Kapitel XIV.

Von der Dauer und deren einfachen Modi

[125] § 10. Philalethes. Der Ausdehnung entspricht die Dauer. Und einen Teil der Dauer, in dem wir keine Abfolge von Vorstellungen bemerken, nennen wir einen Augenblick.

Theophilus. Diese Definition des Augenblicks muß, wie ich glaube, von dem volkstümlichen Begriff verstanden werden, wie die, welche der gemeine Mann vom Punkt hat. Denn streng genommen sind Punkt und Augenblick keine Teile von Raum und Zeit und haben ebensowenig Teile. Es sind nur äußerste Grenzen.[125]

§ 16. Philalethes. Nicht die Bewegung, sondern eine beständige Reihenfolge von Vorstellungen gibt uns die Vorstellung der Dauer.

Theophilus. Eine Reihenfolge von Wahrnehmungen erweckt in uns die Vorstellung der Dauer, bringt sie aber nicht hervor. Unsere Wahrnehmungen haben niemals eine so beständige und regelmäßige Folge, um der der Zeit zu entsprechen, welche ein einförmiges, einfaches Kontinuum ist, wie eine gerade Linie. Die Veränderung der Vorstellungen gibt uns Gelegenheit, an die Zeit zu denken, und man mißt sie durch gleichmäßige Veränderungen: aber wenn es auch nichts Gleichmäßiges in der Natur gäbe, so würde die Zeit dann doch bestimmt sein, wie der Ort darum nicht weniger bestimmt sein würde, wenn es keinen festen oder unbeweglichen Körper gäbe. Der Grund ist, daß, wenn man die Gesetze der ungleichmäßigen Bewegungen kennt, man dieselben immer auf denkbare gleichmäßige Bewegungen zurückbringen und mittels dessen voraussehen kann, was durch die verschiedenen miteinander verbundenen Bewegungen herauskommen wird. In diesem Sinne ist denn auch die Zeit das Maß der Bewegung, d.h. die gleichmäßige Bewegung ist das Maß der ungleichmäßigen.

§ 21. Philalethes. Man kann nicht auf sichere Weise erkennen, daß zwei Zeitteile an Dauer einander gleich sind; und man muß gestehen, daß die Beobachtungen nur auf das Ungefähre gehen können. Nach genauer Untersuchung hat man entdeckt, daß in den täglichen Sonnenumläufen Unregelmäßigkeit vorkommt, und wir gewissen nicht, ob nicht die jährlichen Umläufe auch ungleich sind.

Theophilus. Der Pendel hat die Ungleichheit der Tage von einem Mittag zum anderen sinnlich bemerkbar und sichtbar gemacht: solem dicere falsum audet. Man wußte es allerdings schon und auch, daß diese Ungleichheit ihre Regeln habe. Was den jährlichen Umlauf anbetrifft, welcher die Ungleichheiten der Sonnentage ausgleicht, so könnte er in der Folgezeit wechseln. Die Umwälzung der Erde um ihre Achse, die man gewöhnlich dem Primum mobile zuschreibt, ist bis jetzt unser bestes Maß, und die Uhren und Zeiger dienen dazu, sie einzuteilen. Indessen kann selbst auch diese tägliche[126] Umwälzung der Erde in der Folgezeit wechseln, und wenn irgend eine Pyramide lange genug dauern könnte, oder wenn man deren wieder neue baute, so könnte man es bemerken, indem man darauf die Länge der Pendel aufbewahrte, von denen eine bekannte Zahl von Schwingungen jetzt während dieser Umwälzung stattfindet; man würde auch einigermaßen die Veränderung erkennen, indem man diese Umwälzung mit anderen vergliche, wie mit dem Umlauf der Jupitertrabanten; denn es scheint unwahrscheinlich, daß, wenn in den einen oder in den anderen Veränderung vorkommt, diese stets proportional sein werde.

Philalethes. Unser Zeitmaß würde richtiger sein, wenn man einmal einen vergangenen Tag aufbewahren könnte, um ihn mit den zukünftigen Tagen zu vergleichen, wie Man die räumlichen Maße aufbewahrt.

Theophilus. Statt dessen sind wir aber darauf angewiesen, die Körper aufzubewahren und zu beobachten, die ihre Bewegungen in einer ungefähr gleichen Zeit vollziehen. Auch werden wir nicht behaupten können, daß ein räumliches Maß, wie z.B. eine Elle, welche man in Holz oder Metall aufbewahrt, voll kommen dieselbe bleibe.

§ 22. Philalethes. Da nun alle Menschen die Zeit sichtbarlich durch die Bewegung der himmlischen Körper wessen, ist es gar seltsam, daß man die Zeit als Maß der Bewegung zu definieren nicht aufhört.

Theophilus. Ich sagte eben (§ 16), wie das verstanden werden muß. Allerdings sagt Aristoteles, daß die Zeit die Zahl und nicht das Maß der Bewegung ist. Und Man kann in der Tat behaupten, daß die Dauer durch die Zahl der periodischen, gleichen Bewegungen erkannt wird, von denen eine anfängt, wenn die andere schließt, z.B. durch so und so viel Umläufe der Erde oder der Gestirne.

§ 24. Philalethes. Indessen antizipiert man hinsichts dieser Umläufe; und sagen, daß Abraham im Jahre 2712 der Julianischen Periode geboren wurde, heißt ebenso unverständlich sprechen, als wenn man vom Beginn der Welt an rechnen wollte, obschon man voraussetzt, daß die Julianische Periode mehrere hundert Jahre eher angefangen hat, als es durch irgend einen Sonnenumlauf bezeichnete Tage, Nächte oder Jahre gab.

Theophilus. Diese Leere, welche man in der Zeit denken kann, zeigt wie die des Raumes, daß Zeit und Raum[127] ebensogut auf das Mögliche als auf das Wirkliche gehen. Übrigens ist von allen chronologischen Methoden die, die Jahre seit dem Anfang der Welt zu rechnen, die ungeeignetste, wäre es auch nur wegen des starken Widerspruchs zwischen den Septuaginta und dem hebräischen Texte, anderer Gründe nicht zu gedenken.

§ 26. Philalethes. Man kann den Anfang der Bewegung denken, obgleich man den der Dauer, dieselbe in ihrer ganzen Ausdehnung genommen, nicht begreifen kann. Ebenso kann man dem Körper Grenzen geben, aber nicht ebenso hinsichtlich des Raumes verfahren.

Theophilus. Darum, weil, wie ich eben bemerkt habe, die Zeit und der Raum Möglichkeiten über die Annahme von Wirklichkeiten hinaus zeigen. Die Zeit und der Raum haben die Natur ewiger Wahrheiten, welche sich ebensowohl auf das Mögliche wie auf das Wirkliche beziehen.

§ 27. Philalethes. In der Tat stammt die Vorstellung Zeit und die der Ewigkeit aus derselben Quelle, denn wir können in unserem Geiste bestimmte Längen der Zeitdauer, soviel es uns gefällt, aneinanderfügen.

Theophilus. Aber um den Begriff der Ewigkeit daraus zu ziehen, muß man ferner bedenken, daß derselbe Grund immer bleibt, um weiter zu gehen, Diese Erwägung der Gründe vollendet den Begriff des Unendlichen oder des Unbestimmt-Unendlichen in dem mögliche fortschreiten. Die Sinne allein also können nicht genügen, um die Bildung dieser Begriffe zu bewerkstelligen. Und im Grunde kann man sagen, daß die Vorstellung des Absoluten in der Natur der Dinge der der hinzugefügten Schranken vorausgeht. Aber wir bemerken die erstere nur, indem wir mit dem beginnen, was beschränkt ist und uns in die Sinne fällt.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 125-128.
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