Kapitel VII.

Von den Sätzen, welche man Maximen oder Axiome nennt

[436] § 1. Philalethes. Es gibt eine Art von Sätzen, welche unter dem Namen von Maximen oder Axiomen als Grundsätze der Wissenschaften gelten, und man hat sich, weil sie durch sich selbst evident sind, begnügt, sie angeborene zu nennen, ohne daß jemand jemals, daß ich wüßte, versucht hätte, die Ursache und den Grund ihrer außerordentlichen Klarheit, die uns sozusagen zwingt, ihnen unseren Beifall zu schenken, anzugeben. Gleichwohl ist's nicht unnütz, auf diese Untersuchung einzugehen und zuzusehen, ob diese große Evidenz jenen Sätzen allein eigen ist, wie auch zu prüfen, inwieweit sie zu unseren übrigen Erkenntnissen beitragen.

[436] Theophilus. Diese Untersuchung ist sehr nützlich und sogar wichtig. Aber man muß sich nicht einbilden, daß sie gänzlich vernachlässigt worden ist. Sie werden an hundert Stellen finden, daß die Schulphilosophen von jenen Sätzen behaupten, sie seien ex terminis evident, sobald man die Termini d.h. die Ausdrücke versteht, daß sie also sicher waren, die Kraft der Überzeugung sei auf dem Verständnis der Ausdrücke begründet, d.h. bestehe im Zusammenhang ihrer Vorstellungen. Aber die Geometer haben viel mehr geleistet, sie haben sehr häufig unternommen, die Axiome zu beweisen. Proklus schreibt schon dem Thales von Milet, einem der ältesten aller bekannten Mathematiker, die Absicht zu, die Sätze, welche Euklides nachher als evident vorausgesetzt hat, zu beweisen. Man berichtet, daß Apollonius andere Axiome bewiesen hat, und Proklus tut es auch. Roberval wollte noch, achtzig Jahre oder ungefähr so alt, neue Grundsätze der Geometrie veröffentlichen, wovon ich Ihnen schon einmal geredet zu haben glaube. Vielleicht hatten die »neuen Elemente« Arnaulds, welche damals Aufsehen erregten, dazu beigetragen. Er zeigte etwas davon in der Kgl. Akademie der Wissenschaften vor, und einige machten dagegen Einwendungen, daß er mit Voraussetzung des Axioms: »Gleiches zu Gleichem hinzugefügt, gibt Gleiches«, jenes andere Axiom, welches als von gleicher Evidenz angenommen wird, beweisen wollte, daß, wenn man Gleiches von Gleichem abzieht, Gleiches bleibt. Man bemerkte, daß man alle beide Sätze voraussetzen oder beide beweisen müßte. Ich aber war nicht dieser Meinung und glaubte, es sei schon immer etwas gewonnen, wenn man die Zahl der Axiome vermindert hätte. Und zweifelsohne geht die Addition der Subtraktion voraus und ist einfacher, weil die beiden Ausdrücke in der Addition, einer wie der andere, gebraucht werden, was bei der Subtraktion nicht der Fall ist. Arnauld tat das Gegenteil von dem, was Roberval tat: er machte noch mehr Voraussetzungen als Euklides. Was nun die Maximen anbetrifft, so nimmt man sie mitunter für festgestellte Sätze, mögen sie nun evident sein oder nicht. Für Anfänger mag das gut sein, welche die Bedenklichkeit aufhält, aber wenn es sich um die Begründung der Wissenschaft handelt, ist es etwas anderes. So faßt man[437] sie auch oft in der Moral und selbst in den Topiken der Logiker, wo man einen guten Vorrat derselben findet, wovon aber ein Teil recht unbestimmt und dunkel ist. Übrigens habe ich schon längst öffentlich und privatim gesagt, daß es wichtig sei, alle unsere sekundären Axiome zu beweisen, deren man sich gewöhnlich bedient, indem man sie auf die ursprünglichen, die unmittelbaren und unbeweislichen Axiome zurückführt, welche ich neulich und sonst die identischen nannte.

§ 2. Philalethes. Die Erkenntnis ist durch sich selbst evident, wenn man der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen sich unmittelbar bewußt ist. § 3. Aber es gibt Wahrheiten, die man nicht als Axiome anerkennt, und welche doch nichtsdestoweniger durch sich selbst evident sind. Wir wollen nun einmal zusehen, ob die vier Arten der Übereinstimmung, von denen wir unlängst gesprochen haben (Kap. l, § 3 und Kap. 3, § 7), nämlich die Einerleiheit, die Verknüpfung, die Relation und das wirkliche Dasein, uns solche liefern. § 4. Was die Einerleiheit und die Verschiedenheit betrifft, so haben wir soviel evidente Sätze, als wir deutliche Vorstellungen haben, denn wir können die eine von der anderen verneinen, wie z.B. wenn wir sagen: der Mensch ist kein Pferd, das Rote ist nicht blau usw. Übrigens ist es ebenso evident, zu sagen, was ist, ist; als zu sagen, ein Mensch ist ein Mensch.

Theophilus. Allerdings, und ich habe schon bemerkt, es sei ebenso evident, auf ekthetische Weise im besonderen zu sagen: A ist A, als im allgemeinen zu sagen: Man ist das, was man ist. Aber man ist nicht immer sicher, wie ich auch schon bemerkt habe, die Subjekte der verschiedenen Vorstellungen eines vom anderen zu verneinen, wie wenn man sagen wollte: Das Dreiseitige (oder das, was drei Seiten hat) ist nicht dreiwinklig; weil in der Tat die Dreiseitigkeit nicht die Dreieckigkeit ist; ebenso, wenn jemand gesagt hätte: »Die Perlen des Slusius (von denen ich vorlängst gesprochen habe) sind nicht Linien der kubischen Parabel«, so würde er sich geirrt haben, und dies doch gar vielen evident erschienen sein. Der selige Hardy, Rat am Pariser Châtelet, ein ausgezeichneter Mathematiker und Orientalist und wohl bewandert in den alten[438] Mathematikern, welcher den Kommentar des Marinos zu den Data des Euklides veröffentlicht hat, war von der falschen Ansicht, daß der schiefe Kegelschnitt, welchen man Ellipse nennt, von dem schiefen Zylinderschnitt verschieden sei, dergestalt eingenommen, daß der Beweis des Serenus ihm unlogisch schien, und ich ihm durch meine Gegenvorstellungen in dieser Hinsicht nichts abgewinnen konnte. Auch war er damals, als ich ihn besuchte, fast im Lebensalter Robervals, und ich ein noch sehr junger Mann: ein Unterschied, der mir ihm gegenüber keine große Überredungskraft geben konnte, obwohl ich sonst mich sehr gut mit ihm stand. Beiläufig zeigt dies Beispiel, was ein Vorurteil auch bei gescheiten Leuten vermag, denn das war er wirklich; wie denn von ihm in Descartes' Briefen mit Achtung gesprochen wird. Ich habe es aber nur angeführt, um zu zeigen, wie man sich täuschen kann, indem man eine Vorstellung von der anderen verneint, wenn man sie nicht hinlänglich, da wo es nötig war, ergründet hat.

§ 5. Philalethes. Hinsichtlich der Verknüpfung oder Koëxistenz haben wir sehr wenig an sich selbst evidente Sätze; gleichwohl gibt es dergleichen, und solch ein durch sich evidenter Satz scheint der zu sein, daß zwei Körper nicht zugleich an demselben Orte sein können.

Theophilus. Das machen Ihnen, wie ich schon bemerkt habe, viele Gelehrte der christlichen Zeit streitig, und sogar Aristoteles und diejenigen, welche mit ihm wirkliche Verdichtungen im eigentlichen Sinne annehmen, wodurch der nämliche Körper in seiner Ganzheit auf einen kleineren Raum, als den, welchen er vorher erfüllt hatte, zurückgebracht werden soll; und diejenigen, welche, wie der verstorbene Comenius in einem kleinen, eigens dazu geschriebenen Buche getan hat, behaupten, die neuere Naturlehre werde durch die mit der Windbüchse gemachte Erfahrung umgestoßen, können auch nicht darin einstimmen. Wenn Sie den Körper für eine undurchdringliche Masse nehmen, so ist Ihr Satz wahr, weil er dann ganz oder fast ganz identisch sein wird, aber man kann es leugnen, daß der wirkliche Körper von solcher Art sei. Wenigstens kann man sagen, daß Gott ihn anders machen könnte, so daß man nur diese Undurchdringlichkeit,[439] als der natürlichen Ordnung der Dinge entsprechend, zugesteht, welche Gott eingerichtet, und von der die Erfahrung uns überzeugt hat, obgleich man übrigens zugeben maß, daß sie auch der Vernunft ganz entspricht.

§ 6. Philalethes. Was die Relationen der Modi anbetrifft, so haben die Mathematiker mehrere Axiome bloß über die Relation der Gleichheit gebildet, wie das vorher erwähnte, daß, wenn man Gleiches von Gleichem abzieht, der Rest gleich bleibt. Es ist aber, denke ich, nicht weniger evident, daß eins und eins gleich zwei sind; und wenn man von den fünf Fingern einer Hand zwei fortnimmt und auch zwei von den fünf Fingern der anderen Hand, wird die Zahl der Finger die gleiche bleiben.

Theophilus. Daß eins und eins zwei macht, ist eigentlich gesprochen nicht eine Wahrheit, sondern die Definition von Zwei. Freilich ist darin das wahr und evident, daß es die Definition eines Möglichen ist. Hinsichtlich des auf die Finger angewendeten Axioms des Euklides will ich zugeben, daß das, was Sie von den Fingern sagen, ebenso leicht zu begreifen, als es von A und B einzusehen ist; aber um nicht dasselbe oft zu wiederholen, bezeichnet man es allgemein und begnügt sich dann, darunter zu subsummieren. Sonst würde es so sein, als wenn man die Rechnung in besonderen Zahlen den allgemeinen Regeln vorzöge, wodurch man weniger erlangen würde, als möglich ist. Denn es ist vorzuziehen, diese allgemeine Aufgabe zu lösen: Zwei Zahlen zu finden, deren Summe eine gegebene Zahl gibt, und deren Unterschied auch eine gegebene Zahl gibt, als nur zwei Zahlen zu suchen, deren Summe zehn und deren Unterschied sechs ausmacht. Denn wenn ich bei der zweiten Aufgabe nach der Rechnungsart der niederen Arithmetik zusammen mit der Algebra verfahre, so wird die Berechnung so sein: Es sei a + b = 10; a – b = 6. Addiert man nun die rechte Seite mit der rechten und die linke mit der linken, so ergibt sich a + b + a – h = 10 + 6, d.h. (da + b und – b einander aufheben) 2a = 16 oder a = 8. Und zieht man die eine rechte Seite von der anderen rechten ab, die eine linke von der anderen linken (da a – b abziehen dasselbe ist, als – a + b dazu zu addieren), so kommt heraus a + b – a + b = 10 – 6, d.h.[440] 2b = 4, oder b = 2. So würde ich in Wahrheit die verlangten a und b haben, welche gleich 8 und 2 sind. Diese lösen die Aufgabe, d.h. deren Summe macht 10 und deren Unterschied 6. Aber ich habe dadurch nicht die allgemeine Methode für irgendwelche andere Zahlen, die man an Stelle von 10 oder 6 setzen könnte und wollte, welche Methode ich gleichwohl mit derselben Leichtigkeit, wie die zwei Zahlen 8 und 2, finden könnte, wenn ich x und v an Stelle der Zahlen 10 und 6 setzte. Denn verfährt man ebenso wie vorher, so wird man erhalten 10 a + b – a – b = x + v, d.h. 2a = x + v oder a = 1/2 (x + v); und ferner a + b – a + b = x – v, d.h. 2b = x – v, oder b = 1/2 (x – v). Und diese letztere Rechnung gibt den allgemeinen Lehrsatz oder Kanon, daß wenn man zwei Zahlen sucht, deren Summe und Differenz gegeben ist, man für die größere der verlangten Zahlen nur die Hälfte der aus der gegebenen Summe und Differenz gewonnenen Summe, für die kleinere die Hälfte der Differenz zwischen gegebener Summe und Differenz nehmen muß. Man sieht auch, daß ich mich der Buchstaben hätte entschlagen können, wenn ich die Zahlen wie Buchstaben behandelt hätte, d.h. wenn ich, statt 2a = 16 und 2b = 4 zu setzen, geschrieben hätte: 2a = 10 + 6, und 2b = 10 – 6, was gegeben haben würde a = 1/2 (10 + 6) und b = 1/2 (10 – 6). So würde ich in der besonderen Berechnung die allgemeine gehabt haben, indem ich die Zeichen 10 und 6 als allgemeine Zahlen genommen hätte, wie wenn es die Buchstaben a und v gewesen wären – um eine allgemeinere Wahrheit oder Methode zu erhalten; und nehme ich dann wieder dieselben Zeichen 10 und 6 für die Zahlen, welche sie in der Regel bezeichnen, habe ich ein ähnliches Beispiel, das selbst zur Probe dienen kann. Wie nun Vieta die Buchstaben an Stelle der Zahlen gesetzt hat, um mehr Allgemeinheit zu haben, so habe ich die Zahlencharaktere wieder einführen wollen, weil sie sogar in der Algebra brauchbarer sind als die Buchstaben. Ich habe dies bei großen Rechnungen von bedeutendem Nutzen gefunden, um Irrtümer in verhüten und selbst um Proben anzustellen, wie z.B. die Auslassung der Nenn inmitten der Rechnung, ohne dabei das Resultat abzuwarten, wenn nur Zahlen statt Buchstaben vorkommen, was sich oft anwenden läßt,[441] wenn man bei den Aufstellungen mit Geschick verfährt, so daß die Voraussetzungen sich im besonderen als wahr ausweisen; des Nutzens gar nicht zu gedenken, der darin liegt, daß man dabei Zusammenhänge und Gesetze bemerkt, welche die Buchstaben allein niemals so leicht dem Geiste enthüllen können. Dies habe ich schon anderswo gezeigt, nachdem ich gefunden, daß eine gute Charakteristik eines der größten Hilfsmittel des menschlichen Geistes ist.

§ 7. Philalethes. Was das wirkliche Dasein betrifft, das ich als die vierte Art des bei den Vorstellungen zu bemerkenden Übereinkommens gerechnet hatte, so kann uns dasselbe kein Axiom liefern, denn wir haben nicht einmal eine demonstrative Erkenntnis der Wesen außer uns, Gott allein ausgenommen.

Theophilus. Man kann immerhin sagen, daß der Satz: ich bin, da er ein solcher ist, der durch keinen anderen bewiesen werden kann, von äußerster Evidenz oder auch eine unmittelbare Wahrheit ist. Und sagen: ich denke, also bin ich, heißt nicht, das Dasein durch das Denken beweisen, weil denken und denkend sein dasselbe ist, und sagen: ich bin denkend, schon sagen ist: ich bin. Indessen können Sie diesen Satz aus der Zahl der Axiome mit einigem Grunde auslassen, denn es ist ein faktischer, auf eine unmittelbare Erfahrung begründeter Satz, nicht aber ein notwendiger, dessen Notwendigkeit in der unmittelbaren Übereinstimmung der Vorstellungen erkannt wird. Im Gegenteil sieht nur Gott allein, wie die beiden Ausdrucke: Ich und das Dasein, verbunden sind, d.h. warum ich da bin. Aber wenn man Axiome allgemeiner für unmittelbare oder unbeweisbare Wahrheiten nimmt, so kann man sagen, daß der Satz: ich bin ein Axiom ist, und auf jeden Fall sicher sein, daß er eine primitive Wahrheit ist, oder auch unum ex primis cognitis inter terminos complexos, d.h. einer der ersten bekannten Sätze, welcher in der natürlichen Ordnung unserer Erkenntnis sich findet; denn möglicherweise mag jemand niemals daran gedacht haben, diesen Satz ausdrücklich zu bilden, der ihm gleichwohl angeboren ist.

§ 8. Philalethes. Ich hatte immer geglaubt, daß die Axiome wenig Einfluß auf die übrigen Teile unserer Erkenntnisse[442] ausüben. Aber Sie haben mich davon zurückgebracht, da Sie mir sogar einen wichtigen Nutzen selbst der identischen Sätze gezeigt haben. Erlauben Sie mir aber doch, Ihnen vorzutragen, was mir über diesen Punkt vorschwebte, denn Ihre Erläuterungen können noch dazu dienen, andere von ihrem Irrtum zurückzubringen. § 8. Es ist eine berühmte Schulregel, daß alle Beweisführung aus schon Bekanntem und Zugegebenem herkommt (ex praecognitis et praeconcessis). Dieser Regel nach scheint man jene Maximen als Wahrheiten nehmen zu sollen, welche dem Geiste vor den übrigen bewußt sind, und die übrigen Teile unserer Erkenntnis als von den Axiomen abhängige Wahrheiten. Ich glaubte gezeigt zu haben (Liv. 1, cap. 1), daß jene Axiome nicht das zu erst Erkannte sind, indem ein Kind viel eher erkennt, daß die ihm gezeigte Rute nicht der Zucker ist, den es gekostet hat, als irgend ein beliebiges Axiom. Doch Sie haben zwischen den besonderen Erkenntnissen oder faktischen Erfahrungen und zwischen den Prinzipien einer allgemeinen und notwendigen Erkenntnis (wobei man, wie ich anerkenne, auf die Axiome zurückgehen muß), wie auch zwischen zufälliger und natürlicher Ordnung unterschieden.

Theophilus. Ich hatte auch hinzugefügt, daß in der natürlichen Ordnung eher gesagt werden muß: ein Ding ist, was es ist, als: es ist kein anderes, denn es handelt sich hier nicht um die Geschichte unserer Entdeckungen, die bei verschiedenen Menschen verschieden ist, sondern um die Verknüpfung und natürliche Ordnung der Wahrheiten, welche immer dieselbe ist. Ihre Bemerkung aber, daß nämlich, was das Kind sieht, nur eine Tatsache ist, verdient noch weitere Überlegung, denn die Erfahrungen der Sinne geben nach Ihrer eigenen unlängst gemachten Bemerkung keine absolut gewissen Wahrheiten, noch solche, bei denen jede Gefahr einer Täuschung ausgeschlossen ist. Denn wenn es erlaubt ist, metaphysisch mögliche Erdichtuungen zu machen, so könnte sich der Zucker auf unmerkliche Weise, um das Kind, wenn es unartig gewesen, zu strafen, in eine Rute verwandeln, wie sich das Wasser bei uns am Weihnachtsabend in Wein verwandelt, wenn es artig gewesen ist. Aber der Schmerz, werden Sie einwerfen, den die Rute verursacht, wird niemals das Vergnügen sein, welches der Zucker gibt. Ich[443] antworte: das Kind wird ebenso spät darauf kommen, einen ausdrücklichen Satz daraus zu machen, als das Axiom zu bemerken, daß man in Wahrheit nicht behaupten könne, das, was ist, sei zu gleicher Zeit nicht, obwohl es des Unterschiedes von Lust und Schmerz sich sehr wohl bewußt sein kann, ebensowohl als des Unterschiedes von Bewußtsein und Nichtbewußtsein.

§ 10. Philalethes. Indessen gibt es eine Menge anderer Wahrheiten, welche ebenso wie jene Maximen durch sich selbst evident sind. Z.B. ist der Satz: Eins und zwei sind so viel als drei, ebenso evident als das Axiom, das besagt, daß das Ganze allen seinen Teilen zusammengenommen gleich ist.

Theophilus. Sie scheinen vergessen zu haben, wie ich Ihnen mehr als einmal gezeigt habe, daß der Satz: Eins und zwei sind drei, nur die Definition des Ausdrucks drei ist; so daß zu sagen: eins und zwei ist gleich drei, ebensoviel ist, als sagen, daß etwas sich selbst gleich ist. Was jenes Axiom betrifft, daß das Ganze allen seinen Teilen zusammengenommen gleich ist, so hat Euklides sich desselben nicht ausdrücklich bedient. Auch bedarf dieses Axiom der Einschränkung, denn man muß hinzufügen, daß diese Teile selbst keinen gemeinsamen Teil haben dürfen, denn 7 und 8 sind Teile von 12, aber geben zusammen mehr als 12. Büste und Rumpf zusammengenommen sind mehr als ein Mensch, insofern die Brust allen beiden gemeinsam ist. Euklides aber sagt: das Ganze ist größer als sein Teil, wobei keine weitere Vorsicht nötig ist. Und zu sagen, daß der Körper größer ist als der Rumpf, macht nur insofern einen Unterschied gegen das Axiom des Euklides, als dieses Axiom sich auf das Notwendige beschränkt; aber indem man exemplifiziert und ihm gleichsam einen Körper gibt, erreicht man, daß das Verstandesmäßige auch sinnlich wird, denn zu sagen, daß dies bestimmte Ganze größer ist als dieser sein bestimmter Teil, ist in der Tat ein Satz, daß ein Ganzes größer ist als sein Teil, dessen Züge aber durch einige Beleuchtung oder Zugabe verstärkt sind, gerade so wie der, welcher A B sagt, auch A sagt. Man muß also hier nicht Axiom und Beispiel als in dieser Hinsicht verschiedene Wahrheiten zueinander in Gegensatz stellen, sondern das Axiom als[444] in dem Beispiel verkörpert und das Beispiel bewahrheitend ansehen. Etwas anderes ist es, wenn die Evidenz im Beispiele selbst nicht bemerkt wird, und die Bejahung des Beispiels eine Folge und nicht bloß eine Subsumption des allgemeinen Satzes ist, wie dies auch in Hinsicht der Axiome vorkommen kann.

Philalethes. Unser gelehrter Verfasser sagt hier: Ich möchte diejenigen, welche jede andere Erkenntnis, als die der Tatsachen, von allgemeinen angeborenen und aus sich evidenten Prinzipien abhängig sein lassen, fragen, aus welchem Prinzip sie zu beweisen nötig haben, daß zwei und zwei vier ist? Denn seiner Ansicht nach erkennt man die Wahrheit derartiger Sätze ohne die Hilfe irgend welcher Probe. Was sagen Sie dazu?

Theophilus. Ich sage, daß ich wohl vorbereitet diese Frage erwartet habe. Es ist nicht eine ganz unmittelbare Wahrheit, daß zwei und zwei vier sind, vorausgesetzt, daß vier soviel bedeutet, als drei und eins. Man kann den Satz also beweisen und zwar folgendermaßen:


Definitionen.

1) Zwei ist eins und eins,

2) Drei ist zwei und eins,

3) Vier ist drei und eins.

Axiom.

Wenn man Gleiches substituiert, bleibt gleiches.

Beweis.


2 und 2 ist 2 und 1 und 1 (nach Def. 1),

2 und 1 und 1 ist 3 und 1 (nach Def. 2),

3 und 1 ist 4 (nach Def. 3).


VII. Von den Sätzen, welche man Maximen oder Axiome nennt

Also (nach dem Axiom) ist 2 und 2 = 4. Was zu beweisen war. Ich konnte, statt zu sagen, daß 2 und 2 2 und 1 und 1 ist, setzen, daß 2 und 2 gleich ist 2 und 1 und 1, und so das übrige. Aber man kann es durchweg, um leichter davonzukommen, zugleich mitverstehen, und zwar auf Grund eines anderen Axioms, wonach jedes Ding sich selbst gleich oder das, was dasselbe ist, auch gleich ist.

[445] Philalethes. So wenig nötig dieser Beweis auch im Hinblick auf seinen allbekannten Schlußsatz sein mag, so dient er doch zu zeigen, wie die Wahrheiten von den Definitionen und Axiomen abhangen. Ich sehe mithin schon voraus, was Sie auf noch mehrere Einwürfe gegen die Anwendung der Axiome erwidern werden. Man macht den Einwurf, daß es eine zahllose Menge von Prinzipien geben müßte, aber das ist nur der Fall, wenn man die Folgesätze, welche sich mit Hilfe irgend eines Axioms aus den Definitionen ergeben, unter die Grundsätze rechnet und da der Definitionen oder Vorstellungen unzählige sind, so müssen es die Axiome, in diesem Sinne genommen, auch sein, sogar bei der von Ihnen geteilten Voraussetzung, daß die unbeweislichen Grundsätze identische Axiome sind. Sie werden auch durch die Exemplifikation unzählig, aber im Grunde genommen kann man die Sätze: A ist A, B ist B als ein und dasselbe verschieden ausgedrücktes Axiom rechnen.

Theophilus. Zudem verhindert mich diese Verschiedenheit der Grade der Evidenz Ihrem berühmten Autor zuzugeben, daß alle jene Wahrheiten, welche man Prinzipien nennt, und welche als von selbst evident gelten, weil sie den ersten, unbeweisbaren Axiomen so nahe stehen, voneinander ganz unabhängig und unfähig sind, voneinander irgend Licht oder Beweis zu empfangen. Denn man kann sie immer entweder auf die Axiome selbst oder auf andere den Axiomen näher liegende Wahrheiten zurückführen, wie jener Satz, daß zwei und zwei vier sind, Ihnen gezeigt hat. Auch habe ich Ihnen eben schon erzählt, wie Roberval die Zahl der euklideischen Axiome verringerte, indem er mitunter das eine auf das andere zurückbrachte.

§ 11. Philalethes. Der scharfsinnige Schriftsteller, welcher zu unseren Unterredungen die Veranlassung gegeben hat, gesteht den Nutzen der Maximen zu, aber glaubt, daß er vielmehr darin besteht, den Widerspenstigen den Mund zu stopfen, als die Wissenschaften aufzurichten. Ich würde mich sehr freuen, sagt er, daß man mir eine jener auf die allgemeinen Axiome gegründeten Wissenschaften zeigte, von der man nicht zeigen konnte, daß sie sich ebensogut auch ohne Axiome aufrechterhalten läßt.

[446] Theophilus. Die Geometrie ist ohne Zweifel eine von diesen Wissenschaften. Euklides wendet die Axiome ausdrücklich in den Beweisen an, und jenes Axiom: daß zwei homogene Größen einander gleich sind, wenn die eine weder größer noch kleiner als die andere ist, ist die Grundlage der Beweise des Euklides und des Archimedes hinsichts der Größe krummliniger Figuren. Archimedes hat Axiome angewendet, deren Euklides nicht bedurfte, z.B. daß von zwei Linien, von denen jede ihre Krümmung stets an derselben Seite hat, diejenige die größere ist, welche die andere umschließt. Auch kann man in der Geometrie die identischen Axiome nicht entbehren, wie z.B. das Prinzip des Widerspruchs oder die indirekten Beweise. Und was die anderen Axiome betrifft, welche sich daraus beweisen lassen, könnte man sich, ganz eigentlich gesprochen, derselben entschlagen und die Folgerungen unmittelbar aus den identischen Sätzen und Definitionen ziehen, aber die Länge der Beweise und die endlosen Wiederholungen, in welche man dann verfiele, würden eine furchtbare Verwirrung verursachen, wenn man immer wieder von vorn anfangen müßte, statt daß man bei Voraussetzung der schon bewiesenen mittleren Lehrsätze leicht weiter kommt. Und zwar ist diese Voraussetzung schon bekannter Wahrheiten besonders hinsichtlich der Axiome nützlich, denn sie kehren so oft wieder, daß die Geometer in jedem Augenblick sich derselben zu bedienen genötigt sind, ohne sie zu zitieren, so daß man sich, wenn man glaubte, daß sie nicht mitwirken, weil man sie vielleicht nicht immer am Bande angeführt sieht, täuschen würde.

Philalethes. Aber er braucht das Beispiel der Theologie zum Einwurf. Aus der Offenbarung, sagt unser Autor, stammt uns die Kenntnis dieser heiligen Religion, und ohne deren Hilfe würden die Maximen niemals fähig gewesen sein, uns mit ihr bekannt zu machen. Die Erleuchtung kommt uns also unmittelbar aus den Sachen selbst oder unmittelbar aus der unfehlbaren Wahrhaftigkeit Gottes.

Theophilus. Der Fall ist so, als ob ich sagte, die Medizin gründet sich auf die Erfahrung, also dient die Vernunft dabei zu nichts. Die christliche Theologie, welche die wahre Medizin für die Seelen ist, gründet sich auf[447] die Offenbarung, welche der Erfahrung entspricht; aber um daraus ein vollständiges Ganze zu machen, maß man die natürliche Theologie damit verbinden, welche aus den Axiomen der ewigen Vernunft gewonnen wird. Ist nicht selbst jener Grundsatz, daß die Wahrhaftigkeit ein Attribut Gottes ist, auf welchem, wie Sie anerkennen, die Gewißheit der Offenbarung beruht, eine aus der natürlichen Theologie hergenommene Maxime ?

Philalethes. Unser Verfasser verlangt, daß man zwischen dem Mittel, die Erkenntnis zu erlangen, und dem, sie zu lehren, oder auch zwischen lehren und mitteilen unterscheide. Nachdem man die Schulen errichtet und Professoren, um die Wissenschaften, welche andere erfunden hatten, zu lehren, angestellt hat, haben diese Professoren sich jener Maximen, um die Wissenschaften dem Geiste ihrer Schüler einzuprägen und sie mittels der Axiome von gewissen besonderen Wahrheiten zu überzeugen, bedient, statt daß die besonderen Wahrheiten den ersten Erfindern dazu gedient haben, die Wahrheiten ohne die allgemeinen Maximen zu finden.

Theophilus. Ich wollte, daß man uns dieses vorgebliche Verfahren durch Beispiele einiger besonderer Wahrheiten gerechtfertigt hätte. Aber wenn man die Sachen recht erwägt, wird man es bei der Gründung der Wissenschaften gar nicht angewendet finden. Und wenn der Erfinder nur eine besondere Wahrheit findet, ist er nur halb und halb ein Erfinder. Wenn Pythagoras nur die Beobachtung gemacht hätte, daß das Dreieck, dessen Seiten 3, 4, 5 sind, die Eigenschaft habe, daß das Quadrat seiner Hypotenuse denen seiner beiden Katheten gleich sei (d.h. daß 9 + 16 25 mache), würde er deswegen der Entdecker jener großen Wahrheit gewesen sein, welche alle rechtwinklige Dreiecke umfaßt und bei den Geometern zu einer Maxime geworden ist? Allerdings kann häufig ein durch Zufall ins Auge gefaßtes Beispiel einem geistreichen Manne zur Veranlassung dienen, sich des Aufsuchens der allgemeinen Wahrheit zu befleißigen, aber es macht noch oft genug Schwierigkeit, sie zu finden. Außerdem ist dieser Weg des Entdeckens nicht der beste, noch der von denen am meisten angewandte, welche ordentlich und methodisch verfahren, und diese bedienen sich desselben nur bei solchen Gelegenheiten, wo bessere Methoden mangeln.[448]

Das wäre so, wie Archimedes nach dem Glauben einiger die Quadratur der Parabel dadurch gefunden haben soll, daß er ein parabolisch geschnittenes Stück Holz wog und diese besondere Erfahrung ihn die allgemeine Wahrheit finden ließ. Wer aber den Scharfsinn dieses großen Mannes kennt, sieht wohl ein, daß er solche Hilfe nicht nötig hatte. Wäre indessen dieser empirische Weg der besonderen Wahrheiten die Veranlassung gewesen, die Entdeckungen zu machen, so wäre er doch nicht genügend gewesen, sie zu geben; und die Entdecker selbst sind lebhaft befriedigt, die Maximen und allgemeinen Wahrheiten zu bemerken, wenn sie zu denselben haben gelangen können – sonst wären ihre Entdeckungen sehr unvollkommen gewesen. Alles, was man also den Schulen und den Professoren als Verdienst anrechnen kann, ist, die Maximen und die anderen allgemeinen Wahrheiten gesammelt und geordnet zu haben: und wollte Gott, daß man es noch mehr und mit mehr Sorgfalt und Auswahl gemacht hätte, dann würden die Wissenschaften sich nicht in so schlechtem Zusammenhange und so großer Verwirrung befinden. Übrigens gebe ich zu, daß zwischen der Methode, deren man sich zur Unterweisung in den Wissenschaften bedient, und der, durch welche man sie findet, oft ein Unterschied stattfindet; das ist aber nicht der Punkt, um welchen es sich handelt. Wie ich schon bemerkt habe, hat der Zufall mitunter Gelegenheit in Entdeckungen gegeben. Wenn man diese Veranlassungen bemerkt und das Andenken daran der Nachwelt aufbewahrt hätte, was sehr nützlich gewesen wäre, so würden diese Einzelheiten ein sehr wichtiger Teil der Geschichte der Künste gewesen sein, jedoch nicht geeignet, um darauf Systeme zu gründen. Mitunter sind auch die Entdecker zwar vernunftgemäß zur Wahrheit vorgeschritten, aber auf großen Umwegen. Ich finde, daß bei wichtigen Fällen die Schriftsteller dem Publikum einen Dienst geleistet haben würden, wenn sie in ihren Schriften die Spuren ihrer Versuche aufrichtig angemerkt hätten, aber wenn das System der Wissenschaft nach diesem Maße hätte gearbeitet werden sollen, so würde dies so sein, als ob man in einem fertigen Hause das ganze Baugerüst, das der Baumeister zur Aufrichtung desselben nötig gehabt hat, aufbewahren wollte. Die guten Unterrichtsmethoden[449] sind immer diejenigen, welche die Wissenschaft auf ihrem Wege sicherlich hätte finden können; und wenn sie alsdann nicht empirisch sind, d.h. wenn die Wahrheiten durch Gründe oder durch aus den Vorstellungen gewonnene Beweise gelehrt werden, so wird dies immer durch Axiome, Theoreme, Richtsätze (Canones) und andere solche allgemeine Sätze geschehen. Etwas anderes ist es, wenn die Wahrheiten Aphorismen sind, wie die des Hippokrates, d.h. faktische Wahrheiten, welche entweder ganz allgemein oder mindestens in den meisten Fällen richtig sind, die durch Beobachtung gewonnen werden oder auf Erfahrung sich gründen, und für die man nicht durchweg überführende Gründe hat. Aber darum handelt es sich hier nicht, denn diese Wahrheiten werden nicht durch die Ideenverknüpfung erkannt.

Philalethes. Die Art, in welcher nach der Ansicht unseres geistreichen Autors das Bedürfnis nach Maximen sich geltend gemacht hat, ist diese. Da die Schulen als Probierstein der Geschicklichkeit der Gelehrten die Disputierkunst aufgestellt hatten, so schrieben sie demjenigen den Sieg zu, der den Kampfplatz behauptete und dem das letzte Wort blieb. Um aber die Widerspenstigen zu überzeugen, mußte man als Mittel dazu die Maximen aufstellen.

Theophilus. Die Schulen der Philosophie hätten ohne Zweifel besser daran getan, die Praxis mit der Theorie zu verbinden, wie es die Schulen der Medizin, der Chemie und der Mathematik machen, und lieber demjenigen den Preis zu erteilen, der es am besten gemacht hätte, besonders in der Moral, als dem, welcher am besten gesprochen hätte. Da es indessen Gegenstände gibt, wo die Disputation selbst schon ein Erfolg ist, und mitunter der einzige Erfolg und das Meisterstück, aus dem sich die Geschicklichkeit jemandes erkennen läßt, wie in den metaphysischen Gegenständen, so hat man in einigen Fällen recht gehabt, die Geschicklichkeit der Gelehrten nach dem Erfolg zu beurteilen, welchen sie in Besprechungen gehabt haben. Bekanntlich haben sogar zu Anfang der Reformation die Protestanten ihre Gegner herausgefordert, zu Unterredungen und Disputationen zu kommen, und aus dem Erfolg dieser Dispute hat die öffentliche Meinung mitunter einen Schluß auf die Reform gemacht.[450] Man weiß auch, was die Kunst zu reden und den Gründen Licht und Kraft zu verleihen, und wenn man sie so nennen kann, die Disputierkunst in einem Staats- oder Kriegsrate, an einem Gerichtshofe, bei einer ärztlichen Konsultation und selbst in einer Unterhaltung vermag. Man ist auch genötigt, zu diesem Mittel seine Zuflucht zu nehmen und bei dergleichen Vorfällen sich mit Worten statt der Taten eben deswegen zu begnügen, weil es sich dann um eine Begebenheit oder eine Tatsache handelt, wobei die Wahrheit durch den Erfolg zu erfahren zu spät sein würde. Daher ist die Kunst des Disputierens oder des durch Gründe Bekämpfens, unter welche ich hier das Anführen von Autoritäten und Beispielen befasse, von sehr großer Wichtigkeit, aber unglücklicherweise ist sie sehr schlecht auf Regeln gebracht, und darum macht man auch entweder gar keine oder falsche Schlüsse. Aus diesem Grunde habe ich mehr als einmal den Plan gefaßt, Anmerkungen zu den Kolloquien der Theologen zu machen, über welche wir Berichte haben, um die Fehler, welche man darin bemerken kann, und die dagegen anwendbaren Mittel zu zeigen. Wenn bei geschäftlichen Beratschlagungen diejenigen, welche die meiste Macht haben, nicht einen sehr zuverlässigen Verstand haben, so haben gewöhnlich Autorität oder Beredsamkeit die Oberhand, wenn sie gegen die Wahrheit gerichtet sind. Mit einem Worte: die Kunst, zu beraten und zu disputieren, müßte völlig umgearbeitet werden. Was den Vorteil desjenigen anbetrifft, welcher zuletzt spricht, so findet er fast nur in freien Umgangsgesprächen statt, denn bei Beratschlagungen gehen die Stimmen der Ordnung nach, mag man nun mit dem im Range Letzten anfangen oder endigen. Freilich ist es gewöhnlich Sache des Präsidenten, anzufangen und zu endigen d.h. den Vorschlag und den Ausschlag zu geben, aber den letzteren gibt er nach der Mehrheit der Stimmen. In den akademischen Disputationen aber ist der Respondent oder Verteidiger derjenige, welcher zuletzt spricht, und er behauptet den Kampfplatz nachstehender Sitte fast immer. Es handelt sich darum, ihn auf die Probe zu stellen, und nicht, ihn zu widerlegen, sonst würde man als Feind auftreten. Und die Wahrheit zu sagen, so handelt es sich bei diesen Gelegenheiten fast gar nicht um die Wahrheit, daher man zu verschiedenen[451] Zeiten entgegengesetzte Thesen auf dem nämlichen Katheder verteidigt. Man zeigte dem Casaubonus einmal den Saal der Sorbonne und sagte ihm: Das ist der Ort, wo man so viele Jahrhunderte lang disputiert hat. Er antwortete: Was hat man nun da herausgebracht?

Philalethes. Gleichwohl hat man verhindern wollen, daß die Disputation bis ins Unendliche gehe, und ein Mittel schaffen, um zwischen zwei gleich erfahrenen Gegnern zu entscheiden, damit der Streit sich nicht in eine endlose Reihe von Schlüssen verliere. Dies Mittel nun ist gewesen, gewisse allgemeine, meist durch sich selbst evidente Sätze einzuführen, die von Natur dazu angetan, von allen Menschen mit gänzlicher Übereinstimmung angenommen zu werden, als allgemeine Maßstäbe der Wahrheit betrachtet werden und die Stelle von Prinzipien (wenn die Disputierenden keine anderen aufgestellt hatten) einnehmen mußten, über die man nicht hinausgehen durfte und an die man sich beiderseits zu halten verpflichtet war. Nachdem diese Maximen so den Namen von Prinzipien empfangen hatten, die man bei der Disputation nicht, verleugnen durfte, und welche den Streit endeten, so nahm man sie irrtümlicherweise – meinem Gewährsmanne nach – für die Quelle der Erkenntnisse und für die Grundlagen der Wissenschaften.

Theophilus. Wollte Gott, daß man sie in Streitigkeiten so gebrauchte; dagegen wäre nichts zu bemerken, denn man würde doch etwas entscheiden. Und was könnte man Besseres tun, als den Streit d.h. die bestrittenen Wahrheiten, auf evidente und unbestreitbare Wahrheiten zurückbringen? Würde man sie dadurch nicht auf demonstrative Weise begründen? Und wer kann zweifeln, daß diese Grundsätze, welche die Streitigkeiten mit Begründung der Wahrheit endigen würden, zugleich die Quellen der Erkenntnisse wären? Denn wenn das logische Verfahren gut ist, bleibt es sich gleich, ob man sie stillschweigend in seinem Studierzimmer zustande bringt oder Öffentlich auf dem Katheder begründet. Und selbst wenn diese Prinzipien mehr Heischesätze als Axiome wären, – erstere nicht im Sinne des Euklides, sondern des Aristoteles genommen, d.h. als für so lange zugegebene Voraussetzungen, bis sie zu beweisen Gelegenheit ist, – so würden diese Prinzipien immer den Nutzen haben, daß[452] alle die übrigen Streitfragen dadurch auf eine kleine Anzahl von Voraussetzungen zurückgebracht werden würden. Ich bin also ganz außerordentlich erstaunt aus ich weiß nicht welch einem Vorurteil etwas Löbliches getadelt zu sehen, und dessen machen sich, wie man an dem Beispiel Ihres Autors sieht, die gescheitesten Leute aus Unachtsamkeit schuldig. Unglücklicherweise aber geht es bei den akademischen Disputationen ganz anders zu. Statt allgemeine Axiome aufzustellen, tut man alles Mögliche, um sie durch nichtige und schlecht verstandene Distinktionen zu schwächen und gefällt sich darin, gewisse philosophische Regeln anzuwenden, von denen zwar dicke Bücher gefüllt, die aber recht unsicher und unbestimmt sind, und welchen man durch Distinktionen beliebig ausweicht. Das ist nicht das Mittel, die Streitigkeiten zu schlichten, sondern sie endlos zu machen und den Gegner schließlich zu ermüden. Es ist das so, als wenn man ihn an einen dunklen Ort führte, wo man blindlings darauf losschlägt, und niemand über die Streiche urteilen kann. Das ist eine wundervolle Erfindung für die Respondenten, welche sich verbindlich gemacht haben, gewisse Thesen zu verteidigen. Es ist ein Schild des Vulkan, der sie unverwundbar macht, es ist ein Helm des Orkus oder Pluto, der sie unsichtbar macht. Sie müssen sehr ungeschickt oder sehr unglücklich sein, wenn man sie trotzdem beim Irrtum ertappen kann. Allerdings gibt es Regeln mit Ausnahmen, besonders bei Streitigkeiten, wo viele Umstände mit in Betracht kommen, wie in der Jurisprudenz. Um aber deren Gebrauch sicher zu machen, müssen diese Ausnahmen ihrer Zahl und ihrem Sinne nach soviel als möglich bestimmt sein; und dann kann es kommen, daß die Ausnahme wieder selbst ihre Unterausnahmen d.h. ihre Repliken hat, und die Replik Dupliken usw.; aber beim Rechnungsschlusse müssen alle diese Ausnahmen und Unterausnahmen wohl bestimmt und, mit der Regel verbunden, das Ganze herstellen. Davon liefert die Jurisprudenz sehr bemerkenswerte Beispiele. Allein wenn diese mit Ausnahmen und Unterausnahmen beladenen Arten von Regeln bei den akademischen Disputationen in Anwendung gebracht werden sollten, so müßte man immer die Feder in der Hand disputieren, indem man gleichsam ein Protokoll darüber hielte,[453] was von der einen und der anderen Seite gesagt wird. Und dies wurde auch sonst nötig sein, wenn man immer durch mehrere von Zeit zu Zeit mit Distinktionen vermischte Syllogismen hindurch förmlich disputieren wollte, wobei das beste Gedächtnis von der Welt in Verwirrung geraten müßte. Aber man hütet sich, diese Mühe sich zu geben, in Syllogismen formell vorwärts angehen und sie zu registrieren, um die Wahrheit zu entdecken, wenn sie ohne Belohnung ist, und man sogar, selbst wenn man wollte, nicht zum Zweck gelangen würde, es sei denn, daß die Distinktionen ausgeschlossen oder besser geregelt wären.

Philalethes. Dennoch ist es wahr, wie unser Verfasser bemerkt, daß die Schulmethode auch in die Unterredungen außerhalb der Schulen eingeführt worden ist, um auch den Nörglern den Mund zu stopfen, und da eine schlimme Wirkung gehabt hat. Denn sobald man die vermittelnden Vorstellungen hat, kann man deren Verknüpfung ohne Hilfe der Maximen, und ehe sie vorgebracht worden sind, erkennen, was für aufrichtige und verträgliche Leute genügen würde. Aber da die Methode der Schulen die Leute berechtigt und ermuntert hat, sich evidenten Wahrheiten zu widersetzen und zu widerstehen, darf man sich nicht wundern, daß sie in der gewöhnlichen Unterhaltung sich nicht schämen zu tun, was ein Gegenstand des Ruhmes ist und in den Schulen als Vorzug gilt. Der Verfasser fügt hinzu, daß vernünftige Leute, welche sonst in der Welt bekannt und durch die Erziehung nicht verdorben worden sind, große Mühe haben werden zu glauben, daß eine solche Methode jemals von Personen befolgt worden sei, die die Wahrheit zu lieben behaupten und ihr Leben im Studium der Religion oder der Natur hinbringen. Ich will hier nicht untersuchen, sagt er, wie diese Unterrichtsweise geeignet ist, den Geist der Jugend von der Liebe und aufrichtigen Verfolgung der Wahrheit abzuwenden, oder sie vielmehr zweifelhaft zu machen, ob es wirklich Wahrheit in der Welt gibt oder wenigstens eine solche, die umfaßt in werden verdient Aber was ich stark glaube, fügt er hinzu, ist, daß, die Orte ausgenommen, welche die peripatetische Philosophie in ihren Schulen zugelassen haben, wo sie viele Jahrhunderte lang geherrscht hat, ohne die Welt etwas[454] anderes als die Disputierkunst zu lehren, man diese Maximen nirgends als die Grundpfeiler der Wissenschaften und als bedeutende Hilfen zur Förderung in der Erkenntnis der Dinge betrachtet hat.

Theophilus. Euer gelehrter Autor behauptet, daß die Schulen allein geneigt sind, Maximen zu bilden und doch ist das der allgemeine und sehr vernünftige Instinkt des menschlichen Geschlechts. Das können Sie aus den Sprichwörtern schließen, welche bei allen Nationen in Gebrauch sind, und die in der Regel nur die Maximen sind, über welche die öffentliche Meinung übereingekommen ist. Wenn indessen urteilsfähige Leute etwas aussprechen, was uns wahrheitswidrig erscheint, so muß man ihnen die Gerechtigkeit widerfahren lassen zu vermuten, daß mehr in ihren Ausdrücken als in ihren Ansichten Irrtum steckt, was sich bei unserem Autor hier bestätigt, dessen ihn gegen die Maximen stimmendes Motiv ich zu verstehen beginne. Dies ist, daß es in den gewöhnlichen Unterredungen, wo es sich nicht bloß, wie in den Schulen, darum handelt, sich zu üben, als eine Schikane erscheint, überzeugt sein zu wollen, um sich zu ergeben. Sonst aber ist es bei weitem gefälliger, die sich von selbst verstehenden Obersätze zu unterdrücken und sich mit Enthymenen zu begnügen; und selbst ohne Prämissen zu bilden, genügt es oft, den einfachen Medius terminus oder die Mittelvorstellung vorzubringen, wobei dann der Geist den Zusammenhang auch ohne daß man ihn ausdrückt, hinlänglich faßt. Das geht gut, wenn dieser Zusammenhang unbestreitbar ist; aber Sie werden mir auch zugeben, daß man häufig zu schnell dazu fortgeht, ihn vorauszusetzen, und daraus Paralogismen entstehen, dergestalt, daß man beim Ausdruck besser tut, sich der Sicherheit zu befleißigen, als ihr die Kürze und Eleganz vorzuziehen. Indessen hat die Voreingenommenheit unseres Verfassers gegen die Maximen ihn vermocht, deren Nutzen für die Begründung der Wahrheit gänzlich zu verwerfen; er geht so weit, sie zu Mitschuldigen der Unordnungen in der Unterredung zu machen. Allerdings haben die jungen Leute, welche sich an die akademischen Übungen gewöhnt haben, wo man sich ein wenig zu viel mit der bloßen Übung beschäftigt und nicht genug damit, aus der Übung die größtmögliche[455] Frucht zu gewinnen, – Mühe, sich im praktischen Leben dessen zu entschlagen. Und eine ihrer Schikanen besteht darin, sich der Wahrheit nicht eher ergeben zu wollen, als bis man sie ihnen ganz und gar greifbar gemacht hat, obwohl die Aufrichtigkeit und selbst der Anstand sie verpflichten sollte, nicht auf dies äußerste zu warten, was sie unbequem erscheinen läßt und eine Üble Meinung von ihnen gibt. Man muß freilich zugestehen, daß dies ein Fehler ist, mit dem die Gelehrten sich häufig behaftet finden. Indessen besteht der Fehler nicht darin, daß man die Wahrheiten auf Maximen zurückfahren, sondern daß man dies zu unrechter Zeit und ohne Not tun will. Denn der menschliche Geist übersieht viel auf einmal, und man hemmt ihn, wenn man ihn zwingen will, bei jedem Schritt, den er tut, anzuhalten und alles, was er denkt, auszudrücken. Das ist gerade so, als wenn man bei seiner Berechnung mit einem Kaufmann oder mit einem Wirte ihn nötigen wollte, um sicherer zu gehen, alles an den Fingern herzuzählen. Das zu fordern, müßte man entweder dumm oder eigensinnig sein. In der Tat findet man mitunter, daß Petron recht gehabt hat zu sagen, »daß die Jünglinge in den Schulen ganz dumm würden« und bisweilen an den Orten den Verstand einbüßten, welche die Schulen der Weisheit sein sollten. Corruptio optimi pessima. (Je besser etwas ist, desto schlimmer sein Verderbnis.) Aber noch öfter werden sie eitel, händelsüchtig und unverschämt, störrig, unbequem; und das hängt oft von der Laune ihrer Lehrer ab. Übrigens finde ich, daß es bei der Unterredung viel größere Fehler gibt, als den, zu viel Klarheit zu verlangen. Denn gewöhnlich fällt man in den entgegengesetzten Fehler und gibt oder fordert nicht Klarheit genug. Ist das eine unbequem, so ist das andere schädlich und gefährlich.

§ 12. Philalethes. Das ist mitunter auch die Anwendung der Maximen, wenn man sie mit falschen, schwankenden und unsicheren Begriffen verbindet, denn dann dienen die Maximen dazu, uns in unseren Irrtümern zu stärken und sogar Widersprechendes zu beweisen. Wer z.B. mit Descartes sich eine Vorstellung von dem, was man Körper nennt, als einem nur ausgedehnten Dinge bildet, kann mittels der Maxime: was ist, ist, leicht[456] zeigen, daß es keinen leeren Raum d.h. Raum ohne Körper, gibt. Denn er erkennt seine eigene Vorstellung, er erkennt, daß sie das ist, was sie ist, und keine andere Vorstellung; da nun Ausdehnung, Körper und Raum bei ihm drei Worte sind, welche dasselbe bedeuten, so ist es für ihn ebenso wahr, zu sagen, daß der Raum Körper ist, als zu sagen, daß der Körper Körper ist. § 13. Ein anderer aber, dem Körper ein ausgedehntes solides Ding bedeutet, wird ebenso schließen, daß der Satz: der Raum ist nicht Körper, gerade so sicher ist, wie irgend ein anderer Satz, den man durch die Maxime: Unmöglich kann etwas zugleich sein und nicht sein, beweisen kann.

Theophilus. Der schlechte Gebrauch der Maximen darf nicht ihren Gebrauch überhaupt tadelnswert machen: diesem Übelstande sind alle Wahrheiten unterworfen, daß man durch Verbindung derselben mit Falschem Falsches und selbst Widersprüche daraus schließen kann. In unserem Beispiele hat man auch nicht jene identischen Axiome nötig, denen man den Grund des Irrtums und des Widerspruchs zuschreibt. Das würde sich zeigen, wenn das Argument derer, welche aus ihren Definitionen schließen, daß der Raum Körper ist, oder daß der Raum nicht Körper ist, förmlich aufgestellt würde. Es liegt sogar etwas zu viel in diesem Schluß: der Körper ist ausgedehnt und solide, folglich ist die Ausdehnung, d.h. das Ausgedehnte, kein Körper und ist die Ausdehnung kein körperliches Ding, denn ich habe schon bemerkt, daß es überflüssige Ausdrücke der Vorstellungen gibt oder solche, die die Sachen selbst nicht vermehren, wie wenn z.B. jemand sagte, unter einem Triquatrum verstehe ich ein dreiseitiges Dreieck, und daraus schlösse, daß nicht jede dreiseitige Figur ein Dreieck sei. So könnte auch ein Kartesianer sagen, daß die Vorstellung des soliden Ausgedehnten von derselben Art ist; sie enthalte nämlich etwas Überflüssiges, wie in der Tat, wenn man die Ausdehnung für etwas Substantielles nimmt, jedwede Ausdehnung solide sein oder auch jede Ausdehnung körperlich sein muß. Was den leeren Raum betrifft, so wird ein Kartesianer freilich das Recht haben, aus seiner Vorstellung oder Vorstellungsweise zu schließen, daß es keinen solchen gebe, vorausgesetzt, daß seine Idee[457] richtig ist, aller ein anderer wird nicht gleich recht haben, aus der seinigen zu schließen, daß es einen solchen gibt, wie ich in der Tat, obschon ich nicht für die kartesische Ansicht bin, doch glaube, daß es keinen leeren Raum gibt, und finde, man mache in diesem Beispiel einen schlimmeren Gebrauch von den Vorstellungen als von den Maximen.

§ 15. Philalethes. Wenigstens scheint es, daß, wie man auch bei den in Worten gefaßten Urteilen die Maximen gebrauchen mag, sie uns doch von den außer uns befindlichen Substanzen nicht die geringste Erkenntnis geben können.

Theophilus. Ich bin ganz anderer Meinung. Jene Maxime z.B., daß die Natur immer die kürzesten oder wenigstens die bestimmtesten Wege einschlage, genügt allein, um von fast der ganzen Optik, Katoptrik und Dioptrik d.h. von dem, was sich außer uns bei den Lichtwirkungen zuträgt, Rechenschaft zu geben. Ich habe dies früher einmal gezeigt, und Molineux hat es in seiner Dioptrik, welche ein sehr gutes Buch ist, durchaus gebilligt.

Philalethes. Gleichwohl wird behauptet, daß, wenn man sich der identischen Prinzipien bedient, um Sätze zu beweisen, welche Worte von der Bedeutung zusammengesetzter Vorstellungen wie Mensch oder Tugend enthalten, deren Gebrauch äußerst gefährlich ist und die Menschen veranlaßt, das Falsche wie eine offenbare Wahrheit zu betrachten und anzunehmen. Und zwar, weil die Menschen glauben, daß, wenn man dieselben Ausdrücke beibehält, die Sätze sich auf die nämlichen Dinge beziehen, wenn auch die von diesen Ausdrücken bezeichneten Vorstellungen verschieden sein mögen, so daß dann den Menschen, welche, wie gewöhnlich geschieht, die Worte für die Dinge nehmen, die Maximen in der Regel dazu dienen, widersprechende Sätze zu beweisen.

Theophilus. Welche Ungerechtigkeit, die armen Maximen dafür in tadeln, was dem schlechten Gebrauch der Ausdrücke und deren Doppelsinnigkeiten zugeschrieben werden muß! Man kann die Syllogismen aus demselben Grunde tadeln, weil man bei doppelsinnigen Ausdrücken falsch schließt. Aber der Syllogismus ist daran unschuldig, weil man alsdann in der Tat vier Termini, gegen die Gesetze[458] der Syllogismen, vor sich hat. Aus demselben Grunde könnte man auch die Rechnung der Arithmetiker oder der Algebristen tadeln, weil man, wenn man aus Versehen X für V setzt oder a für b nimmt, falsche und widersprechende Schlußfolgerungen daraus zieht.

§ 19. Philalethes. Wenigstens möchte ich die Maximen dann für wenig nützlich halten, wenn man klare und deutliche Vorstellungen hat; und andere wollen sogar, daß sie dann von durchaus keinem Nutzen sind; sie behaupten, daß wer in diesen Fällen das Wahre und Falsche ohne diese Art von Maximen nicht unterscheiden kann, es auch durch ihre Vermittlung nicht werde tun können; und unser Verfasser (§§ 16 und 17) zeigt sogar, daß sie nicht zu entscheiden dienen, ob dieses oder jenes Wesen Mensch ist oder nicht.

Theophilus. Wenn die Wahrheiten sehr einfach und evident und den identischen Sätzen und Definitionen ganz nahe verwandt sind, so hat man nicht nötig, ausdrücklich Maximen anzuwenden, um diese Wahrheiten herauszuziehen, denn der Geist wendet sie unbewußt an und zieht ohne Zwischengedanken sofort seine Schlußfolgerung. Aber ohne die schon erkannten Grund- und Lehrsätze würden die Mathematiker große Mühe haben vorwärts in kommen, denn bei den langen Schlußketten ist es gut, von Zeit zu Zeit anzuhalten und sich gleichsam Meilensteine mitten am Wege zu machen, die auch anderen dazu dienen sollen, ihn zu bezeichnen. Sonst würden diese langen Wege zu unbequem werden und selbst verwirrt und dunkel erscheinen, ohne daß man etwas darin unterscheiden und die Stelle, wo man ist, hervorheben kann. Es würde dann sein, wie wenn man in einer dunkeln Nacht ohne Kompaß aufs Meer ginge, ohne Grund, Ufer oder Sterne zu sehen; wie wenn man auf weiter Steppe wanderte, wo es nicht Bäume, nicht Hügel, nicht Bäche gibt; es wäre auch wie eine zum Längemaß bestimmte Kette mit Ringen, die aus einigen hundert unter sich ganz gleichen Ringen besteht, ohne irgend eine Unterbrechung, wie bei einem Rosenkränze oder durch größere Körner oder größere Ringe oder andere Abteilungen, welche die Füße, die Ruten usw. bezeichnen könnten. Der Geist, welcher die Einheit in der Vielheit liebt, fügt also einige der Folgerungen zusammen, um daraus vermittelnde[459] Schlüsse zu bilden: dies ist der Nützen der Maximen und Lehrsätze. Mittels dessen gibt es dabei mehr Lust, mehr Licht, mehr Erinnerung, mehr Aufmerksamkeit und weniger Wiederholung. Wenn irgend ein Analytiker bei der Rechnung die beiden geometrischen Maximen, daß das Quadrat der Hypotenuse dem der beiden Katheten gleich, und daß die gleichnamigen Seiten ähnlicher Dreiecke proportional sind, nicht voraussetzen wollte; im Glauben, daß, weil man den Beweis dieser beiden Lehrsätze durch die Verknüpfung der in ihnen enthaltenen Vorstellungen gewinnt, er sich derselben leicht entschlagen könnte, indem er an ihre Stelle die Vorstellungen selbst setzte, so würde er schwerlich zu einem Abschluß gelangen. Damit Sie aber nicht denken, daß der nützliche Gebrauch dieser Maximen sich auf die Grenzen der bloßen mathematischen Wissenschaften beschränkt, so können Sie finden, daß er in der Rechtswissenschaft kein geringeres und eins der vorzüglichsten Mittel ist, dieselbe leichter zu machen und deren weiten Ozean wie auf einer geographischen Karte zu überschauen, d.h. eine Menge besonderer Entscheidungen auf allgemeinere Prinzipien zurückzubringen. Man wird z.B. finden, daß eine Menge Gesetze der Digesten, Klagen oder Exzeptionen – von denen, welche man in factum nennt – von der Maxime abhangen: ne quis alterius damno fiat locupletior, d.h. niemand darf von dem Schaden, der einem anderen daraus entstehen kann, Vorteil ziehen, was man freilich ein wenig genauer ausdrücken müßte. Allerdings muß man unter den Rechtsregeln einen großen Unterschied machen. Ich spreche von denen, die gut sind, und nicht von gewissen durch die Rechtslehrer eingeführten unverständlichen (brocardica), die unbestimmt und dunkel sind, obschon auch diese Regeln oft gut und nützlich werden könnten, wenn man sie verbesserte, statt daß sie mit ihren endlosen Distinktionen (cum suis fallaciis) nur dazu dienen, zu verwirren. Die brauchbaren Kegeln sind also entweder Aphorismen oder Maximen, und unter Maximen begreife ich sowohl Grund- als Lehrsätze. Sind es Aphorismen, welche durch Induktion und Beobachtung, nicht aber durch Räsonnement a priori entstehen, und welche tüchtige Gelehrte nach einer Übersicht des bestehenden Rechtes geschaffen haben, so hat der Satz des Rechtsgelehrten Paulus[460] in dem Titel der Digesten, welcher von den Rechtsregeln handelt, statt: non ex regula jus sumi, sed ex jure quod est regulam fieri, d.h. man ziehe die Regeln aus einem schon gekannten Rechte, um sich dessen besser zu erinnern, aber man gründe nicht das Recht auf diese Regeln. Es gibt aber Fundamentalmaximen, die das Recht selbst bilden und die Klagen, Exzeptionen und Repliken und so weiter ausmachen, welche, wenn sie durch die reine Vernunft gelehrt werden und nicht von der Willkürmacht des Staats stammen, das Naturrecht bilden; und eine solche ist die eben erwähnte Regel, welche den Vorteil auf anderer Leute Kosten verbietet. Auch gibt es Regeln, wobei Ausnahmen selten sind, und die folglich für allgemeingültig gehalten werden. Solche ist die Regel der Institutionen des Kaisers Justinian im § 2 des Titels von den Klagen, wonach, wenn es sich um körperliche Dinge handelt, der Kläger nicht im Besitze ist, einen einzigen Fall ausgenommen, von dem der Kaiser sagt, daß er in den Digesten angemerkt sei. Aber man ist noch dahinter, diesen zu suchen. Allerdings wollen einige statt sane uno casu lesen sane non uno, und aus einem Fall kann man zuweilen deren mehrere machen.

Bei den Medizinern behauptet der verstorbene Barner, welcher uns durch Herausgabe seines Prodromus Hoffnung auf einen neuen Sennert oder ein den neuen Entdeckungen oder Meinungen angepaßtes System der Medizin gemacht hatte, daß die von den Ärzten in ihren Systemen der Praxis gewöhnlich beobachtete Methode darin bestehe, die Heilkunst auseinanderzusetzen, indem man von einer Krankheit nach der anderen handelt, gemäß der Ordnung der Teile des menschlichen Körpers oder sonst wie, ohne allgemeine Vorschriften der Praxis gegeben zu haben, die mehreren Krankheiten und Symptomen gemeinsam sind, und daß sie dies zu unendlich vielen Wiederholungen nötige, dergestalt, daß ihm zufolge man drei Viertel des Sennert aufgeben und die Wissenschaft durch allgemeine Sätze und vor allen Dingen durch solche unendlich abkürzen könne, denen das katholou prôton des Aristoteles (das Allgemeine im ersten, eigentlichen Sinne des Wortes) zukomme, d.h. die reziprok sind oder sich dem annähern. Ich glaube, er hat recht, zu dieser Methode zu raten, vor allem hinsichtlich[461] der Vorschriften, wo die Medizin sich auf Vernunftschlüsse stützt. Aber in dem Maße, als sie empirisch ist, ist es weder leicht noch sicher, allgemeine Sätze zu bilden. Auch kommen ferner in den besonderen Krankheiten gewöhnlich Komplikationen vor, die gleichsam eine Nachahmung der Substanzen ausmachen, dergestalt, daß eine Krankheit wie eine Pflanze oder ein Tier erscheint, welches eine besondere Geschichte für sich verlangt, d.h. es sind Modi oder Arten des Seins, denen das zukommt, was wir von den Körpern oder Substanzen gesagt haben. So ist ein viertägiges Fieber zu ergründen ebenso schwer, wie das Gold oder Quecksilber. Daher ist es unbeschadet der allgemeinen Vorschriften nützlich, für die verschiedenen Arten der Krankheiten Kurmethoden und Heilmittel, die mehreren Symptomen sind Komplikationen von Ursachen genügen, aufzusuchen, und vor allem die zu sammeln, welche die Erfahrung bewährt hat. Dies hat Sennert gar nicht recht getan, denn tüchtige Sachkenner haben die Bemerkung gemacht, daß die Zusammensetzungen der von ihm vorgeschlagenen Rezepte oft mehr aus dem Kopfe nach Abschätzung gebildet als durch die Erfahrung bewährt sind, wie es sein müßte, wenn man seiner Sache sicherer sein wollte. Ich glaube also, daß das Beste sein wird, beide Wege zu verbinden, und sich in einem so schwierigen und wichtigen Gegenstande, wie die Medizin ist, nicht über Wiederholungen zu beklagen, wo, wie ich finde, uns gerade das fehlt, was wir meiner Meinung nach in der Jurisprudenz zu viel haben, nämlich Bücher mit besonderen Fällen und Repertorien dessen, was schon beobachtet worden ist. Denn ich glaube, daß der tausendste Teil der Bücher der Rechtsgelehrten uns genügen könnte; daß wir aber in Sachen der Medizin nichts zu viel hätten, wenn wir tausendmal mehr ausführlich dargestellte Beobachtungen hätten, weil sich die Rechtsgelehrsamkeit ganz und gar auf Vernunftgründe hinsichtlich dessen stützt, was nicht ausdrücklich durch die Gesetze oder das Gewohnheitsrecht bestimmt worden ist. Denn man kann es immer entweder aus dem Gesetz oder, wenn dies versagt, aus dem Naturrecht mittels der Vernunft gewinnen. Auch sind die Gesetze jedes Landes fest und bestimmt oder können es werden, während in der Medizin die Erfahrungsprinzipien[462] d.h. die Beobachtungen nicht zu sehr vervielfältigt werden können, um der Vernunft mehr Veranlassung zu bieten, das, was die Natur uns nur halb zu erkennen gibt, zu entziffern.

Übrigens wüßte ich niemand, der die Grundsätze in der Art anwendet, wie der gelehrte Autor, von dem Sie reden, es geschehen läßt (§ 16, 17), wie z.B. als ob jemand, um einem Kinde zu zeigen, daß ein Neger ein Mensch ist, sich des Grundsatzes: Was ist, ist, bedienen würde, indem er sagte: Ein Neger hat eine vernünftige Seele, nun ist die vernünftige Seele und der Mensch ein und dasselbe, und wenn folglich er, der eine vernünftige Seele hat, nicht ein Mensch wäre, so würde es falsch sein, daß das, was ist, ist, oder es würde dann auch das Nämliche zu gleicher Zeit sein und nicht sein. Denn ohne diese Maximen zu brauchen, die hier nicht herpassen und nicht direkt zum Schlußverfahren gehören, wie sie denn auch dabei nichts fördern, wird sich jedermann so zu schließen begnügen: Ein Neger hat eine vernünftige Seele; jeder, der eine vernünftige Seele hat, ist ein Mensch, folglich ist der Neger ein Mensch. Und wenn jemand in der vorgefaßten Meinung, daß es keine vernünftige Seele gibt, wenn sie uns nicht erscheint, schließen wollte, daß die eben erst geborenen Kinder und die Blödsinnigen nicht zum Menschengeschlecht gehören – wie in der Tat der Verfasser berichtet, mit ganz verständigen Personen, die es leugneten, darüber verhandelt zu haben, – so glaube ich nicht, daß der schlechte Gebrauch der Maxime: Unmöglich kann etwas zu derselben Zeit sein und nicht sein, sie zu dieser Annahme verleiten würde, oder daß sie auch nur bei diesem Schlusse daran dächten. Die Quelle ihres Irrtums würde eine Ausdehnung des Prinzips unseres Autors sein, welcher leugnet, daß es in der Seele etwas gibt, dessen sie sich nicht bewußt ist, während jene so weit gehen würden, die Seele selbst abzuleugnen, weil andere dieselbe nicht wahrnehmen.[463]

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 436-464.
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