Kapitel X.

Von dem Vermögen des Behaltens

[111] § 1. 2. Philalethes. Das andere Geistesvermögen, wodurch derselbe in der Erkenntnis der Dinge mehr vorwärts kommt, als durch die bloße Wahrnehmung, ist das, was ich das Behalten nenne. Dies bewahrt die durch die Sinne oder die Reflexion empfangenen Erkenntnisse. Das Behalten geschieht auf zwei Weisen, indem man die gegenwärtige Vorstellung behält, was ich Betrachtung[111] (contemplation) nennen; und indem man die Möglichkeit bewahrt, sie, die Vorstellungen, wieder vor den Geist zurückzuführen, das, was ich das Gedächtnis nenne.

Theophilus. Man behält auch und betrachtet (kontempliert) die angeborenen Erkenntnisse und kann sehr oft das Angeborene vom Erworbenen nicht unterscheiden. Es gibt auch eine Wahrnehmung der Bilder, sowohl derer, welche uns schon einige Zeit innewohnen, als derer, die sich neu in uns bilden.

§ 2. Philalethes. Unsere Partei glaubt, daß diese Bilder oder Vorstellungen etwas zu sein aufhören, wenn sie nicht mehr tatsächlich bemerkt werden; und daß die Behauptung von im Gedächtnis aufbewahrten Vorstellungen im Grunde nichts anderes bedeutet, als daß die Seele bei verschiedenen Gelegenheiten die Macht hat, Wahrnehmungen wieder zu erwecken, welche sie schon mit einer Empfindung gehabt hat, durch welche sie zugleich überzeugt sein kann, solcherlei Wahrnehmungen bereits früher gehabt zu haben.

Theophilus. Wenn die Vorstellungen nur die Normen oder Gestalten der Gedanken wären, so würden sie mit ihnen aufhören; Sie haben aber selbst anerkannt, daß sie deren innere Gegenstände sind, und auf diese Art bestehen bleiben können. Ich wundern mich, wie Sie immer von diesen bloßen Vermögen oder Fähigkeiten reden können, welche Sie bei den Schulphilosophen sicherlich verwerfen würden. Man müßte ein wenig deutlicher erklären, worin diese Fähigkeit besteht und wie sie ausgeübt wird; dies würde zeigen, daß es Dispositionen gibt, welche Reste der früheren Eindrücke sowohl in der Seele als im Körper sind, deren man sich aber nur dann bewußt ist, wenn das Gedächtnis dazu Anlaß findet. Und wenn nichts von den früheren Gedanken übrig bliebe, sobald man nicht mehr daran denkt, so würde es nicht möglich sein zu erklären, wie man das Andenken daran bewahren kann; deswegen heißt, auf jene bloße Fähigkeit zurückgehen, etwas Unverständliches behaupten.[112]

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 111-113.
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