Kapitel XVIII.

Vom Glauben, von der Vernunft und deren bestimmten Grenzen

[550] § 1. Philalethes. Wir wollen uns indessen der angenommenen Sprechweise fügen und in einem gewissen Sinne leiden, daß man den Glauben von der Vernunft unterscheidet. Dann ist es aber billig, daß man diesen Sinn ganz genau erklärt und die Grenzen zwischen beiden festsetzt, denn die Ungewißheit über diese Grenzen hat sicherlich in der Welt große Streitigkeiten hervorgerufen und vielleicht sogar große Unordnungen verursacht. Es ist wenigstens offenbar, daß, bis man sie bestimmt hat, alles Streiten vergeblich ist, weil man, wenn man über den Glauben streitet, die Vernunft anwenden muß. § 2. Ich finde, daß sich jede Sekte mit Vergnügen der Vernunft bedient, so lange sie daraus einigen Nutzen[550] ziehen zu können glaubt; sobald indessen die Vernunft zu versagen angefangen hat, ruft man: das ist ein Glaubensartikel, welcher über der Vernunft steht. Aber der Gegner könnte sich derselben Entschuldigung bedienen, wenn man gegen ihn mit Vernunftgründen zu streiten versuchen wollte, falls man ihm nicht wenigstens bemerkt, warum ihm das in einem gleichscheinenden Falle nicht erlaubt wäre. Ich setze dabei voraus, daß die Vernunft hier die Entdeckung der Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit der Sätze ist, welche wir aus den von uns durch den Gebrauch unserer natürlichen Fähigkeiten d.h. durch Sinnlichkeit und durch Reflexion erworbenen Erkenntnissen gewonnen haben, und daß der Glaube die Zustimmung ist, welche man einem auf die Offenbarung d.h. auf eine außerordentliche Mitteilung Gottes, welche er die Menschen zu wissen getan hat, gegründeten Satze gibt. § 3. Aber ein von Gott inspirierter Mensch kann den übrigen keine neue einfache Vorstellung mitteilen, weil er sich nur der Worte oder anderer Zeichen, welche in uns einfache, durch die Gewohnheit damit verbundene Vorstellungen erwecken, oder deren Verbindung bedient. Mochte auch St. Paul noch so viel neue Vorstellungen empfangen haben, als er in den dritten Himmel entrückt wurde, so ist doch alles, was er davon sagen konnte, nur: es sind Dinge, die kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und die nie in eines Menschen Herz gekommen sind. Gesetzt, es seien auf dem Jupitersballe mit sechs Sinnen versehene Geschöpfe, und Gott gebe einem Menschen unter uns die Vorstellungen dieses sechsten Sinnes auf übernatürliche Weise, so würde er sie doch nicht durch Worte im Geiste der übrigen Menschen entstehen lassen können. Man muß also zwischen ursprünglicher und überlieferter Offenbarung unterscheiden. Die erstere ist ein Eindruck, welchen Gott unmittelbar auf den Geist macht, und diesem können wir keine Schranken setzen; die andere kommt uns nur auf den gewöhnlichen Wegen der Mitteilung zu und kann keine neuen einfachen Vorstellungen geben. § 4. Allerdings können noch die Wahrheiten, welche man durch die Vernunft entdecken kann, uns durch eine überlieferte Offenbarung mitgeteilt werden, wie wenn Gott den Menschen geometrische Lehrsätze hätte mitteilen wollen, aber[551] dies würde nicht mit ebensoviel Sicherheit geschehen, als wenn wir den aus dem Zusammenhang der Vorstellungen gewonnenen Beweis davon hätten. So hatte auch Noah eine sicherere Erkenntnis der Sündflut, als die wir durch das Buch Mosis erhalten, und so war die Gewißheit dessen, welcher sah, daß Moses wirklich schrieb und die Wunder tat, welche seine göttliche Eingebung rechtfertigen, größer als die unsrige. § 5. Daher kann die Offenbarung nicht gegen die klare Evidenz der Vernunft gehen, weil man selbst dann, wenn die Offenbarung unmittelbar und ursprünglich ist, mit Evidenz wissen muß, daß wir uns nicht irren, indem wir sie Gott zuschreiben und den Sinn davon fassen; und diese Evidenz kann niemals größer sein, als die unserer intuitiven Erkenntnis, und folglich kann kein Satz als göttliche Offenbarung angenommen werden, wenn er dieser unmittelbaren Erkenntnis kontradiktorisch entgegengesetzt ist. Sonst würde in der Welt kein Unterschied zwischen der Wahrheit und Falschheit, kein Maßstab des Glaubhaften und des Unglaubhaften übrig bleiben. Auch ist nicht zu begreifen, daß von Gott, diesem wohltätigen Urheber unseres Daseins, etwas komme, was, wenn es als wahrhaft angenommen ist, die Grundlagen unserer Erkenntnisse umstürzen und alle unsere Geistesvermögen unnütz machen muß. § 6. Auch haben diejenigen, welche die Offenbarung nur mittelbar oder durch Überlieferung von Mund zu Mund oder auf schriftlichem Wege haben, die Vernunft noch nötiger, um sich dessen zu versichern. § 7. Indessen ist es immer wahr, daß diejenigen Dinge, welche über das von unseren natürlichen Fähigkeiten möglicherweise zu Entdeckende hinausgehen, die eigentlichen Gegenstände des Glaubens sind, wie der Fall der aufrührerischen Engel, die Auferstehung der Toten. § 9. Darin muß man allein die Offenbarung hören, und selbst hinsichtlich der wahrscheinlichen Sätze wird eine evidente Offenbarung uns gegen die Wahrscheinlichkeit entscheiden.

Theophilus. Wenn Sie den Glauben nur für das nehmen, was auf den Motiven der Glaubwürdigkeit (wie man sie nennt) beruht, und Sie ihn von der inneren Gnade, welche den Geist unmittelbar dazu bestimmt, trennen, so ist alles von Ihnen Gesagte unbestreitbar.[552] Man muß zugestehen, daß es viel evidentere Urteile als die von diesen Motiven abhängigen gibt. Die einen gehen dabei weiter als die anderen, und es gibt sogar eine Menge von Leuten, welche niemals erkannt und noch weniger erwogen haben, was für ein Motiv der Glaubwürdigkeit gelten könnte. Aber die innere Gnade des H. Geistes tritt dabei als unmittelbare Ergänzung auf übernatürliche Weise ein, und dies ist es, was die Theologen eigentlich einen göttlichen Glauben nennen. Allerdings gibt ihn Gott stets nur, wenn das, was er glauben macht, auf der Vernunft begründet ist, sonst würde er die Mittel zur Erkenntnis der Wahrheit zerstören und dem Enthusiasmus die Tür öffnen, aber es ist nicht nötig, daß alle diejenigen, welche diesen göttlichen Glauben haben, diese Gründe erkennen, und noch weniger, daß sie sie immer vor Augen haben. Sonst würden die Einfältigen und die schwachen Köpfe, wenigstens heutzutage, niemals den wahren Glauben haben, und die Aufgeklärtesten würden ihn auch nicht haben, wenn sie dessen am meisten bedürfen könnten, denn sie können sich nicht immer der Gründe des Glaubens erinnern. Die Frage vom Gebrauch der Vernunft in der Theologie ist eine der am meisten verhandelten gewesen, sowohl zwischen den Sozinianern und denen, welche man in einem allgemeinen Sinne Katholiken nennen kann, als zwischen den Reformierten und Evangelischen, wie man in Deutschland vorzugsweise diejenigen nennt, welche manche sehr unpassend als Lutheraner bezeichnen. Ich erinnere mich einmal eine Metaphysik eines Sozinianers Stegmanus gelesen zu haben (eines von Josua Stegmann, der sogar gegen die Sozinianer geschrieben hat, wohl zu unterscheidenden Schriftstellers), welche noch nicht, daß ich wußte, gedruckt worden ist; auf der anderen Seite hat ein sächsischer Theolog, Kessler, eine Logik und einige andere philosophischen Disziplinen ausdrücklich gegen die Sozinianer abgefaßt. Man kann im allgemeinen sagen, daß die Sozinianer zu hastig in der Verwerfung alles dessen sind, was der Ordnung der Natur nicht entspricht, selbst wenn sie die Unmöglichkeit davon nicht beweisen können. Aber auch ihre Gegner gehen mitunter zu weit und treiben das Geheimnisvolle bis zu den Grenzen des Widerspruchs, worin sie der Wahrheit, welche sie zu[553] verteidigen trachten, Abbruch tun. Ich war einmal überrascht, in der Summa theologiae des Pater Honoré Fabry, der sonst einer der gescheitesten seines Ordens gewesen ist, zu sehen, daß er in göttlichen Dingen – wie noch einige andere Theologen gleichfalls – jenes Prinzip leugnete, wonach die Dinge, welche mit einem dritten identisch sind, unter sich selbst identisch sind. Das heißt den Gegnern gewonnenes Spiel geben, ohne es zu denken, und jeder vernünftigen Überlegung alle Sicherheit nehmen. Man müßte lieber sagen, daß dieses Prinzip schlecht dabei angewendet worden ist. Derselbe Schriftsteller verwirft in der Philosophie die virtuellen Unterschiede, welche die Scotisten in den erschaffenen Dingen annehmen, weil sie, sagt er, das Prinzip des Widerspruchs umstoßen würden; und wenn man ihm einwirft, daß man diese Unterscheidungen in Gott annehmen muß, so antwortet er, daß der Glaube es befiehlt. Wie kann aber der Glaube irgend etwas befehlen, was ein Prinzip umwirft, ohne das jeder Glaube, jede Bejahung oder Verneinung eitel wäre? Unmöglich können also zwei wahre Sätze zu gleicher Zeit ganz einander widersprechen, und wenn A und C nicht dasselbe sind, so muß wohl B, welches mit A identisch ist, als etwas anderes genommen werden als das B, welches mit C identisch ist.

Nicolaus Vedelius, Professor in Genf und später in Deventer, hat ehedem ein Buch geschrieben unter dem Titel rationale theologicum (Über den Gebrauch der Vernunft in der Theologie), dem Johann Musaeus von Jena, (welches eine evangelische Universität in Thüringen ist), ein anderes Buch über denselben Gegenstand d.h. über den Gebrauch der Vernunft in der Theologie entgegensetzte. Ich erinnere mich, sie ehedem in Betracht gezogen und bemerkt zu haben, daß die Hauptstreitfrage durch die einschlägigen Nebenfragen verwickelt gemacht worden war, wie z.B. wenn man fragt, was ein theologischer Schluß ist, und ob man darüber aus den Begriffen, welche ihn bilden, oder aus dem Beweismittel urteilen solle, und folglich, ob Occam recht gehabt habe oder nicht, zu sagen, daß das Wissen einer und derselben Folgerung dasselbe ist, als das dazu angewendete Beweismittel. Sie halten sich auch bei noch viel[554] anderen noch unbedeutenderen Nebensachen auf, die nur die Ausdrücke betreffen. Indessen gab Musaeus selbst zu, daß die zu einer logischen Notwendigkeit nötigen Vernunftprinzipien d.h. die, deren Gegenteil auf Widerspruch führt, in der Theologie mit Sicherheit angewendet werden müssen und können, aber er hatte Grund zu leugnen, daß das, was bloß mit physischer Notwendigkeit notwendig d.h. begründet ist auf einem Schluß aus dem, was in der Natur geschieht, oder auf den Naturgesetzen, die sozusagen von göttlicher Einsetzung sind, den Glauben an ein Mysterium oder an ein Wunder zu widerlegen hinreicht, weil es von Gott abhängt, den gewöhnlichen Lauf der Dinge zu verändern. So kann man der Naturordnung gemäß versichern, daß nicht dieselbe Person zu gleicher Zeit Mutter und Jungfrau sein, oder daß ein menschlicher Körper nicht umhin kann, sinnenfällig zu sein, obgleich das Gegenteil des einen oder anderen Gott möglich ist. Auch Vedelius scheint mit dieser Unterscheidung einverstanden zu sein. Man streitet aber mitunter über gewisse Prinzipien, ob sie logisch oder nur physisch notwendig sind. Solches ist der Streit mit den Sozinianern, ob die Substanz vervielfältigt werden kann, wenn die einzelne Wesenheit nicht vervielfältigt wird, und der Streit mit den Zwinglianern, ob ein Körper nur an einer Stelle sein kann. Nun muß man zugeben, daß allemal, wenn die logische Notwendigkeit nicht bewiesen ist, man in einem Satz nur eine physische Notwendigkeit annehmen kann. Aber es bleibt meiner Meinung nach noch eine Streitfrage übrig, welche die von mir eben erwähnten Schriftsteller nicht genug geprüft haben. Es ist folgende: Gesetzt, es findet sich auf der einen Seite der wörtliche Sinn eines Teiles der Heiligen Schrift und auf der anderen eine starke Wahrscheinlichkeit einer logischen Unmöglichkeit oder wenigstens einer anerkannten physischen Unmöglichkeit, ist es dann vernünftiger, dem wörtlichen Sinn zu entsagen oder dem philosophischen Prinzip? Sicherlich gibt es Stellen, wo man ohne Schwierigkeit den Wortsinn verläßt, wie z.B. wo die Schrift Gott Hände gibt und ihm Zorn, Reue und andere menschliche Affekte zuschreibt; sonst müßte man sich zu den Anthropomorphisten schlagen oder zu gewissen englischen Fanatikern, die da glaubten, daß Herodes[555] tatsächlich in einen Fuchs verwandelt worden war, als Jesus Christus ihn mit diesem Namen nannte. Hier müssen die Auslegungsregeln eintreten; und wenn sie nichts bieten, was den buchstäblichen Sinn bestreitet, um den philosophischen Grundsatz zu begünstigen, und wenn der wörtliche Sinn übrigens nichts enthält, was Gott eine Unvollkommenheit beimißt oder in der Ausübung der Frömmigkeit Gefahr bringt, so ist es sicherer und sogar vernünftiger, ihm zu folgen.

Diese beiden eben genannten Schriftsteller streiten noch über das Unternehmen Kekermanns, welcher die Trinität durch die Vernunft nachweisen wollte, wie Raimundus Lullus dies zu tun auch früher versucht hatte. Aber Musaeus erkannte mit großer Billigkeit an, daß wenn der Nachweis des reformierten Schriftstellers gut und richtig gewesen wäre, nichts darüber zu sagen gewesen wäre, und er recht gehabt hätte, hinsichtlich dieses Punktes zu behaupten, das Licht des heiligen Geistes könne durch die Philosophie entzündet werden.

Sie haben auch die berühmte Frage verhandelt, ob diejenigen, welche ohne Erkenntnis von der Offenbarung des Alten oder Neuen Testaments zu haben, in den Gesinnungen einer natürlichen Frömmigkeit gestorben sind, dadurch gerettet werden und Vergebung ihrer Sünden erlangen könnten? Man weiß, daß Clemens von Alexandria, Justinus Martyr und der h. Chrysostomus sich einigermaßen dazu hingeneigt haben; und ich selbst habe einst Pelisson gezeigt, daß viele ausgezeichnete Lehrer der römischen Kirche, weit entfernt, die nicht hartnäckigen Protestanten zu verdammen, sogar die Heiden von der Seligkeit nicht haben ausschließen und behaupten wollen, daß die eben erwähnten durch einen Akt der Zerknirschung, d.h. der auf die Liebe zum Guten gegründeten Reue, hätten gerettet werden können, der gemäß man Gott über alle Dinge liebt, weil diese Vollkommenheiten ihn höchst liebenswert machen. Man wird dadurch von ganzem Herzen getrieben, sich nach seinem Willen zu richten und seine Vollkommenheiten nachzuahmen, um sich mit ihm besser zu vereinigen, weil es gerecht erscheint, daß Gott seine Gnade denen nicht versage, die solche Gesinnungen hegen. Und ohne[556] von Erasmus und Ludovico Vives zu sprechen, führte ich die Ansicht des Jakob Payva Andradius, eines sehr berühmten portugiesischen Lehrers seiner Zeit an, welcher einer der Theologen des Tridentiner Konzils gewesen war und sogar gesagt hatte, daß diejenigen, welche nicht damit übereinstimmten, Gott im höchsten Grade grausam sein ließen (neque enim, inquit, immanitas deterior ulla esse potest). Pelisson hatte Mühe, dies Buch in Paris zu finden, zum Zeichen, daß die zu ihrer Zeit geehrten Schriftsteller später oft vernachlässigt werden. Dies veranlaßte Bayle zu dem Urteil, daß viele den Andradius nur auf Treu und Glauben seines Gegners Chemnitius anführen. Dies mag wohl so sein; was aber mich betrifft, so hatte ich ihn gelesen, ehe ich ihn anführte. Sein Streit mit Chemnitius hat ihn auch in Deutschland berühmt gemacht, denn er hatte für die Jesuiten gegen diesen Autor geschrieben, und man findet in seinem Buche einige Spezialitäten über den Ursprung dieses berühmten Ordens. Ich habe bemerkt, daß einige Protestanten diejenigen Andradier nannten, welche über den erwähnten Gegenstand seiner Meinung waren. Es hat Autoren gegeben, welche eigens über die Seligkeit des Aristoteles auf Grund dieser nämlichen Prinzipien unter Billigung der Zensoren geschrieben haben. Auch sind die Bücher des Collins in Latein und La Mothe le Vayers im Französischen über die Seligkeit der Heiden sehr bekannt. Ein gewisser Fr. Puccius aber ging zu weit. Der h. Augustin, so gescheit und scharfsinnig er gewesen ist, hat sich auf ein anderes Extrem geworfen und sogar die ohne Taufe gestorbenen Kinder verdammt, und die Scholastiker scheinen recht gehabt zu haben, ihn zu verlassen. Freilich haben einige sonst gescheite Männer und darunter solche von großem Verdienst, aber in dieser Hinsicht ein wenig menschenfeindlich gestimmt, diese Lehre jenes Kirchenvaters wieder aufbringen wollen und haben sie vielleicht noch übertrieben.

Auch kann dieser Geist einigen Einfluß in der Streitigkeit zwischen mehreren allzuheftigen Lehrern gehabt haben; und als die Jesuiten als Missionare Chinas berichtet hatten, daß die alten Chinesen die wahre Religion ihrer Zeit und der wahren Heiligen gehabt hätten, und[557] daß die Lehre des Konfuzius nichts Abgöttisches oder Atheistisches enthielte, scheint man in Rom richtiger gehandelt zu haben, daß man eine der größten Nationen nicht verdammen wollte, ohne sie gehört zu haben. Wohl uns, daß Gott mehr Menschenliebe besitzt als die Menschen. Ich kenne Leute, welche im Glauben, ihren Eifer durch Härte der Ansichten zu beweisen, sich einbilden, man könne die Erbsünde nicht glauben ohne ihrer Meinung zu sein; aber darin irren sie sich. Auch folgt nicht, daß diejenigen, welche die Heiden oder andere der gewöhnlichen Heilsmittel Entbehrenden retten, es den bloßen Naturkräften zuschreiben müssen, (obwohl vielleicht einige Kirchenväter dieser Ansicht gewesen sind), weil man behaupten kann, daß wenn Gott ihnen die Gnade schenkt, einen Akt der Zerknirschung zu erwecken, er ihnen auch stets, sei es tatsächlich, sei es der Anlage nach, aber immer übernatürlich vor dem Tode, wenn es auch nur in den letzten Augenblicken wäre, das ganze Licht des Glaubens und die ganze Glut der Liebe, welche ihnen zur Seligkeit nötig ist, gibt. So erklären auch die Reformierten bei Vedelius die Ansicht Zwinglis, welcher sich über diesen Punkt der Seligkeit tugendhafter Heiden ebenso deutlich ausgedrückt hatte, als die Lehrer der römischen Kirche es nur immer tun konnten. Auch hat diese Lehre darin nichts mit der besonderen Lehre der Pelagianer oder Semipelagianer gemein, von der, wie man weiß, Zwingli weit entfernt war. Und da man im Gegensatz zu den Pelagianern bei allen denen, welche den Glauben haben, eine übernatürliche Gnade lehrt (worin die drei anerkannten Religionen übereinstimmen, ausgenommen vielleicht die Schüler Pajons) und sogar entweder den Glauben oder wenigstens ähnliche Bewegungen den die Taufe empfangenden Kindern zugibt, so ist es nicht sehr außerordentlich, dasselbe – wenigstens in der Todesstunde – Leuten von gutem Willen zuzugestehen, die nicht das Glück gehabt haben, auf die gewöhnliche Weise im Christentum unterrichtet zu sein. Aber das Weiseste ist, über so wenig bekannte Punkte nichts zu bestimmen und sich im allgemeinen mit dem Urteil zu begnügen, daß Gott nichts tun könne, was nicht voller Güte und Gerechtigkeit ist: melius est dubitare[558] de occultis, quam litigare de incertis. Besser über das Verborgene ungewiß sein, als über das Ungewisse hadern. (Augustin L. 8. Gen. ad litt. c. 5.)

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 550-559.
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