[145] 10. Es ist alles ganz Eitel

[145] Meng Sun Yang fragte den Meister Yang und sprach: »Angenommen ein Mensch suche dadurch, daß er sein Leben wert hält und seinen Leib liebevoll pflegt, die Unsterblichkeit zu erlangen: ist das zu billigen?« Jener sprach: »Die Naturgesetze dulden keine Unsterblichkeit.« – »Nehmen wir an, er suche seine Lebensdauer zu verlängern: ist das zu billigen?« Er sprach: »Die Naturgesetze dulden keine Verlängerung des Lebens. Das Leben kann man nicht durch Werthaltung bewahren; den Leib kann man nicht durch liebevolle Pflege gesund erhalten. Und dann: was hat denn die Verlängerung des Lebens für einen Zweck? Die Neigungen und Abneigungen der Gefühle bleiben sich gleich von alters her bis heute, die Sicherheit und Unsicherheit der Glieder bleibt sich gleich von alters her bis heute, die Freuden und Leiden der Weltgeschäfte bleiben sich gleich von alters her bis heute, Wandel und Wechsel von Ordnung und Verwirrung bleiben sich gleich von alters her bis heute. Wenn man das alles erst einmal gehört hat, wenn man es gesehen hat, wenn man es mitgemacht hat: so hat man in hundert Jahren schon zum Überdruß daran; wie bitter müßte da erst eine weitere Verlängerung des Lebens sein!«

Meng Sun Yang sprach: »Wenn es also steht, daß ein früher Tod besser ist als ein langes Leben, so kann man ja sein Ziel erreichen, wenn man sich in die Schärfe des Schwertes stürzt oder ins Wasser oder Feuer springt.«

Meister Yang sprach: »Nicht also! Wenn man schon einmal im Leben steht, so muß man es unwichtig nehmen und über sich ergehen lassen, seine Wünsche beobachten und so den Tod erwarten. Kommt dann der Tod heran, so muß man ihn auch unwichtig nehmen und über sich ergehen lassen, beobachten, was erfolgt, und sich so der Auflösung überlassen. Beides muß man unwichtig nehmen, beides über sich ergehen lassen; was braucht es des Zögerns oder der Hast in dieser Spanne Zeit?«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 145-146.
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