VII. Und wieder die Piaristen.

[54] Ich könnte natürlich manche harmlose Schulanekdote erzählen. Ich möchte aber nicht unterhalten, ich möchte nur durch Beispiele belegen, was ich über das Elend meiner Schulzeit gesagt habe. Was so trostlos war, das äußerte sich ja nicht in den kleinen Lehrerdummheiten, die überall möglich sind und für die die schlimmen Schulbuben so scharfe Ohren haben; was so trostlos war, das war die allgemeine Bildungsstufe der Lehrer und der Schüler, also der ganzen Anstalt. Die preußischen Unteroffiziere, die unter Friedrich dem Großen Schulmeister wurden, hatten nur im Lesen, Schreiben und Rechnen zu unterrichten und besaßen schwerlich weniger Kultur als unser böser Klassenlehrer. Unser Ordinarius in der fünften Klasse hatte viel Mutterwitz und einigen Schliff, aber auch er ließ sich von uns auf Donatschnitzern ertappen. Ein Geschichtslehrer, der sich gerne reden hörte – er soll ein guter Prediger gewesen sein –, war der einzige Deutsche unter den Professoren und ein Mann von einiger Belesenheit. Er war kein Piarist; er gehörte einem Orden an, in dessen Küche die höheren Töchter Prags die höhere Kochkunst studierten, in dessen großer Brauerei und in dessen kleiner Bibliothek man gut bedient wurde. Aber auch diesem Herrn passierte es einmal, daß er die[54] Ausfuhr Venedigs nach Amerika zur Zeit der Kreuzzüge rühmend hervorhob.

Ich muß von meinem harten Urteile noch einen Lehrer ausnehmen, den kränklichen Piaristen, der sich auch äußerlich von den faulen Bäuchen unterschied. Er lehrte in der Volksschule den Katechismus und bei uns Naturgeschichte. Aber auch bei ihm lernten wir nichts, weil »man« Naturgeschichte für das Abiturientenexamen nicht brauchte. Das wußte er und das wußten wir, daß Naturgeschichte nur eben geduldet war. Er brachte Liebe für sein Fach und für die Kinder mit, und wenn wir im Frühjahr mit ihm botanisieren gehen durften, so war es doch ein kleiner Gewinn fürs Leben. Um seine Frömmigkeit mag es schlecht bestellt gewesen sein. Er widmete sich mit Vorliebe den wenigen protestantischen Schülern, brummelte immer, wenn wir auf den Ausflügen bei einer der vielen Kapellen vorüberkamen, und bemühte für die Zoologie die Schöpfungsgeschichte der Bibel nicht. Auf einem unserer Botanisierbummel hatte einer der »Ministranten« den lateinischen Namen des Löwenzahns nicht gewußt; der Lehrer ließ ihn, als wie zur Strafe, die zehn Gebote aufsagen und brummelte dann: »Aber ein dummer Kerl bist du doch!« Ich träumte mir von diesem Lehrer einen ganzen Roman zusammen, von einem unglücklichen Freigeist im Kloster, der lieber die Kleinsten im Katechismus unterrichtete, als daß er in der Naturgeschichte Konzessionen gemacht hätte. Ich traf diesen lieben guten Menschen einige Jahre später, als ich schon Student war, in einer kleinen Sommerfrische, wo er umsonst und eigentlich schon hoffnungslos Heilung einer schweren Lungenkrankheit suchen sollte; als ich ihn grüßte, nannte er mich sofort beim Namen und forderte mich neckend[55] auf, einige Pflanzen in seiner Hand zu bestimmen. Er lud mich zu einem Glase Bier ein und wir blieben viele Stunden zusammen. Ich kann nicht behaupten, daß er mir die Wahrheit meines Romans bestätigt habe. Als wir uns aber trennten, sagte er mir mit der einschmeichelnden Stimme eines Phthisikers: »Erhalte dir so lange wie möglich deine Liebe zu Blumen und Schmetterlingen. Das ist die Liebe Gottes. Sie waren nicht zufrieden damit, daß ich als Katechet den Buben manchmal auch so etwas gesagt hab'. Ich werd's bald vor dem lieben Gott verantworten.« Ich glaube fast, er ist der einzige Christ unter meinen Piaristen gewesen.

Der wichtigste Lehrgegenstand meiner fünf Piaristenjahre war natürlich das Latein. Ich will darum über die Erfolge noch einige betrübte Worte sagen. Die Zeit, in welcher fünfzehn- oder sechzehnjährige Jungen perfekt Latein lesen und schreiben konnten, die Zeit der alten Gelehrtenschule, war selbstverständlich längst vorüber. Längst waren die Ansprüche auf ein Minimum herabgesunken. Wir hätten es in der fünften Klasse aber doch so weit bringen sollen, Nepos, Cäsar und Ovid geläufig zu verstehen. Ich weiß nicht, warum wir Buben gerade den Cäsar und den Ovid lesen durften; die Feldzüge Cäsars sind Männerlektüre; und die gräßlichen Metamorphosen des Ovid wären eigentlich recht beschaffen, für Lebenszeit einen Abscheu vor der lateinischen Poesie zu befestigen. Aber die Wahl der Autoren geht uns hier nichts an. Der Erfolg eines fünf Jahre fortgesetzten täglichen Unterrichts in der lateinischen Sprache dürfte etwa folgender gewesen sein. Die Hälfte der Schüler hatte nichts gelernt, einfach nichts; diese schlechten Schüler hatten vielleicht ein Dutzend Regeln und fünf Dutzend Vokabeln notdürftig auswendig gelernt,[56] und wenn der Lehrer sie sehr laut anschrie und die Banknachbarn einsagten, fügten die Ärmsten am Ende auch ein Subjekt, eine Kopula und ein Prädikat stammelnd zusammen. Aber daß das, was der Lehrer aus ihnen herausschrie und herauszerrte, Ähnlichkeit hätte mit einer Sprache, meinetwegen mit einer toten Sprache, das hätte auch ein Optimist nicht behaupten können. Man denke sich nur in die Seele so eines Unglücklichen hinein. Er wird auf das Gymnasium geschickt, weil er nach dem Willen des Vaters Arzt, Richter, Oberlehrer oder Pfarrer werden soll; er hat auch nicht die allergeringste Neigung, etwas von der antiken Welt zu erfahren; ein Fliegendreckchen an der Wand interessiert ihn mehr als die lateinische Sprache; und er hat auch schon davon munkeln gehört, daß er nachher als Arzt, als Richter, als Pfarrer – was der zum Messelesen braucht, das ist ja wirklich gar bald gelernt – die lateinische Sprache gar nicht mehr brauchen wird, daß es nur so ein alter Schlendrian ist, Latein für die Lateinschule zu lernen. So kratzt sich sein Gedächtnis für die Lateinstunde die paar Dutzend der notwendigsten Begriffe zusammen, und mit dem Glockenzeichen ist alles wieder vorüber. Die wenigsten von diesen schlechten Schülern sind durchgefallen; die meisten wurden von Klasse zu Klasse gequetscht und haben bewiesen, daß man arzten, richten, predigen kann, ohne Latein gelernt zu haben.

Die andere Hälfte der Klasse las in der Quinta Cäsar und Ovid, das heißt, man entzifferte den ungefähren Sinn mit Hilfe der Eselsbrücken und des Wörterbuchs und stand den lateinischen Konstruktionen mit ahnungsvoller Hilflosigkeit gegenüber. Bei keinem von uns konnte davon die Rede sein, auch nur den leichtesten[57] lateinischen Autor so zu lesen, wie unsereins nach einem halbjährigen Unterricht im Französischen einen leichten französischen Schriftsteller liest. Es gab natürlich Musterknaben unter uns (ich fürchte, ich gehörte damals nicht mehr zu ihnen), es gab auch einen Primus; es gab aber keinen einzigen leidlich guten Lateiner.

Unser Ordinarius in der Quinta, der lüsterne Pfaffe mit dem Mutterwitz, imponierte uns in der ersten Stunde nicht schlecht, da er uns androhte, mit uns lateinisch zu reden. Es stellte sich aber bald heraus, daß die copia verborum seiner lateinischen Konversation in drei Sätzchen bestand, die wir ihm denn auch bald ablernten: Loquamur latine. Optime. Verte in vernaculam. So, darin bestand seine lateinische Eloquenz. Ich bitte seinen breiten Schatten um Verzeihung, wenn er noch einen weitern Satz sprechen konnte, und ich den vergessen habe. Und das war der Jammer: wir hatten nicht das Gefühl, unwissender zu sein als unsere Lehrer. Ich glaube jetzt wie damals, daß diejenigen von uns, die den »Freund« fleißig benützt hatten, im psychologischen Augenblicke mehr wußten, als der Herr Professor, der das Faulenzerbuch auch vor sich liegen hatte, der aber zu faul war, hineinzusehen. Natürlich, unser Interesse war größer als das seine.

Ich darf nun nicht länger mit dem Geständnisse zurückhalten, daß ich in diesen fünf Jahren ein so fauler Schulknabe wurde, als nur je einer den Tag um seine Stunden bestohlen hat. Ich gab mir nicht die Mühe, irgend etwas zu lernen, für die Schule zu lernen, wohlgemerkt. Ich hatte es ja nicht nötig. Ich war mit einem einzigen Ausnahmefall immer einer der Ersten in der großen Klasse und galt überdies bei vielen Kameraden und eigentlich auch bei einigen Lehrern für den besten[58] Schüler. Ich hörte nur zu – wenn ich nicht just unter der Bank was zu lesen oder zu dichten hatte –, ich arbeitete zu Hause gar nichts und durfte mich dennoch rühmen, daß meine »Kompositionen« (die Klausurarbeiten) recht viel durch die Mitschüler abgeschrieben wurden. Von einer Anregung oder gar Anleitung zu wissenschaftlicher oder vorbereitender Arbeit war nicht die Rede, niemals. Auch die Ersten der Klasse hatten Vertrauen zu mir, trotzdem mir gelegentlich ein falscher Genetiv oder ein falsches Perfektum aus der Feder lief. Es war eine Schande, wie wir um die schönen Jahre betrogen wurden. Ich drückte die Bank und hatte die Hoffnung aufgegeben, auf diesem Gymnasium jemals geistige Fortschritte zu machen. Die Einführung in das antike Kulturleben blieb aus; und was ich für den Schulbedarf brauchte, das flog bei dem ewigen Wiederkäuen des armseligen Stoffs einem von selber an, auch wenn man während der Schulstunde Goethe las oder schwer gereimte Sonette schmiedete. Man brauchte nur dann und wann hinzuhören.

Ich möchte es noch einmal sagen, und deutlicher als vorhin, daß ich nur für die Schule ein so nichtsnutziger Faulpelz war. Außerhalb der Schule kam meine Lesewut und mein Wissensdrang – wie ich wohl sagen darf – bald wieder zum Durchbruch. Man konnte doch nicht immer in der Moldau schwimmen oder auf der Moldau Schlittschuh laufen. Ich las, wenn ich nicht schwimmen, Schlittschuh laufen, essen oder schlafen konnte. Ein Stubenhocker bin ich auch in den Jahren meines wildesten Fleißes nicht gewesen. Trotzdem zu meiner Zeit jede Anregung oder gar Anleitung zur Übung eines Sports fehlte – wir kannten das Wort nicht –, trieb es mich immer wieder hinaus in die Berge, in die Wälder,[59] in den Fluß. Als Schlittschuhläufer habe ich es nicht bis zur edeln Kunstfertigkeit gebracht; ich lief eben stundenlang die Moldau aufwärts, wohl bis über Kuchelbad hinaus; wie ich denn auch als Fußwanderer schnell und ausdauernd war wie einer. Bloß im Wasser durfte ich mich rühmen, eine nicht ganz alltägliche Geschicklichkeit zu besitzen. Aber ohne irgendein gutes oder schlechtes Buch ging ich kaum aus dem Hause; es fehlte nicht viel, und ich hätte mir auch ins Wasser etwas zu lesen mitgenommen; wenigstens glückte mir einmal das Kunststück, über die Moldau hinüber und herüber zu schwimmen, ein Buch in der linken Hand zu halten und es trocken zurückzubringen.

Diese Erinnerungen haben eine erziehliche Absicht, und es täte mir leid, wenn ein anderer fauler Schlingel aus meiner Erzählung den Schluß ziehen wollte: man könnte durch bloße Faulheit ein einigermaßen geachteter Schriftsteller werden. Ich will nicht auf meine sprachphilosophischen Schriften hinweisen, an denen just die vielseitigen Kenntnisse öfter gerühmt und überschätzt worden sind. Ich habe mir den nötigen Schulsack erst in sehr reifem Alter angeschafft. Aber ich hatte doch immerhin (auf den obersten Klassen des Gymnasiums) den Plan gefaßt, und einen Bruchteil des Plans ausgeführt, Heines Gedichte ins Griechische zu übersetzen. Ich kann nicht leugnen, daß unser Primus mir in der Übersetzung von »Du hast Diamanten und Perlen« einen falschen Dual korrigieren mußte; dennoch scheint mir die Übersetzung von einem Dutzend Heinescher Gedichte ins Altgriechische immerhin ein Beweis, daß ich trotz meiner gottsträflichen Schülerfaulheit ein recht fleißiger Bursche gewesen warI.[60]

Der Widerspruch löst sich natürlich durch meine Lesewut. Es dürfte schwer zu berechnen sein, wieviel Bände ich während meiner Gymnasialzeit verschlungen habe. Was ich las? Das Beste und das Schlechteste durcheinander. Einige Romane, die deutschen Klassiker und dann – Räuber- und Geistergeschichten, die eine große Abteilung im Kataloge unserer Leihbibliothek ausmachten. Ohne Wahl, ohne jede Leitung, ohne jede Hilfe, ohne jede Kritik habe ich damals viele, viele hundert Bände von Klassikern gelesen, von deutschen, lateinischen und griechischen Klassikern. Das Wort »Klassiker« hatte es mir angetan. Ich bin noch sehr lange nachher kindlich genug gewesen für wertvoll zu halten, was allgemein angepriesen wurde. Ich werde gleich zu erzählen haben, wo und wie ich zu den Büchern kam, die ich in jeder freien Stunde, gar zu oft beim Lichte einer Kerze, zu verschlingen liebte: Kräuterbücher, Reisebeschreibungen, irgendwelche längstvergessene deutsche Dichter in elendem Nachdruck auf Löschpapier, sodann die auf Kredit geliebten lateinischen und griechischen »Klassiker« in der augenmörderischen Ausgabe von Tauchnitz. Ich habe damals gewiß den Grund zu dem Augenübel gelegt, das mir jetzt die Arbeit so erschwert. Aber das ahnte ich noch nicht; ich las und las, ich las, als hätte ich mich freiwillig zum Lesen verurteilt. Wahllos und ohne jede Leitung – wie gesagt – las ich jedes lateinische und griechische Buch, das ich erstanden hatte. Es war ja ein Klassiker, der Redner und der Dichter, der Grammatiker und der Geograph, jeder war mir recht, jeder wurde verschlungen. In trotzigem Gegensatz gegen die Art, wie auf der Schule zwei Zeilen in der Stunde durchbuchstabiert wurden, las ich die lateinischen und dann die griechischen[61] Klassiker sehr schnell durch; im Lexikon wurde nur dann nachgeschlagen, wenn sonst nicht einmal der ungefähre Sinn klar geworden wäre. So gewann ich mit der Zeit eine erstaunliche Übung im Lesen lateinischer und griechischer Schriften, freilich ohne die wünschenswerte grammatikalische Festigkeit. So gewann ich aber auch langsam die Überzeugung, daß ein Klassiker ein recht langweiliger Herr sein kann. Keiner von den Lateinern hat mir jemals Freude gemacht. Meine ganze Liebe gehörte Homer, bei dem ich es freilich nicht mit einem ungefähren Verständnis abgetan sein ließ. Mit Hilfe eines Homerwörterbuchs überwand ich die Schwierigkeiten des Anfangs; später habe ich ganze Gesänge der Ilias mit Lust auswendig gelernt. Ich fürchte, meine griechische Heineübersetzung weist homerische Einflüsse auf und ist kein Muster der attischen Sprache. Doch dieses wilde Lesen der alten Klassiker und dann das ebenso leitungslose Erlernen moderner Sprachen fällt mit in die Zeit meines zweiten Gymnasiums. Ich glaube, ich litt schon in jenen Jahren sehr bitter darunter, daß ich auf der Welt keinen Menschen wußte, den ich in meinem Wissensdrange hätte um Rat fragen können. Es mag aber auch an mir selbst gelegen haben, daß ich lieber für einen Faulpelz galt und keiner Seele das Geheimnis meines heimlichen Fleißes anvertraute. Einen Wegweiser habe ich auf meinem Wege nicht gefunden, auch später nicht.

Zu meinem heimlichen Fleiße und zu den Gefahren, die der Mangel eines Wegweisers mit sich führt, gehörte auch die Art, wie ich mir Bücher verschaffte. Ich hatte nicht Geld genug, um beim Buchhändler zu bestellen, wonach mich verlangte. Aber mit einigen Kreuzern oder »Sechserln« in der Tasche ging ich allsonntäglich[62] nach der Judenstadt, in deren Hauptstraße alle Trödler ihre unsäglichen Waren ausgelegt hatten, auch alte Bücher. In der Judenstadt wäre für mich manches zu sehen und zu hören gewesen, was mich hätte interessieren müssen: die »Altneuschul«, der uralte jüdische Friedhof, vor allem aber die köstlichen, oft kabbalistischen Sagen, die sich an die altberühmte Synagoge und an einzelne Grabsteine des Friedhofs knüpften. Ich aber suchte in der Judenstadt allsonntäglich nur eins: Bücher, die ich für ein paar Kreuzer oder ein Sechserl erstehen konnte. Da lagen sie über die schmutzigen Tische geschüttet, Bücher aller Art, zerlesene Romane und wissenschaftliche Werke, die meisten unvollständig, einzelne Bände, die ganz besonders wohlfeil waren. Und Klassiker! Griechische, lateinische französische und deutsche Klassiker. Das Wort machte mich ja wehrlos. War auf dem Titelblatte in irgendeiner Sprache die Bezeichnung »Klassiker« gedruckt, so glaubte ich einfältig, alle Herrlichkeiten und Geheimnisse der Welt müßten in dem Buche stecken. Ich kaufte so viele Klassiker, als ich bezahlen konnte. Ich habe erst viel später erfahren, daß der Verleger einen alten oder neuen Autor zu einem Klassiker ernennen kann; daß die Bezeichnung im Grunde nicht viel besagen will, daß es, wie Julian Hirsch sagen würde, einen ruhmerzeugenden Handel und andere Fälscher des Ruhmes gibt.

Ich war also bei absoluter Schulfaulheit einer der besten Schüler und hatte mir privatim eine erstaunliche Übung im oberflächlichen Lesen lateinischer und griechischer Schriften angeeignet; aber ich verließ das Piaristengymnasium ohne die Kenntnis der lateinischen Grammatik, ohne die Kenntnis gerade, zu der auch der[63] letzte Schüler der Klasse verpflichtet gewesen wäre. So frage ich mich besonnen, ob es möglich ist, was ich nun aussprechen will; und ich weiß doch, daß es wahr ist. Acht Jahre waren vergangen, seitdem ich aus den Händen unseres Hofmeisters gekommen war. Von diesen acht Jahren hatte ich drei mit angestrengtem Fleiße dem Geschäfte und der Eitelkeit eines gewissenlosen Schuldirektors gewidmet, hatte ich fünf Jahre mit gottsträflicher Zeitvergeudung fünf bis sechs Stunden täglich den geistlichen Lehrern gegenüber versessen. Und an Schulkenntnissen war ich in diesen acht Jahren nicht reicher geworden, als ich bei verständiger Leitung in einem halben oder meinetwegen in einem ganzen Jahre hätte werden können. Daß ich in diesen Jahren trotz alledem etwas gescheiter und kritischer geworden war, das war wahrhaftig nicht das Verdienst der Schulen.

Ich muß es nun zu meiner Ehre sagen, daß mir das Bewußtsein immer unerträglicher wurde, so die Zeit zu vertrödeln. Mein Wunsch, etwas Ordentliches zu lernen, gab mir den Gedanken ein, das Piaristengymnasium zu verlassen, das Kleinseitner Gymnasium aufzusuchen, das in der Schülerwelt bekannt und gefürchtet war um seiner Strenge und um seiner tüchtigen Leistungen willen. Ich stand bereits in meinem siebzehnten Jahre; aber dennoch darf ich es als ein gutes Zeichen betrachten, daß mich dieser Ruf anzog. Ein bißchen Deutschtümelei mag mitgesprochen haben, denn das Kleinseitner Gymnasium war eine wirklich deutsche Anstalt. Und ich will auch nicht verbergen, daß mein Wissensdrang gewiß auch von Eitelkeit gespornt wurde; ich hörte es nicht gern: »Ja, bei den Piaristen, da bist du ein Vorzugsschüler; aber bei uns auf der Kleinseite,[64] da geht's dir schlecht, da fällst du bei Nacke (dem Lehrer der Mathematik) sicher durch.«

Ich habe wohl immer die Neigung gehabt – mir selbst unbewußt – das Brett zu bohren, wo es am härtesten ist. Ich war also entschlossen, mit dem Gymnasium zu wechseln; das war aber nicht so leicht ausführbar, weil in unserem Hause die Kinder keinen eigenen Willen haben durften und unter der strengen Zucht des Vaters auch kaum mehr hatten. Mein Vater hatte mich auf dem Piaristengymnasium einschreiben lassen; da hatte ich zu bleiben bis zur »Maturitätsprüfung«. Es war nicht Sitte in meinem Elternhause, dem Vater zu sagen: ich gehe zugrunde, wenn dein Wille geschieht. Ich habe mir gewiß unter der ganz patriarchalischen Zucht meines Vaters erst den passiven Widerstand angewöhnt, mit dem ich später oft – anstatt in offenem Kampfe – Widerstände gebrochen habe.

Im Jahre 1866 brachte eine jener Ungerechtigkeiten, die einen Knaben vernichten können, meinen Entschluß zur Reife; und wenige Monate später half mir ein Stückchen Weltgeschichte meinen Vater meinen rebellischen Plänen geneigt zu machen. Krieg und Cholera mußten kommen, um mich aus dem Piaristengymnasium zu erlösen.

Die entscheidende Ungerechtigkeit, welche die Wendung in meinem Schülerleben herbeiführte, war eine richtige Dummejungengeschichte; und ich verlange von keinem Leser, daß er sie tragisch nehme. Auch ich gedenke der Sache nach gerade fünfzig Jahren ohne Schmerz, aber immer noch in Zorn; denn ich weiß, was der Knabe gelitten hat.

Die Geschichte hat anzuheben wie andere Schülergeschichten; der Ordinarius in der Quinta »hatte eine Pike« auf mich. Damals bildete ich mir ein, mein einsames[65] Frondieren gegen die allgemeine Privatstunde wäre der alleinige Grund dieses Hasses gewesen; der frühere Ordinarius, der mit dem bösen Knechtsgesicht, hätte seinen klügeren und darum mutigeren Nachfolger gegen mich aufgehetzt. Der frühere Ordinarius hatte übrigens noch einen besonderen Grund, eine Pike auf mich zu haben; er war aus dem gleichen Orte gebürtig wie ich, schämte sich – er hat sich mir gegenüber verraten – seiner niedern Abkunft und fürchtete, ich oder meine Eltern wüßten allerlei über sein Vaterhaus. Wenn ich mir die Lage der Dinge heute recht überlege, so muß ich gestehen, meine guten wie meine schlimmen Eigenschaften möchten dazu beigetragen haben, mich manchem Lehrer unliebsam zu machen. Ich fügte mich nicht recht in die Schablone des Unterrichts, ich war ja zu alt für meine Klasse. Ich galt bei denjenigen Lehrern, die mich gern hatten, für ein Lumen der Schule; die andern hatten mein schlechtes Präparieren und meine vorlauten Antworten oft zu rügen. Der Ordinarius gab mir seine Abneigung, die freilich gegenseitig war, deutlich zu erkennen und drohte mir einmal vor der Klasse, mich von meiner guten »Lokationsnummer« hinunterzubringen. (Die Reihenfolge, in welcher wir nach der Güte unserer Zensuren gesetzt wurden, hieß die »Lokation«.) Nun wurde ich noch trotziger, gab ganz ungehörige Antworten und machte in den Pausen Epigramme auf seinen Bauch, auch in lateinischen Distichen. Solche Dinge wurden den Lehrern immer hinterbracht; wir glaubten bestimmt, daß die Ministranten die Spione machten; Angeberei ist in einem Klostergymnasium wohl unausrottbar.

Eines Tages hatte ich in einer lateinischen Klausurarbeit das Wort hauddum für noch nicht gebraucht,[66] ich weiß nicht, ob der Sinn ganz richtig getroffen war oder nicht; ich hatte das Wort bei meiner wilden Livius-Lektüre aufgeschnappt und fand es wahrscheinlich schön. Als der Lehrer die Arbeiten am nächsten Tage wiederbrachte, rief er mich heraus und seine Augen funkelten von Bosheit. Die Klasse wieherte vor Wonne, als er immer wieder hauddum, hauddum rief und dann meinte, ich hätte wohl saudumm schreiben wollen, wie ich wäre. Ich muß ihn wohl unverschämt angesehen haben, denn bevor ich ein Wort erwidern konnte, schrie er mich an: »Du hast dir da ein Wort erfunden, das im Lateinischen gar nicht möglich ist. Du bist verrückt. Ich lasse dich durchfallen. Du kriegst einen Dreier (die schlechteste Zensur) aus Latein. Setz' dich!«

Am nächsten Morgen brachte ich meinen Livius mit und zeigte das Wort erst der ganzen Klasse und dann dem Ordinarius. Er warf das Buch auf den Boden und sagte nichts. Von da ab bis gegen den Schluß des Wintersemesters stellte er keine Frage mehr an mich. Dann, eines Morgens, pries er in der Lateinstunde die Schönheiten der tschechischen Sprache. Man werfe ihr vor, ihre Vokabeln seien zu arm an Vokalen; das sei aber nicht wahr und eine Sprache aus lauter Vokalen wäre noch lange nicht schön. Und zu einem Hauptspaße der Klasse quetschte er die Tonfolge eoa aus seinem breiten Munde wie ein Froschgequake heraus. »Und das ist ein gutes lateinisches Wort, das jeder von euch kennen muß, wenn er nicht durchfallen will.« Wir machten alle verdutzte Gesichter, und auch mir mag man es angesehen haben, daß ich nicht klüger war als meine Mitschüler. Ich kann natürlich nicht wissen, ob der Ordinarius diesen Schlag gegen mich vorbereitet hatte oder ob er erst beim Anblick meines[67] dummen Gesichts auf den Einfall kam, mich zu strafen. Er blickte mit einem boshaften Zucken noch einmal nach mir hin und rief meinen Namen. »Eoa. Verte in vernaculam.« Ich verstand das Wort nicht, ich konnte es nicht übersetzen. Über der Klasse lag Totenstille wie vor einem Gewitter; vielleicht würde die ganze Klasse nachbleiben müssen. Aber der geistliche Herr war wieder in seiner besten Laune. »Jetzt hast du deinen Dreier aus Latein«, rief er mir zu und überhäufte mich mit groben Redensarten: wer eoa nicht übersetzen könne, der solle sich begraben lassen oder Schuster werden; ein solches Kamel dürfe nicht weiterstudieren. Und so ging es weiter bis zum Schluß der Stunde. Ich ging zum Direktor, einem gutmütigen, aber seine Ruhe über alles liebenden Herrn; er war ganz freundlich zu mir, aber er tat nichts. Wenige Tage später erhielten wir unsere Semesterzeugnisse und ich hatte aus Latein »zur Not genügend« oder so etwas Ähnliches. Und so rückte ich trotz einem sonst vorzüglichen Zeugnisse dicht an die Letzten der Klasse heran, die durchgefallen waren. Ich war so ungefähr der fünfundfünfzigste unter sechzig Schülern.

Na ja. Man lache den dummen Jungen nur aus. Ich empfinde es auch heute nicht mehr als eine untilgbare Schmach. Es war aber keine Kleinigkeit, als so der oberste Lehrer mit sichtlicher Bosheit mir ein Unrecht zufügte. Selbstverständlich war ich nicht der einzige, der unter seinem bösen Charakter litt; keiner von uns wird es vergessen haben, wie sich dieser geistliche Herr über den Ärmsten unter uns, einen unglücklichen Krüppel, lustig zu machen pflegte. Ich kann weder vergessen noch verzeihen, was dieser Lehrer uns zugefügt hat, was er mir zugefügt hat. Trotzdem dieser Vorfall – wie gesagt – meine Befreiung entschied.[68]

Schülerselbstmorde waren damals noch unerhört. Aber ich wußte, daß so etwas Unerhörtes geschehen mußte, damit der Ordinarius gestraft würde. Auch konnte ich ja unmöglich mit diesem Zeugnisse meinem Vater unter die Augen treten. Also hat der saudumme Junge zu sterben. Aber wie? Das Wasser tat's nicht, ich war ein zu guter Schwimmer. Eine Pistole besaß ich nicht. Ich wußte nicht, wie man sich Gift verschafft. Und gegen das Aufhängen hatte ich eine starke Verachtung. Stundenlang irrte ich in der Stadt umher. Gegen Mittag kam ich auf den Obstmarkt, fühlte Hunger, wurde noch unglücklicher und faßte den Entschluß, mich ganz heimlich totzuhungern. Vor der Leihbibliothek, aus der ich der Mutter Romane zu holen pflegte, faßte ich diesen Entschluß. Dann fiel mir ein, daß meine Mutter just Gutzkows »Zauberer von Rom« las; ich hatte mit ihr erst den ersten Band gelesen und wollte doch bis zu Ende kommen. Der »Zauberer von Rom« hat sein Teil dazu beigetragen, daß ich mich nicht tothungerte. Als ich die vielen Bände in Zwischenräumen – ich bekam ja den nächsten Band immer erst dann, wenn meine Mutter mit dem früheren zu Ende gekommen war – verschlungen hatte, interessierte auch mich nichts als der bevorstehende Krieg. Im Frühjahr 1866 hatte ich das entsetzliche Semesterzeugnis erhalten, und schon im Juni wurde das Sommersemester plötzlich beendet, weil der Krieg ausgebrochen war. Wir erhielten die Jahreszeugnisse. Ich war wieder zu den Vorzugsschülern aufgerückt; aber mein Wille stand fest, das »Pfaffengymnasium« zu verlassen und auf dem Kleinseitner Gymnasium mein Heil zu versuchen, wirklich mein Seelenheil.[69]

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 54-70.
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