Kapitel XXX.

Von den wirklichen und den chimärischen Vorstellungen

[259] § 1. Philalethes. In Hinsicht der Dinge sind die Vorstellungen wirkliche oder chimärische, vollständige oder unvollständige, wahre oder falsche. Unter wirklichen Vorstellungen verstehe ich diejenigen, welche in der Natur begründet sind und einem wirklichen Wesen, dem Dasein[259] der Dinge oder den Urbildern entsprechen. Sonst sind sie phantastische oder chimärische.

Theophilus. In dieser Erklärung ist ein wenig Dunkelheit. Die Vorstellung kann in der Natur einen Grund haben, ohne diesem Gründe zu entsprechen, wie wenn man behauptet, daß die sinnlichen Empfindungen der Farbe oder der Wärme keinem Originale oder Urbilde gleichen. Eine Vorstellung kann auch wirklich sein, wenn sie möglich ist, ohne daß ihr ein vorhandenes Wesen entspricht, sonst würde, wenn alle Individuen einer Art aussterben, die Vorstellung derselben zu einer chimärischen werden.

§ 2. Philalethes. Die einfachen Vorstellungen sind alle wirklich, denn obgleich nach der Ansicht mancher die Weiße und die Kälte ebensowenig im Schnee sind wie der Schmerz, so sind doch deren Vorstellungen in uns die Wirkungen von Kräften, welche den äußeren Dingen zukommen, und diese immer gleichen Wirkungen dienen uns ebenso sehr, die Dinge zu unterscheiden, als wenn sie die genauen Bilder dessen wären, was in den Dingen selbst vorhanden ist.

Theophilus. Ich habe diesen Punkt schon oben geprüft, aber es scheint danach, daß nicht immer eine Übereinstimmung mit einem Urbilde verlangt wird, und nach der – von mir übrigens nicht gebilligten – Ansicht derer, welche annehmen, daß uns Gott willkürlicherweise Ideen zugemessen hat, welche die Eigenschaften der Gegenstände zu bezeichnen bestimmt sind, ohne daß dabei Ähnlichkeit oder selbst nur natürliche Beziehung stattfindet, würde ebensowenig dabei Übereinstimmung zwischen unseren Vorstellungen und den Urbildern sein, wie zwischen den Worten, deren man sich in den Sprachen nach Übereinkunft bedient, und den Vorstellungen oder den Dingen selbst.

§ 3. Philalethes. Der Geist ist hinsichtlich der einfachen Vorstellungen leidend, dagegen hat die Verbindung, die er mit ihnen vornimmt, um zusammengesetzte Vorstellungen zu bilden, wobei mehrere einzelne unter demselben Namen zusammengefaßt werden, etwas Willkürliches, denn der eine nimmt bei der zusammengesetzten Vorstellung, die er von dem Gold oder von der Gerechtigkeit hat, einfache Vorstellungen hinzu, die der andere nicht dazu nimmt.

[260] Theophilus. Der Geist verhält sich auch hinsichtlich der einfachen Vorstellungen tätig, indem er sie voneinander absondert, um sie getrennt in Betracht zu ziehen, was ebenso Sache der freien Willkür ist, wie die Verbindung mehrerer Vorstellungen, mag es nun deshalb geschehen, um auf eine zusammengesetzte Vorstellung zu achten, welche daraus entspringt, oder mag er sie unter dem der Verbindung gegebenen Namen zu umfassen beabsichtigen. Dabei kann auch der Geist sich nicht täuschen, wenn er nur keine damit unverträglichen Vorstellungen dazu tut, und wenn dieser Name nur sozusagen ganz unberührt ist, d.h. daß man nur nicht schon einen Begriff damit verbunden hat, welcher eine Vermengung mit demjenigen, welchen man neuerdings damit verbindet, verursachen kann. Denn daraus würden entweder unmögliche Begriffe hervorgehen, indem man Dinge verbindet, die nicht zusammengehören, oder überflüssige und irgend eine Erschleichung enthaltende Begriffe, indem man Vorstellungen verbindet, von denen die eine aus der anderen auf demonstrative Weise abgeleitet werden kann und muß.

§ 4. Philalethes. Da die gemischten Modi und die Relationen keine andere Wirklichkeit als im Geiste des Menschen besitzen, so ist zur Wirklichkeit dieser Art von Vorstellungen nur die Möglichkeit erforderlich, zusammen dazusein und zusammenzustimmen.

Theophilus. Die Relationen haben eine vom Geiste abhängige Wirklichkeit wie die Wahrheiten, jedoch nicht vom menschlichen Geiste, da es eine höchste Vernunft gibt, welche sie alle zu jeder Zeit bestimmt. Die gemischten Modi, die sich von den Relationen unterscheiden, können wirkliche Akzidenzien sein. Mögen sie nun aber vom Geiste abhangen oder nicht, so genügt es für die Wirklichkeit ihrer Vorstellungen, daß diese Modi möglich, oder, was dasselbe bedeutet, daß sie deutlich zu begreifen seien. Und zu diesem Zweck müssen ihre Bestandteile zusammen möglich sein, d.h. miteinander bestehen können.

§ 5. Philalethes. Die zusammengesetzten Vorstellungen der Substanzen aber, da sie allesamt durch den Bezug auf die uns äußerlichen Dinge, und nm die Substanzen so, wie sie in Wirklichkeit vorhanden sind, darzustellen[261] gebildet werden, sind nur insofern wirklich, als sie die Verbindungen einfacher Vorstellungen sind, welche mit den außer uns zugleich vorhandenen Dingen verknüpft und zugleich vorhanden sind. Im Gegenteil sind diejenigen chimärische, welche aus solchen Sammlungen einfaches Vorstellungen zusammengesetzt sind, die niemals wirklich vereinigt gewesen und niemals in irgend einer Substanz zusammengefunden waren, wie diejenigen, welche einen Centauren, einen mit Ausnahme des Gewichtes dem Golde ähnlichen Körper und leichter als Wasser, einen Körper, welcher für die Sinne aus gleichmäßigem Stoff besteht und doch mit Wahrnehmung und freies Bewegung begabt ist, usw. bilden.

Theophilus. Wenn ich auf diese Weise den Ausdruck wirklich und chimärisch anders in Bezug auf die Vorstellungen der Modi nehme, als in Bezug auf diejenigen, welche ein substantielles Ding bilden, so sehe ich nicht, welcher von Ihnen den wirklichen oder chimärischen Vorstellungen gegebene Begriff in dem einen und anderen Falle der gemeinsame sein kann; denn die Modi gelten Ihnen dann als wirklich, wenn sie möglich sind, und die substantiellen Dinge haben bei Ihnen wirkliche Vorstellungen nur dann, wenn sie wirklich vorhanden sind. Wenn sich aber nun an das dasein hält, kann man nicht bestimmen ob eine Vorstellung chimärisch ist oder nicht, weil das Mögliche, wenn es auch an dem Orte oder zu der Zeit, wo wir sind, sich nicht verendet, doch vormals dagewesen sein kann oder vielleicht dereinst da sein wird oder sich sogar schon in der Gegenwart auf einer anderen Welt oder selbst auf der unsrigen, ohne daß man es weiß, verenden mag, wie Demokrit schon von der Milchstraße eine Vorstellung hatte, welche die Fernröhre später bestätigt haben. Demnach scheint es am besten zu sein, zu sagen, daß die möglichen Vorstellungen nur dann chimärische werden, wenn man mit ihnen ohne Grund die Vorstellung tatsächlichen Daseins verbindet, wie diejenigen es machen, welche den Stein der Philosophen finden zu können meinen, oder wie diejenigen es gemacht haben, die an eine Nation von Centauren glaubten. Sonst würde man sich, wenn man sich nur nach dem Dasein richtete, ohne Not von dem angenommenen Sprachgebrauch entfernen, demzufolge[262] jemanden, welcher im Winter von Rosen und Nelken spricht, keine Chimäre beigemessen wird, sofern er sich nicht einbildet, sie in seinem Garten finden zu können, wie man es von Albertus Magnus oder irgend einem anderen angeblichen Zauberer erzählt.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 259-263.
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