30. Entfremdung zwischen Vater und Sohn ohne Pietätlosigkeit

[131] Gung-Du Dsï13 sprach: »Kuang Dschang14 steht durchs ganze Land im Ruf der Pietätlosigkeit. Ihr geht mit ihm zusammen, Meister, und begegnet ihm mit großer Höflichkeit. Darf ich fragen, was das bedeutet?«

Mong Dsï sprach: »Fünf Dinge gibt es, die man gemeinhin als pietätlos bezeichnet: die erste Pietätlosigkeit ist, seine Glieder nicht zu regen und darüber die Pflege der Eltern zu vernachlässigen; die zweite Pietätlosigkeit ist, zu spielen und zu trinken und darüber die Pflege der Eltern zu vernachlässigen; die dritte Pietätlosigkeit ist, selbstsüchtig das eigene Weib und die eigenen Kinder zu bereichern und darüber die Pflege der Eltern zu vernachlässigen; die vierte Pietätlosigkeit ist, den Lüsten der Sinne zu folgen und dadurch Schande auf die Eltern zu bringen; die fünfte Pietätlosigkeit ist, sich in Waghalsigkeiten und Streitereien einzulassen und dadurch die Eltern in Gefahr zu bringen. Tut Kuang Dschang auch nur ein einziges von diesen Dingen?

Vielmehr liegt es so, daß Kuang Dschang und sein Vater einander tadeln und richten und dadurch einander nicht finden. Tadeln und richten ist zwischen Freunden am Platz. Wenn Vater und Sohn einander tadeln und richten, so beeinträchtigt es aufs schlimmste ihre Zuneigung. (Wie ernst aber Kuang Dschang das Verhältnis zu seinem Vater nimmt, das sieht man aus folgendem:) Sicherlich wäre dem Kuang Dschang ein Leben mit Weib und Kind zusammen auch angenehm gewesen. Aber weil er seinen Vater gekränkt hatte, so daß er ihm nicht mehr sich nähern konnte, verstieß er sein Weib und trennte sich von seinen Kindern und versagte sich sein Leben lang ihre liebende Fürsorge. Wenn er anders gesinnt wäre, dann erst hätte er sich wirklich versündigt. So verhält es sich mit Kuang Dschang.«

Quelle:
Mong Dsï: Die Lehrgespräche des Meisters Meng K'o. Köln 1982, S. 131-132.
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