes Dasein eines Dinges außer uns, das kann nach der Meinung gewisser Leute in Zweifel[394] gezogen werden, weil die Menschen dergleichen Vorstellungen ihres Geistes haben können, wenn nichts davon in der Wirklichkeit da ist. Was mich anbetrifft, so glaube ich dennoch, daß damit ein Grad von Evidenz verbunden ist, welcher uns über den Zweifel erhebt. Man ist unwiderstehlich davon überzeugt, daß zwischen den Vorstellungen, welche man hat, wenn man am Tage die Sonne betrachtet und wenn man nachts an dies Gestirn denkt, ein großer Unterschied obwaltet; und die mit Hilfe des Gedächtnisses wiedererneuerte Vorstellung ist sehr verschieden von derjenigen, welche uns durch die Vermittlung der Sinne tatsächlich entsteht. Will jemand sagen, daß ein Traum die nämliche Wirkung haben kann, so antworte ich zuerst, daß nicht viel daran gelegen ist, diesen Zweifel zu heben, weil Vernunftschlüsse, wenn alles ein Traum ist, ohne Nutzen sind, da Wahrheit und Erkenntnis dann gar nicht mehr stattfinden. An zweiter Stelle wird er meiner Ansicht nach den Unterschied zwischen Träumen, in einem Feuer zu sein, und dem wirklich im Feuer-Sein, anerkennen. Und wenn er dabei bleibt, als Skeptiker sich zu zeigen, so werde ich ihm sagen, es genüge die si chere Beobachtung, daß Lust und Schmerz die Folge der Einwirkung gewisser Gegenstände, wahrer oder erträumter, auf uns sind, und daß diese Gewißheit ebenso groß wie unser Glück und unser Unglück ist: zwei Dinge, über welche unser Interesse nicht hinausgeht. So glaube ich denn, daß wir drei Arten von Erkenntnissen rechnen dürfen: die intuitive, die demonstrative und die sinnliche.

Theophilus. Ich glaube, Sie haben recht, und denke sogar, daß sie diesen Arten der Gewißheit oder der gewissen Erkenntnis die des Wahrscheinlichen hinzufügen können; so wird es zwei Arten von Erkenntnissen geben, wie es zwei Arten von Beweisen gibt, davon die einen die Gewißheit hervorrufen und die anderen nur bis zur Wahrscheinlichkeit reichen. Aber lassen Sie uns zu dem Streite kommen, welchen die Skeptiker mit den Dogmatikern über das Dasein der Dinge außer uns haben. Wir haben denselben schon berührt, müssen aber jetzt darauf zurückkommen. Ich habe ehemals mündlich und schriftlich darüber sehr viel mit dem seligen Abbé Foucher, Kanonikus von Dijon, gestritten,[395] einem gelehrten und scharfsinnigen, aber ein wenig zu sehr für seine Akademiker eingenommenen Manne, deren Schule er gern wiederbelebt hätte, wie Gassendi die der Epikureer wieder auf die Bühne gebracht hatte. Seine Kritik der »Untersuchung der Wahrheit« und die übrigen kleinen nachher von ihm veröffentlichten Abhandlungen haben ihren Verfasser von einer sehr vorteilhaften Seite bekannt gemacht. Er hat auch in das Journal des Savans Einwürfe gegen mein System der vorherbestimmten Harmonie einrücken lassen, als ich dasselbe nach mehrjähriger Überlegung in die Öffentlichkeit brachte; aber der Tod hat ihn verhindert, auf meine Antwort zu erwidern. Er predigte immer, daß man sich vor Vorurteilen hüten und große Genauigkeit anwenden müsse; aber außerdem, daß er selbst es sich nicht zur Pflicht machte, das, was er anderen riet, auszuführen, worin er wohl zu entschuldigen war, schien er mir auch nicht darauf acht zu haben, ob ein anderer es tat, ohne Zweifel voraussetzend, daß niemand es je tun würde. Ihm nun machte ich bemerklich, daß die Wahrheit der sinnlichen Dinge nur in der Verknüpfung der Erscheinungen, die ihren Grund haben müßte, bestände, und daß dieser Umstand sie von den Träumen unterschiede, aber daß die Wahrheit unseres Daseins und der Ursache der Erscheinungen von einer anderen Beschaffenheit sei, weil sie auf die Annahme von Substanzen führe; und daß die Skeptiker das, was sie Gutes behaupteten, dadurch wieder verdürben, daß sie es zu weit trieben und ihre Zweifel selbst auf die unmittelbaren Erfahrungen und bis auf die geometrischen Wahrheiten (was Foucher übrigens nicht tat) und auf die übrigen Vernunftwahrheiten ausdehnen wollten, was etwas zu weit gegangen ist.

Um aber zu Ihnen zurückzukehren, so haben Sie recht zu sagen, daß für gewöhnlich zwischen sinnlichen Empfindungen und Phantasiebildern ein Unterschied sei, aber die Skeptiker werden sagen, daß das Mehr oder Weniger dabei im Wesentlichen nichts ändert. Obgleich übrigens die sinnlichen Empfindungen lebhafter als die Phantasiebilder zu sein pflegen, so weiß man doch, daß es Fälle gibt, wo Personen von starker Einbildungskraft durch ihre Phantasiebilder ebenso oder vielleicht mehr als ein anderer durch die Wirklichkeit gefesselt werden.[396] Ich halte daher für das wahre Kriterion hinsichtlich der Sinnengegenstände den Zusammenhang der Erscheinungen, d.h. die Verknüpfung dessen, was an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten und in der Erfahrung der verschiedenen Menschen vor sich geht, welche in dieser Hinsicht einander selbst sehr wichtige Erscheinungen sind. Die Verbindung der Erscheinungen aber, welche die tatsächlichen Wahrheiten in Hinsicht der sinnlichen Dinge außer uns verbürgt, wird mittels der Vernunftwahrheiten bewährt, wie die Erscheinungen der Optik durch die Geometrie ihre Aufklärung erhalten. Allerdings muß man zugeben, daß diese ganze Gewißheit nicht eine des höchsten Grades ist, wie Sie ganz richtig anerkannt haben. Denn es ist, metaphysisch gesprochen, nicht unmöglich, daß es einen so konsequenten und langandauernden Traum geben kann, wie das Leben eines Menschen; aber das ist etwas so Vernunftwidriges, als wenn man sich ein Buch denken wollte, das durch Zufall gebildet würde, indem man die Drucklettern bunt durcheinander wirft. Übrigens ist, wenn die Erscheinungen nur verbunden sind, wirklich auch nichts daran gelegen, ob man sie Träume nennt oder nicht, weil die Erfahrung zeigt, daß man sich in den um der Erscheinungen willen genommenen Maßregeln nicht täuscht, wenn sie nach Maßgabe der Vernunftwahrheiten genommen werden.

§ 15. Philalethes. Übrigens ist die Erkenntnis nicht immer klar, wenngleich die Vorstellungen es sein mögen. Jemand, welcher von den Winkeln eines Dreiecks und dem Gleichsein derselben mit zwei rechten so klare Vorstellungen hat, wie irgend ein Mathematiker in der Welt, kann gleichwohl eine sehr dunkle Erkenntnis ihrer Übereinstimmung miteinander haben.

Theophilus. Wenn die Vorstellungen gründlich verstanden werden, leuchten gewöhnlich auch ihre Übereinstimmungen und Nichtübereinstimmungen ein. Indessen gibt es, wie ich zugestehe, dabei mitunter so zusammengesetzte, daß es viel Mühe macht, das darin Verborgene zu entwickeln; und insofern können gewisse Übereinstimmungen oder Nichtübereinstimmungen noch dunkel bleiben. Was Ihr Beispiel betrifft, so bemerke ich, daß wenn man die Winkel des Dreiecks in der Phantasie hat,[397] man darum noch nicht eine klare Vorstellung davon zu haben braucht. Die Einbildungskraft kann uns kein gemeinsames Bild von spitz- und stumpfwinkligen Dreiecken liefern, und doch ist beiden die Vorstellung des Dreiecks gemeinschaftlich: also besteht diese Vorstellung nicht in den Phantasiebildern, und es ist auch nicht so leicht, wie man denken könnte, die Winkel eines Dreiecks gründlich zu verstehen.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 381-398.
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Robert Guiskard. Fragment

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Das Trauerspiel um den normannischen Herzog in dessen Lager vor Konstantinopel die Pest wütet stellt die Frage nach der Legitimation von Macht und Herrschaft. Kleist zeichnet in dem - bereits 1802 begonnenen, doch bis zu seinem Tode 1811 Fragment gebliebenen - Stück deutliche Parallelen zu Napoleon, dessen Eroberung Akkas 1799 am Ausbruch der Pest scheiterte.

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