Kapitel XXXI.

Von vollständigen und unvollständigen Vorstellungen

[263] § 1. Philalethes. Wirkliche Vorstellungen sind vollständig, wenn sie die Originale, aus denen der Geist sie entnommen zu haben voraussetzt, und worauf er sie zurückbezieht, vollkommen darstellen. Die unvollständigen Vorstellungen stellen nur einen Teil davon dar. Unsere einfachen Vorstellungen sind vollständige. Die Vorstellung der Weiße oder der Süßigkeit, die man am Zucker bemerkt, ist vollständig, weil dazu genügt, daß sie den Kräften, die Gott diesem Körper, um jene Empfindungen hervorzubringen, verliehen hat, gänzlich entspricht.

Theophilus. Wie ich sehe, nennen Sie vollständige oder unvollständige Vorstellungen solche, die Ihr Lieblingsautor adäquate oder nicht adäquate Vorstellungen nennt; man könnte sie fertige oder unfertige nennen. Früher habe ich die adäquate Vorstellung (die fertige) als diejenige definiert, welche so deutlich ist, daß alle ihre Bestandteile deutlich sind. Von dieser Art ist etwa die der Zahl. Wenn eine Vorstellung aber auch deutlich ist und die Definition oder die bezüglichen Merkmale des Gegenstandes enthält, so kann sie doch inadäquat oder unfertig sein, wenn nämlich jene Merkmale oder Bestandteile auch nicht alle deutlich erkannt werden. So ist z.B. das Gold ein Metall, welches der Kapelle und dem Scheidewasser Widerstand leistete das ist eine deutliche Vorstellung, denn sie gibt Merkmale oder die Definition des Goldes an, sie ist aber unfertig, weil die Natur des Prozesses in der Kapelle und der Wirksamkeit des Scheidewassers uns nicht hinlänglich bekannt sind. Dies ist der Grund, weshalb derselbe Gegenstand bei einer unfertigen Vorstellung mehrerer voneinander unabhängiger[263] Definitionen fähig ist, so daß man nicht immer die eine aus der anderen ableiten noch voraussehen kann, daß sie demselben Subjekt zugehören müssen; und dann lehrt uns die Erfahrung allein, daß sie ihm alle zugleich angehören. So kann das Gold auch als der schwerste oder der dehnbarste der uns bekannten Körper diniert werden, ohne von anderen Definitionen zu reden, die man sich noch ausdenken könnte. Aber erst wenn die Menschen tiefer in die Natur der Dinge eingedrungen sein werden, wird man sehen können, warum es dem schwersten der Metalle zukommt, jenen beiden Proben der Experimentatoren zu widerstehen, während es sich in der Geometrie, wo wir fertige Vorstellungen haben, ganz anders verhält, denn da können wir beweisen, daß die durch eine ebene Fläche gemachten Kegel- und Zylinderschnitte dieselben sind, nämlich Ellipsen, und dies kann uns, wenn wir darauf acht geben, nicht verborgen sein, weil unsere Begriffe davon fertige sind. Bei mir ist die Teilung der Vorstellungen in fertige und unfertige nur eine Unterabteilung der deutlichen Vorstellungen, und mir scheinen die verworrenen Vorstellungen, wie diejenige, welche wir von der Süßigkeit haben, diesen Namen nicht zu verdienen, denn obwohl sie die, die sinnliche Empfindung hervorbringende Kraft ausdrücken, so drücken sie sie doch nicht ganz aus, oder wir können es wenigstens nicht wissen; denn wenn wir begriffen, was in dieser unserer Vorstellung der Süßigkeit enthalten ist, so könnten wir beurteilen, ob sie hinreicht, um von dem allen, was die Erfahrung darin bemerken läßt, Rechenschaft zu geben.

§ 3. Philalethes. Von den einfachen Vorstellungen kommen wir zu den zusammengesetzten; sie sind entweder Modi oder Substanzen. Die der Modi sind willkürliche Verbindungen von einfachen Vorstellungen, welche der Geist zusammenfügt, ohne auf gewisse Urbilder oder wirkliche und tatsächlich vorhandene Vorbilder zu achten. Sie sind vollständig und können anders nicht sein, weil ihnen, da sie eben keine Abbilder, sondern Urbilder sind, welche der Geist, um sich ihrer behufs der Einordnung der Dinge unter gewisse Kategorien zu bedienen, bildet, nichts fehlen kann, denn eine jede umschließt eine solche Ideenverbindung, welche der Geist hat bilden wollen, und hat folglich eine solche Vollendung,[264] als er ihr zu geben beabsichtigt hat; und unmöglich kann der Verstand irgend jemandes eine vollständigere oder vollkommenere Vorstellung von einem Dreieck haben, als die von drei Seiten und drei Winkeln. Derjenige, welcher die Vorstellungen der Gefahr, der Ausführung, der von der Furcht verursachten Verwirrung, einer ruhigen Erwägung dessen, was zu tun vernünftig sein würde, und eines schnellen Entschlusses zur Ausführung, ohne sich von der Gefahr erschrecken zu lassen, verknüpfte, der bildete die Vorstellung des Mutes und hatte damit das Gewollte, nämlich eine vollständige, seinem Wunsche entsprechende Vorstellung. Anders ist es mit den Vorstellungen von den Substanzen, bei denen wir uns das, was wirklich vorhanden ist, denken.

Theophilus. Die Vorstellungen des Dreiecks oder des Mutes haben in der Möglichkeit der Dinge ebensogut ihre Vorbilder, als die Vorstellung des Goldes. Auch ist es hinsichtlich des Wesens der Vorstellung gleichgültig, ob man sie vor aller Erfahrung erfunden oder nach der Wahrnehmung einer von der Natur gemachten Verbindung behalten hat. Auch diejenige Verbindung, aus welcher die Modi hervorgehen, ist nicht ganz freiwillig oder willkürlich, denn man könnte nach der Weise derer, welche Maschinen von immerwährender Bewegung ermüden wollen, dasjenige miteinander verknüpfen, was sich nicht zusammen verträgt, während wieder andere gute und ausführbare Maschinen erfinden, die unserer Ansicht nach keine anderen Urbilder als die Vorstellung des Erfinders haben, welche selbst wieder zum Urbild die allgemeine Möglichkeit oder die göttliche Vorstellung hat. Diese Maschinen haben also etwas Substantielles. Man kann auch unmögliche Modi aussinnen, wie wenn man sich den Parallelismus der Parabeln vorstellt, indem man sich denkt, zwei einander parallele Parabeln finden zu können, wie zwei rechte Winkel oder zwei Kreise. Eine Vorstellung also kann, mag sie nun die eines Modus oder eines substantiellen Dinges sein, vollständig oder unvollständig sein, je nachdem man die Teilvorstellungen, welche die Gesamtvorstellung bilden, richtig oder falsch versteht; und das Zeichen einer fertigen Vorstellung ist, wenn man die Möglichkeit ihres Gegenstandes durch sie vollständig erkennt.[265]

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 263-266.
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