Die physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen.

[423] 1. Wenn wir in einer möglichst gleichmäßigen, möglichst unveränderlichen Umgebung, mit möglichst geringem Vorstellungswechsel, etwa aus dem Schlaf erwachend dahindämmern, und die Uhr gleichmäßig schlagen hören, so unterscheiden wir deutlich den zweiten Schlag von dem ersten, den dritten von dem zweiten und ersten, kurz die späteren Schläge von den früheren, obgleich alle dieselbe Stärke, Tonhöhe und Klangfarbe darbieten. Wir sind auch nicht im Zweifel darüber, daß die Schläge in gleichen zeitlichen Abständen sich folgen, und merken auch sofort (ohne Anwendung eines künstlichen Mittels) die etwa eintretende Störung dieses Verhältnisses. Wir empfinden unmittelbar die Zeit oder die Zeitlage, so wie wir unmittelbar den Raum oder die Raumlage empfinden. Ohne diese Zeitempfindung gäbe es keine Chronometrie, so wie es ohne Raumempfindung keine Geometrie gäbe.

2. Die Existenz eigenartiger physiologischer Prozesse, welche den Zeitempfindungen zu Grunde liegen, wird sehr wahrscheinlich durch den Umstand, daß wir die Gleichheit des Rhythmus, der Zeitgestalt, an zeitlichen Gebilden der verschiedensten Qualität, z.B. an Melodien, welche außer dem Rhythmus keine Ähnlichkeit haben, wiedererkennen.561 Wir empfinden den Rhythmus eines Vorganges unbehindert durch die Qualität desselben. Auffallende physiologische Tatsachen sprechen dafür, daß schon die Elementarorgane zur Fundierung der Zeitempfindung beitragen.[423] Solche Tatsachen sind z.B. das Plateau-Oppelsche Bewegungsnachbild562 einer gedrehten Spirale oder des fließenden Wassers, und das Dvoráksche Erhellungs- oder Verdunkelungsnachbild563 einer längere Zeit fortgesetzten Helligkeitsänderung. Die Änderungsgeschwindigkeit des Ortes und der Helligkeit ist innerhalb der Grenzen der unmittelbaren Wahrnehmbarkeit (also etwa von der Geschwindigkeit des Uhrzeigers oder eines Projektils als extremen Fällen abgesehen) nicht nur ein mathematischphysikalischer Maßbegriff, sondern auch ein physiologisches Objekt.

3. Zwischen unserer physiologischen Zeitanschauung und der metrischen Zeit, welche durch zeitliche Vergleichung physikalischer Vorgänge untereinander gewonnen wird, bestehen analoge Unterschiede, wie zwischen dem physiologischen und dem metrischen Raum. Beide scheinen ja kontinuierlich; einer stetigen Verschiebung in der physikalischen Zeit entspricht eine ebensolche in der physiologischen Zeit; beide laufen nur in einem Sinne ab. Hiermit scheinen aber die Übereinstimmungen erschöpft. Die physikalische Zeit verfließt bald schneller, bald langsamer als die physiologische, d.h. nicht alle Vorgänge, welche physikalisch von gleicher Dauer sind, erscheinen auch der unmittelbaren Beobachtung so. Die physikalische Unterscheidung der Zeitpunkte ist außerordentlich viel feiner als die physiologische. Unserer Zeitanschauung erscheint die Gegenwart nicht als Zeitpunkt, der natürlich immer ganz inhaltlos sein müßte, sondern als ein Zeitabschnitt von ganz beträchtlicher Dauer mit übrigens schwer bestimmbaren, verwischten, und von Fall zu Fall auch verschiebbaren, variablen Grenzen. Die Zeitanschauung ist eigentlich hierauf beschränkt. Dieselbe wird nur ganz unvermerkt ergänzt durch die Erinnerung an die Vergangenheit, und durch die in der Phantasie vorgespiegelte Zukunft, welche beide in sehr verkürzter Zeitperspektive erscheinen. Hierdurch wird auch die Undeutlichkeit der Grenzen der Zeitanschauung verständlich. Für[424] die Physik ist ein sich periodisch wiederholender Rhythmus nur ein zeitliches Gebilde; für unsere Zeitanschauung ändert sich aber die Form dieses Gebildes mit dem Zeitpunkt, in welchem die Aufmerksamkeit einsetzt.564 Ebenso ändert sich die Form desselben geometrischen Gebildes für die Raumanschauung, je nach der Orientierung und dem fixierten Punkt, was ja für die eindimensionale Zeit nur in ein Bestimmungsmoment zusammenfällt.

4. Es kann heute kaum zweifelhaft sein, daß die Zeitanschauung ebenso wie die Raumanschauung durch unsere ererbte leibliche Organisation bedingt ist. Wir würden uns vergeblich bemühen, uns von diesen Anschauungen los zu machen. Mit dieser Stellung auf den Standpunkt der nativistischen Theorie behauptet man aber noch nicht die vollständige Entwicklung der Raum- und Zeitanschauung zu voller Klarheit im Momente der Geburt. Man verzichtet ferner nicht auf die Darlegung des Zusammenhanges der Raum- und Zeitanschauung mit dem biologischen Bedürfnis, noch auf die Untersuchung des Einflusses des letzteren auf die phylogenetische und ontogenetische Entwicklung der ersteren. Endlich ist hiermit noch nicht abgewiesen eine Untersuchung des Zusammenhanges der Raum- und Zeitanschauung mit den geometrischen und chronometrischen Begriffen. Die ersteren sind zur Entwicklung der letzteren zwar unentbehrlich, für sich allein aber unzureichend. Erfahrungen über das räumliche Verhalten der physikalischen Körper gegeneinander und über das zeitliche Verhalten der physikalischen Prozesse gegeneinander müssen zur Bildung der metrischen Begriffe ergänzend eingreifen.

5. Versuchen wir zunächst uns die biologische Bedeutung der Zeitempfindung deutlich zu machen. Bei Spencer findet sich die treffliche Bemerkung, daß die Entwicklung des Zeitsinnes an jene des Raumsinnes gebunden, von dieser abhängig ist. Ein Tier, das sich bloßen Kontaktreizen gegenüber, seien es mechanische oder chemische, zu erhalten, bezw. anzupassen hat, kommt mit diesen Reizen entsprechenden Simultanreaktionen aus. An letztere mag sich immerhin ein organisch bedingter, von der Umgebung unbeeinflußter zeitlicher Ablauf von Prozessen schließen;[425] ein Bedürfnis nach bewußter zeitlicher Auffassung dieser von selbst ablaufenden Vorgänge wird dadurch nicht entstehen. Wird jedoch die räumliche Fernwirkung der Sinne größer, so daß sich die herannahende greifbare Beute zuvor durch den Geruch, ein Geräusch oder ein weithin sichtbares Zeichen ankündigt, dann ist auch das Bedürfnis nach bewußter Reproduktion solcher Annäherungsvorgänge in der natürlichen zeitlichen Ordnung vorhanden. Denn ohne diese psychische Reproduktion könnten die Reaktionen mit ihren zeitlich geordneten und abgemessenen Phasen, die etwa zum Fangen der Beute notwendig sind, nicht eintreten. Der zeitliche Prozeß der Ernährung nach einmal verschluckter Nahrung ist aber vom Bewußtsein unabhängig und daher auch nicht mehr Gegenstand desselben. Die Zeitempfindung und Zeitvorstellung entwickelt sich in der Anpassung an die zeitliche und räumliche Umgebung. Der Mensch, dessen Interessen sich auf die weitesten Räume und die fernsten Zeiten erstrecken, erfreut sich auch der meistentwickelten Zeitempfindung und Zeitvorstellung.565

6. Es ist ein tatsächlicher Grundzug unserer psychischen Reproduktion, daß die Erlebnisse nicht nur in Bezug auf die Qualität der Empfindungselemente und deren Kombination und Anordnung, sondern auch in Bezug auf räumliche und zeitliche Verhältnisse und Ausmaße in der Reproduktion dem Original nahe kommen. Allerdings ist in Bezug auf die erreichte Genauigkeit die Übung und der Grad der Aufmerksamkeit maßgebend. Allein auch der Unaufmerksame erblickt in der Erinnerung die Häuser nicht mit den Dächern nach unten gekehrt, und große Gebäude erscheinen ihm nicht in Liliputanerdimensionen oder mit unverhältnismäßig hohen Schloten. Die Erinnerung an ein Musikstück kehrt nicht die zeitliche Folge der Töne oder des Rhythmus um; ein Adagio wird nicht als Allegro reproduziert oder umgekehrt. Alles dies deutet darauf, daß außer den Elementen unserer Erlebnisse, die wir Sinnesempfindungen nennen, noch andere einen nicht absolut, aber doch relativ festen Grund bildende Elemente (nach Art einer photographischen Platte oder Phonographenwalze) vorhanden sind, welche bei jeder Reproduktion [426] mitreproduziert werden, und die eine zu starke, räumlich-zeitliche Verzerrung der Erinnerungsbilder verhindern.

7. Man hat versucht, durch verschiedene Erwägungen zum Verständnis der Zeitauffassung zu gelangen. Zunächst ist klar, daß ein zeitlicher Verlauf der psychischen Erlebnisse, mögen diese nun sinnliche oder Vorstellungserlebnisse sein, noch kein Bewußtsein dieses zeitlichen Verlaufs einschließt. Wäre das psychische Gesichtsfeld immer auch nur auf eine genügend begrenzte Gegenwart zeitlich eingeschränkt, so könnte nicht einmal die Tatsache der Veränderung überhaupt wahrgenommen werden. Das Bewußtsein muß also stets einen endlichen Zeitabschnitt umfassen, in welchem sich zugleich schwindende und neu auftauchende Empfindungen oder Vorstellungen befinden, damit jene als die früheren, diese als die späteren aufgefaßt werden können. Denkt man sich hierzu den relativ beständigen, durch Gemeingefühle u. s. w. charakterisierten Ichkomplex, so stellt dieser gewissermaßen einen Felsen vor, an dem der zeitlich geordnete Strom der Veränderung vorüberzieht. Das scheint ein ganz leidliches Bild zu sein, und die Art, wie wir die einzelnen Glieder in die Kette der Erlebnisse einordnen, scheint demselben zu entsprechen. Die sinnlichen Erlebnisse der Gegenwart unterscheiden wir leicht von den blasseren und flüchtigeren Erinnerungen der jüngsten Vergangenheit und von den noch mehr abgeblaßten der weiter zurückliegenden Vergangenheit. Der Faden der Association führt uns von den ältesten Erinnerungen bis zu den jüngsten; zur Gegenwart, und durch diese hindurch zu den Erwartungen, welche die Phantasie uns vorspiegelt.566 Allein das bloße Numerieren und Inventieren, Versehen der Glieder mit Ordnungszahlen, wie man diesen Prozeß nennen könnte, scheint mir noch nicht ganz einer Auffassung des zeitlichen Verlaufs zu entsprechen. Dieses Verfahren mögen wir vielleicht üben, wenn uns eine ferne Vergangenheit in sehr gekürzter Perspektive in Erinnerung kommt.[427] Eine wirkliche zeitliche Auffassung, z.B. eines Musikstückes nach Takt und Rhythmus, sowohl in der sinnlichen Gegenwart, als auch in der lebhaften Erinnerung, wird hierdurch kaum zu stande kommen. Es fehlt da sozusagen der feste, die Verzerrung ausschließende Hintergrund, von dem oben die Rede war, auf den die Erlebnisse projiziert sind.

8. Um den letzteren Umstand unserem Verständnis näher zu bringen, stellen wir eine einfache physikalische Betrachtung an. In einen homogenen physikalischen Körper sollen von außen Störungen auf verschiedenen Wegen eintreten, z.B. Ströme einmal durch Aufsetzen der Elektroden in den Punkten a und b, das zweitemal aber durch Aufsetzen in den Punkten c und d eingeleitet werden. Die Niveauflächen, die Flächen gleicher Stromdichte und gleicher Wärmeentwicklung u.s.w. werden in beiden Fällen ganz verschiedene sein. Nun lassen wir durch dieselben Punkte m und n zwei Stoßwellen ungleichzeitig in einen Körper eintreten, und zwar einmal zuerst die Welle durch m, und einmal zuerst die Welle durch n. Die Interferenzfläche liegt im ersten Fall näher an n, im zweiten Fall näher an m.567 Was sich an einem homogenen physikalischen Körper zeigt, tritt noch in viel auffallenderer Weise am organisierten Tierkörper auf. Auf verschiedenen Wegen eintretende Reize bestimmen auch verschiedene, im allgemeinen auf verschiedenen Wegen die Umgebung beeinflussende Reaktionen. Auch die zeitliche Ordnung, in der dieselben Organe von gegebenen Reizen getroffen werden, ist nicht gleichgültig, sondern eine Änderung derselben wird im allgemeinen zu verschiedenen Reaktionen Anlaß geben. So wie es für die Reaktion nicht gleichgültig ist, ob die Rückenhaut des Frosches rechts oder links gereizt wird, ist es auch nicht einerlei, in welchem zeitlichen Zustand dasselbe Organ von demselben Reiz getroffen wird, ob z.B. eine Geschmacks- oder Geruchsreizung im Zustande des Hungers oder der Sättigung eintritt.

9. Zum leichteren Verständnis der räumlichen Auffassung haben wir angenommen, daß jedes gereizte Organ außer der von der Qualität des Reizes mitbestimmten Sinnesempfindung auch noch eine bleibend an die Individualität des Organs gebundene[428] Empfindung liefert. Denken wir uns letztere Empfindung aus einem konstanten und einem mit der Tätigkeit des Organs zeitlich variierenden Anteil bestehend, so bietet sich die Aussicht, durch den letzterwähnten Anteil die Zeitauffassung begreiflich zu machen. Es sind dies natürlich keine Theorien oder Erklärungen des physiologischen Raumes und der physiologischen Zeit, sondern bloße, vielleicht nützliche Paraphrasen und Analysen der Tatsachen, in welchen sich die räumliche und zeitliche Auffassung ausspricht. Wie haben wir uns nun die zeitliche Variation des von der Organtätigkeit abhängigen Empfindungsanteils zu denken, um den Tatsachen der Beobachtung am besten zu entsprechen?

10. Betrachten wir den Menschen oder ein demselben nahe stehendes höheres Wirbeltier. Der Leib desselben zeigt eine zur Erhaltung des Lebens notwendige, fast unveränderliche Temperatur, und gewöhnlich durch beträchtliche Zeit auch eine konstante Temperaturdifferenz gegen die Umgebung. Dies setzt, nach physikalischer Betrachtung, einen sehr gleichmäßigen Verlauf der Lebensfunktionen voraus, welcher durch die unstetigen temporären Reaktionen auf die Umgebung nur mäßige Störungen erfährt. Nur die kleinsten und einfachsten Organismen befinden sich in Verhältnissen, welche eine der gleichmäßigen Konsumtion entsprechende gleichmäßige Zufuhr der Nahrung, also gleichmäßige Restitution, ermöglichen. Bei größeren und entwickelteren Organismen sind periodische Prozesse zur Erhaltung einer unvollkommenen aber zureichenden Gleichmäßigkeit der Lebensfunktionen unvermeidlich. Der Organismus wechselt zwischen Schlaf und Wachen, Hunger und Sättigung. Die zum Leben nötige Luftquantität kann dem Blute nur durch einen periodisch wirkenden Blasebalg, und dieses Blut den Organen nur durch die Herzpumpe zugeführt werden. Zur Anpassung an die Umgebung, zur Beschaffung der Nahrung, ist Lokomotion erforderlich, welche durch taktmäßige periodische Bewegung der Extremitäten, rhythmische Kontraktionen der Muskeln ausgeführt wird.568 Der Muskel selbst zeigt schon bei einer Kontraktion rhythmische Erscheinungen. Selbst die optischen Nachbilder und[429] Blendungsbilder verlaufen periodisch. Perioden von der verschiedensten Dauer sind überhaupt im Organismus reichlich vertreten.569 Fassen wir das Leben in Heringschem Sinne als einen dynamischen Gleichgewichtszustand zwischen Konsumtion und Restitution auf, so überrascht uns die Häufigkeit dieser periodischen Vorgänge so wenig wie die Mannigfaltigkeit der physikalischen Schwingungen. Schwingungen müssen überall auftreten, wo ein stabiles Gleichgewicht gestört wird und wo die Dämpfung nicht stark genug ist, um den Ausgleichsprozeß aperiodisch zu gestalten. Die Neigung der organischen Funktionen zur Periodizität zeigt sich auch darin, daß dieselben sich einer äußerlich aufgedrängten, mehrfach wiederholten Periode von beliebiger Dauer leicht adaptieren, dieselbe annehmen und spontan fortsetzen. Die Anpassung des Schrittes an eine uns zufällig begegnende Militärmusik ist ein naheliegendes Beispiel. Wenn ich einigemal meine Faust taktmäßig balle und dann nicht mehr weiter auf diese Bewegung achte, so bedarf es oft eines besonderen Entschlusses, um dieselbe einzustellen.

11. Biologisch wichtige Reize lösen bei niederen oder sehr jungen Tieren die Anpassungsreflexe aus. Wenn eine Folge von Empfindungen die Aufmerksamkeit eines höher entwickelten Tieres auf sich zieht, so sind diese Empfindungen von einer Tätigkeit begleitet, welche aus durch Erfahrung (Gedächtnis) modifizierten Reflexen besteht. Das Tun ist vom Empfinden nicht zu trennen. Selbst das bloße Beobachten ist für Tier und Mensch ein leises Mittun570 Das Tier wird wohl immer nur für[430] die kurze Zeit einer Willkürhandlung aus seiner psychischen Indifferenz geweckt, und dann wohl nur durch Sinnesempfindungen. Die Aufmerksamkeit des Menschen hingegen wird häufig genug auch durch Erinnerungen (Vorstellungen) erregt. Auch in diesem Falle lassen wir aber nicht bloß passiv Bilder an uns vorbeiziehen, sondern sind leise mittätig, wie wir sofort merken, wenn wir etwa z.B. an einen erlebten oder auch nur wahrscheinlichen oder möglichen Wortwechsel denken. Bei kräftiger entwickeltem psychischen Leben ist auch eine länger dauernde Aufmerksamkeit möglich, allein dieselbe ist auch da nicht konstant, sondern jeder Lernende und Lehrende kann sozusagen ein stoßweises periodisches Anspannen und Nachlassen derselben beobachten. Das Nachdenken über die Lösung eines Problems erfolgt in Anläufen gegen dasselbe Ziel. Oft glauben wir das Gesuchte zu erschauen. Gelingt es uns aber nicht, dasselbe vollständig festzuhalten, so entschlüpft es uns wieder. Es ist dann für diesmal vorbei, und ein neuer Anlauf muß nach einiger Zeit versucht werden.

12. Die Aufmerksamkeit unterliegt also auch Schwankungen. Die Dauer einer solchen Schwankung möchte mehrere Sekunden betragen, und dürfte sich ungefähr über die physikalische Zeit erstrecken, die wir physiologisch als Gegenwart auffassen und bezeichnen. Wenn nun der Mensch den sinnlichen Erlebnissen seiner Umgebung in seinen Reaktionen sich angepaßt hat, mögen diese nun in ausgiebiger körperlicher Tätigkeit oder nur in gespannter Beobachtung bestehen, so wird jedem physikalischen Moment nach Einsetzen der Aufmerksamkeit eine Phase der Aufmerksamkeit entsprechen. Denken wir uns den Verlauf der Phasen der Aufmerksamkeit vom Einsetzen bis zum Erlöschen oder Abspringen derselben ungefähr gleich, die Empfindungen dieser Phasen aber mit den zugehörigen Sinnesempfindungen associiert, so werden die Vorstellungsreproduktion und die physikalische Reproduktion auch in dem zeitlichen Verlauf sich nahezu decken, was für eine Funktion der physikalischen Zeit die Phase der Aufmerksamkeit auch sei. Eine solche Deckung entspricht dem biologischen Bedürfnis. Soll einem Erlebnis durch eine bewußte Willkürhandlung begegnet werden (man denke etwa an das Verhalten des Jägers), so wird wohl die Phase der Aufmerksamkeit in irgend einer Weise empfunden werden müssen.[431] Sollte sich diese Auffassung bewähren, so wäre hiermit der starre unverzerrbare zeitliche Hintergrund der Erinnerung, die gleichmäßig ablaufende Phonographenwalze, gefunden. Natürlich hilft uns diese Auffassung nur die Reproduktion der Verhältnisse kleiner Zeiten verstehen. Für die Ordnung der Erlebnisse, die sich über lange Zeiten erstrecken, genügt ja der Faden der Association; die mikroskopische Detailauffassung befaßt sich da höchstens mit einzelnen wichtigeren Szenen. Denn wäre es nicht so, so würden unsere Erinnerungen dieselbe Zeit in Anspruch nehmen, welche die Erlebnisse selbst schon gekostet haben, und es bliebe uns keine Zeit für neue Erlebnisse.571

13. Nachdem die Aufmerksamkeitsakte die verschiedensten Erlebnisse umfaßt haben, lernt man die Zeitempfindungen als bleibend, von dem übrigen Inhalt der Erlebnisse unabhängig, sich immer wiederholend, kennen. Die Folge der Zeitempfindungen wird zu einem Register, in welches die übrigen Qualitäten der Empfindungserlebnisse eingeordnet werden. Es kommt die Erfahrung hinzu, daß es Vorgänge gibt: Pulsschläge, Schritte, Pendelschwingungen, welche in ihrer Dauer gleich bleiben, welche eine physiologische Zeitbeständigkeit darbieten. Obwohl in verschiedenen, leiblichen, normalen und krankhaften Zuständen, Schlaf, Fieber, Haschischrausch u.s.w., dieselben Ereignisse eine verschiedene Dauer zu haben scheinen, bemerken wir doch, daß die Schwingungen desselben Pendels, wann immer wir ihnen die normale wache Aufmerksamkeit zuwenden, merklich dieselbe Dauer haben. So entwickelt sich die Vorstellung von einer gleichmäßig fließenden Zeit.

14. Auf der tiefsten Stufe des Lebens gehen uns nur die unsern Leib betreffenden Vorgänge an. Sobald aber die Bedürfnisse[432] nicht mehr unmittelbar befriedigt werden können, sondern nur auf dem Umwege durch die zeitlichen Vorgänge in unserer Umgebung, müssen letztere ein indirektes Interesse gewinnen, das jenes an der momentanen Empfindung oft weit übersteigt. Zur Beurteilung des zeitlichen Verlaufs der Prozesse der Umgebung wird aber die physiologische Zeitempfindung zu ungenau und unverläßlich. Wir fangen dann an, physikalische Vorgänge mit andern physikalischen Vorgängen zu vergleichen, z.B. Pendelschwingungen mit Fallbewegungen durch bestimmte Fallräume, oder mit dem während der Pendelschwingung vollführten Drehungswinkel der Erde. Da macht man nun die Erfahrung, daß ein Paar genau definierter physikalischer Vorgänge, deren Beginn und Ende irgendwann koinzidiert, zeitliche Kongruenz zeigt, diese Eigenschaft zu jeder Zeit beibehält. Einen solchen genau definierten Vorgang kann man nun als Zeitmaßstab benützen. Hierauf beruht die physikalische Chronometrie. Man pflegt nun zwar instinktiv die Vorstellung der zeitlichen Substantialität auf den chronometrischen Maßstab zu übertragen, allein man muß bemerken, daß auf physikalischem Gebiet diese Vorstellung gar keinen Sinn mehr hat. Die Messung gibt das Verhältnis zum Maßstab an; über den Maßstab selbst liegt in der Definition nichts. Man muß zwischen der unmittelbaren Empfindung einer Dauer und einer Maßzahl so scharf unterscheiden, wie zwischen Wärmeempfindung und Temperatur.572 Jeder hat seine eigene Zeitanschauung; dieselbe ist nicht übertragbar. Die chronometrischen Begriffe sind allen gebildeten Menschen gemeinsam; dieselben sind übertragbar. Diese Fragen konnten hier so kurz erledigt werden, weil alles mutatis mutandis wiederholt werden konnte, was bezüglich des Raumes zu sagen war.[433]

561

Über die Unzulänglichkeit älterer Theorien des Raumes und der Zeit und Verbesserungsversuche vgl. meinen kleinen Artikel »Bemerkungen zur Lehre vom räumlichen Sehen«, Fichtes Zeitschr. f. Philos. 1865, abgedr. in Populär-wissensch. Vorlesungen, 3. Aufl. – Über den Zeitsinn des Ohres. Ber. d. Wiener Akademie, Januar 1865. – Analyse der Empfindungen. 4. Aufl.

562

Plateau, Poggendorffs Annalen, Bd. 80, S. 287. – Oppel, ebenda Bd. 99, S. 543.

563

Dvorák, Über Nachbilder von Reizveränderungen. Ber. d. Wiener Akademie. Bd. 61. – Mach, Lehre von den Bewegungsempfindungen. Leipzig 1875. S. 59-64.

564

Analyse der Empfindungen. 4. Aufl., S. 201.

565

Spencer, The Principles or Psychology. 2 Ed. 1870. I, p. 320-328 II, p. 207-215.

566

Vgl. zu diesen allgemeinen Betrachtungen die Darstellungen der Psychologie, insbesondere das originelle Buch von Höffding (Psychologie in Umrissen. Leipzig 1893. S. 250-260), ferner die fesselnde Darstellung von W. James (The Principles of Psychologe, I, p. 605-542), endlich die sorgfältige Arbeit von Ebbinghaus (Grundzüge der Psychologie. Leipzig 1902. I, S. 457-466).

567

Vgl. Analyse. 4. Aufl. S. 192-193.

568

Daß am Tierleib keine kontinuierlichen Rotationen vorkommen, wie dieselben bei Maschinen mit Vorteil verwendet werden, liegt natürlich an der Aufhebung des organischen Zusammenhanges, welche dadurch bedingt wäre.

569

Wären alle diese periodischen Vorgänge von so sehr verschiedener Dauer bewußt, wie dies bei den Beinbewegungen gewöhnlich, bei den Atembewegungen zuweilen, bei den Herzschlägen ganz ausnahmsweise der Fall ist, so hätten wir an denselben ein vorzügliches Mittel der Zeitschätzung. Ohne Zweifel liegt in der Verwendung dieser Mittel der Anfang der physikalischen Chronometrie. Vollkommen periodische Vorgänge gibt es übrigens weder im physikalischen, noch im physiologischen Gebiet. Jede Periode liefert einen nichtumkehrbaren Rest. Jeder Moment des Lebens läßt seine unverwischbaren Spuren zurück. Alter und Tod sind die Summe derselben. Vgl. W. Pauli (Ergebnisse d. Physiologie 1904, III. Bd., I. Abt. S. 159), ferner Analyse, 4. Aufl. S. 184.

570

Ein Mensch, der einmal mitgetan hat, beobachtet deshalb ganz anders, ale wenn dies nicht der Fall war. Der Musiker beobachtet und genießt Musik anders als der Unmusikalische u.s.w.

571

Die hier zu Grunde liegende Auffassung der Aufmerksamkeit hat sich aus der physiologischen Vorstellung entwickelt, die sich in meinem Artikel »Zur Theorie des Gehörorgans« findet. (Ber. d. Wiener Akademie, Juli 1863. S. 15-16 des Separatabdrucks.) Hieran knüpfen meine ersten Vorstellungen von der physiologischen Zeit an. (Über den Zeitsinn des Ohres. Ber. d. Wiener Akademie, Januar 1865. S. 14-15 des Separatabdrucks.) Dann folgte die Darstellung in Analyse der Empfindungen 1886. Verwandte Anschauungen haben Riehl (Der philosophische Kritizismus Bd. II, T. I, S. 117), Münsterberg (Beiträge zur experimentellen Psychologie, 2. Heft. 1889) und Jerusalem (Laura Bridgman. 1891. S. 39, 40) vertreten.

572

Vgl. Prinzipien der Wärmelehre S. 39 u. f. und S. 419 der vorliegenden Schrift.

Quelle:
Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Leipzig 31917, S. 423-434.
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