Sechstes Capitel.

Fortsetzung des vorhergehenden Capitels.

[302] §. 1. Bei der vorhergehenden Untersuchung über die Evidenz derjenigen Wissenschaften, welche gewöhnlich als Systeme von nothwendigen Wahrheiten betrachtet werden, sind wir zu den folgenden Schlüssen gelangt. Die Resultate dieser Wissenschaften sind in der That nothwendig, insofern sie nothwendig aus gewissen ersten Principien, die gewöhnlich Axiome oder Definitionen genannt werden, folgen, d.h. sie sind gewiss wahr, wenn diese Axiome oder Definitionen wahr sind. Will man aber einen weiteren Anspruch an den Charakter der Nothwendigkeit für sie erheben, will man ihnen eine Gewissheit beilegen, die unabhängig von der Erfahrung und Beobachtung und darüberstehend ist, so müssen diese Ansprüche von dem vorher zu Gunsten dieser Axiome und Definitionen selbst zu begründenden derartigen Anspruch abhängen. In Beziehung auf die Axiome fanden wir, dass sie, als experimentelle Wahrheiten betrachtet, auf einem übervollen und augenfälligen Beweise beruhen. Wir untersuchten, ob es weiter nothwendig sei, einen andern Beweis dieser Wahrheiten, als den experimentellen, einen andern Ursprung unseres Glaubens daran anzunehmen, als den experimentellen Ursprung. Wir entschieden, dass dieser Beweis denen obliege, welche sich in dem bejahenden Sinne aussprechen, und wir untersuchten weitläufig ihre Argumente. Da uns die Untersuchung zur Verwerfung dieser Argumente führte, so haben wir uns für berechtigt gehalten, zu schliessen, dass diese Axiome nur eine Classe, und zwar die höchste Classe von Inductionen aus der Erfahrung, die einfachsten und leichtesten Fälle von Generalisationen aus Thatsachen sind, welche uns unsere Sinne oder unser inneres Bewusstsein liefern.[302]

Während so die Axiome der demonstrativen Wissenschaften als experimentelle Wahrheiten erschienen, fanden wir, dass die unrichtig sogenannten Definitionen dieser Wissenschaften Generalisationen aus der Erfahrung sind, die, genau genommen, nicht einmal Wahrheiten sind. Sie bestehen aus Urtheilen, in denen wir, während wir von einer Art von Gegenstand eine Eigenschaft oder Eigenschaften behaupten, die ihm der Erfahrung nach angehören, wir zugleich verneinen, dass er irgend andere Eigenschaften beutet; obgleich in Wahrheit die so exclusiv ausgesagte Eigenschaft in einem jeden einzelnen Falle von anderen Eigenschaften begleitet, und in den meisten oder sogar in allen Fällen modificirt ist. Es ist daher diese Verneinung eine blosse Fiction, eine Voraussetzung, gemacht, um die Betrachtung dieser modificirenden Umstände auszuschliessen, wenn ihr Einfluss zu gering ist, um der Betrachtung werth zu sein, und um sie, wenn er wichtig ist, auf einem bequemeren Augenblick hinauszuschieben.

Aus diesen Betrachtungen geht hervor, dass alle deductiven oder demonstrativen Wissenschaften ohne Ausnahme inductive Wissenschaften sind; dass ihr Beweis der der Erfahrung ist, dass sie aber auch vermöge des besondern Charakters eines unentbehrlichen Theils der allgemeinen Formeln, nach denen ihre Inductionen gemacht sind, hypothetische Wissenschaften sind. Ihre Schlüsse sind nur auf gewisse Voraussetzungen hin wahr, welche Annäherungen an die Wahrheit sind oder sein sollten, aber selten oder niemals genau wahr sind, und diesem hypothetischen Charakter ist die eigenthümliche Gewissheit zuzuschreiben von der man annimmt, sie sei der Demonstration inhärent.

Was wir eben behauptet haben, kann indessen nicht von den deductiven oder demonstrativen Wissenschaften als allgemein wahr angenommen werden, wenn es nicht durch die Anwendung auf die merkwürdigste aller dieser Wissenschaften, auf die der Zahlen, auf die Theorie des Calcüls, Arithmetik und Algebra, verificirt wird. Von den Lehren dieser Wissenschaft hält es schwerer, als von allen anderen, zu glauben, sowohl dass sie nicht aprioristische sondern experimentelle Wahrheiten sind, als auch dass sie ihre eigenthümliche Gewissheit nur dem verdanken, dass sie nicht absolute, sondern nur bedingte Wahrheiten sind. Es ist dies daher ein Fall, der eine besondere Untersuchung verdient; umsomehr[303] als wir es mit einer doppelten Reihe von Lehren zu thun haben, mit der der aprioristischen Philosophen auf der einen Seite, und auf der andern Seite mit einer dieser ganz entgegengesetzten Theorie, die einst allgemein angenommen war, und noch weit entfernt ist, von den Methaphysikern verworfen zu werden.

§. 2. Diese Theorie versucht die dem Falle anscheinend inwohnende Schwierigkeit dadurch zu lösen, dass sie die Sätze der Arithmetik als bloss wörtliche, und ihre Processe als blosse wörtliche Transformationen, als Substitutionen eines Ausdrucks für den andern, hinstellt. Der Satz, Zwei und Eins sind gleich Drei, ist nach diesen Philosophen nicht eine Wahrheit, nicht die Behauptung einer wirklich existirenden Thatsache, sondern eine Definition des Wortes Drei; eine Aussage, dass die Menschen übereingekommen sind, den Namen Drei als ein Zeichen zu gebrauchen, das Zwei und Eins genau äquivalent ist, um mit dem ersteren Namen zu benennen, was durch die letzteren nur in einer plumpen Weise zu benennen ist. Nach dieser Lehre besteht der längste Process in der Algebra nur aus aufeinanderfolgenden Aenderungen der Terminologie, wodurch gleichwerthige Ausdrücke für einander substituirt werden; aus einer Reihe von Uebersetzungen derselben Thatsache aus einer Sprache in die andere, obgleich hierdurch nicht erklärt wird, wie nach einer solchen Reihe Ton Uebersetzungen die Thatsache selbst verändert wird (wie wenn wir einen neuen geometrischen Lehrsatz durch Algebra demonstriren), eine Schwierigkeit, welche dieser Lehre verderblich wird.

Man muss anerkennen, dass in den Processen der Arithmetik und Algebra Eigenthümlichkeiten liegen, welche die obige Theorie sehr plausibel machen, und welche diese Wissenschaften ganz naturgemäss zu Stützen des Nominalismus machten. Die Lehre, dass wir durch ein kunstfertiges Handhaben der Sprache Thatsachen entdecken, verborgene Naturprocesse enthüllen können, ist dem gesunden Menschenverstande so entgegen, dass es schon einen Fortschritt in der Philosophie verlangt, um sie zu glauben; die Menschen nehmen zu einem solchen paradoxen Glauben ihre Zuflucht, um, wie sie denken, eine noch grössere Schwierigkeit zu vermeiden, die der grosse Haufe nicht sieht. Was Viele verleitet hat, jenes[304] Schliessen nur für einem sprachlichen Process zu halten, war, dass keine andere Theorie mit der Natur der Wissenschaft der Zahlen verträglich schien. Denn wir hegen weiter keine Ideen, wenn wir die Symbole der Arithmetik oder Algebra gebrauchen. Bei einem geometrischen Beweise haben wir, wenn auch nicht auf dem Papier, so doch eine Figur in unserm Geiste; AB, AC sind unserer Einbildungskraft als Linien gegenwärtig, die einander schneiden, miteinander einen Winkel bilden und dergleichen; aber nicht to a und b. Diese mögen Linien oder andere Grössen repräsentiren, so Wird an diese Grössen niemals gedacht; in unserer Einbildung wird nichts realisirt, als a und b. Die Ideen, welche sie bei einer besondern Gelegenheit repräsentiren, werden von dem Anfange des Processes an, wo die Prämissen Ton den Dingen in die Zeichen übersetzt werden, bis zu dem Ende, wo der Schluss wieder rückwärts aus den Zeichen in die Dinge übersetzt wird, also während des ganzen intermediären Theiles des Processes, aus dem Geiste verbannt. Da also in dem Geiste des Schliessenden nichts ist, als Symbole, was kann da unzulässiger erscheinen, als die Behauptung, das Schliessen habe noch mit etwas Anderem zu schaffen ?

Nichtsdestoweniger wird bei näherer Betrachtung erhellen, dass dieser scheinbar so entscheidende Fall gar kein Fall ist; dass in einem jeden Schritte einer arithmetischen oder algebraischen Berechnung eine wirkliche Induction, eine wirkliche Folgerung von Thatsachen aus Thatsachen enthalten ist; dass dies einfach nur durch die umfassende Natur der Induction und die daraus folgende äusserste Allgemeinheit der Sprache verdeckt wird. Alle Zahlen müssen Zahlen von Etwas sein; es giebt nichts der Art wie Zahlen in abstracto. Zehn muss zehn Körper, zehn Töne oder zehn Pulsschläge bedeuten. Aber sowie die Zahlen Zahlen von Etwas sein müssen, so können sie Zahlen von irgend Etwas, von Allem sein. Es haben daher Sätze, welche Zahlen betreffen, die merkwürdige Eigenthümlichkeit, dass sie Sätze sind, welche alle Dinge, alle Gegenstände, alle Existenzen jeder Art betreffen, die unsere Erfahrung kennt. Alle Dinge besitzen Quantität, bestehen aus Theilen, welche gezählt werden können, und in diesem Charakter besitzen sie alle Eigenschaften, welche man Eigenschaften der Zahlen nennt. Dass die Hälfte von Vier Zwei ist, muss wahr sein,[305] was das Wort Vier auch immer repräsentiren mag, ob vier Männer, vier Meilen oder vier Pfunde. Wir brauchen uns ein Ding nur in vier gleiche Theile getheilt vorzustellen (und wir können uns alle Dinge als so getheilt vorstellen), um eine jede Eigenschaft der Zahl Vier, d.h. einen jeden arithmetischen Satz, in dem die Zahl Vier auf der einen Seite der Gleichung steht, von ihm aussagen zu können. Die Algebra dehnt die Generalisation noch weiter aus; eine jede Zahl repräsentirt diese besondere Anzahl aller Dinge ohne Unterschied, aber ein jedes algebraische Symbol thut noch mehr, es repräsentirt alle Zahlen ohne Unterschied. Sobald wir uns ein Ding in gleiche Theile getheilt vorstellen, ohne zu wissen, in welche Anzahl von Theilen, so können wir es a oder x nennen, und, ohne Irrthum befürchten zu müssen, eine jede algebraische Formel darauf anwenden. Der Satz 2(a+b) = 2a+2b ist eine Wahrheit, die so weit reicht wie die Natur. Da also die algebraischen Wahrheiten von allen Dingen, und nicht wie die der Geometrie nur von Linien und Winkeln, wahr sind, so ist es auch nicht zu verwundern, wenn die Symbole in unserm Geiste keine Ideen von speciellen Dingen anregen. Wenn wir den siebenundvierzigsten Satz Euklid's demonstriren, so ist es nicht nothwendig, dass die Worte in uns das Bild aller rechtwinkeligen Dreiecke hervorrufen; das Bild irgend eines rechtwinkeligen Dreiecks reicht hin. Ebenso brauchen wir uns in der Algebra unter dem Symbol a nicht alle Dinge zu denken, sondern nur irgend ein Ding; und warum nicht den Buchstaben selbst? Die blossen geschriebenen Charaktere a, b, x, y, z, dienen ebensogut zu Repräsentanten aller Dinge im Allgemeinen, als irgend eine complexere, und scheinbar concretere Vorstellung. Dass wir uns indessen ihres Charakters als Dinge, und nicht als blosser Zeichen bewusst sind, geht aus der Thatsache hervor, dass unser ganzer Process des Schliessens ausgeführt wird, indem wir die Eigenschaften der Dinge von ihnen aussagen. Nach welchen Regeln verfahren wir, wenn wir eine algebraische Gleichung lösen? Wir wenden bei einem jeden Schritte auf a, b und x den Satz an, Gleiches zu Gleichem addirt giebt Gleiches, Gleiches von Gleichem abgezogen lässt Gleiches übrig, sowie andere Sätze, die sich auf diese zwei gründen. Dies sind keine Eigenschaften der Sprache, oder von Zeichen als solchen, sondern Eigenschaften von Grössen, was so[306] viel sagen heisst als aller Dinge. Die Folgerungen, welche successive gezogen werden, sind daher Folgerungen in Beziehung auf Dinge, nicht auf Symbole; obgleich, da ein jedes Ding dem Zwecke dienen kann, keine Nothwendigkeit vorhanden ist, die Idee des Dinges gesondert zu halten, und folglich der Gedankenprocess in diesem Falle erlaubt sein kann, ohne dass Gefahr wäre, er möge, wie alle oft wiederholten Gedankenprocesse leicht thun, ganz mechanisch werden. Es wird uns daher die allgemeine Sprache der Algebra so geläufig, dass sie keine Ideen erweckt, wie dies eine jede andere allgemeine Sprache in Folge der Gewohnheit so leicht thut, obgleich es in keinem andern Falle mit so völliger Sicherheit geschehen kann. Wenn wir aber zurückblicken, um zu sehen, woher die Beweiskraft des Processen abgeleitet wird, so finden wir, dass wenn wir nicht voraussetzen, wir selbst dächten und sprächen von den Dingen und nicht die blossen Symbole, bei einem jeden einzelnen Schritte der Beweis fehlt.

Es ist noch ein anderer Umstand, der mehr noch als der obenerwähnte die Vorstellung plausibel macht, es seien die Sätze der Arithmetik und Algebra bloss wörtliche. Wenn sie nämlich als Urtheile in Beziehung auf Dinge betrachtet werden, so scheinen sie alle identische Urtheile zu sein. Die Behauptung, Zwei und Eins ist gleich Drei, als eine Behauptung in Beziehung auf Gegenstände betrachtet, wie z.B. »Zwei Kieselsteine und ein Kieselstein machen drei Kieselsteine«, affirmirt nicht die Gleichheit zweier Sammlungen von Kieselsteinen, sondern die absolute Identität. Sie affirmirt, dass, wenn wir einen Kieselstein zu zwei Kieselsteinen legen, dieser Kieselsteine drei sind. Da also die Gegenstände dieselben sind, und die blosse Behauptung, dass Gegenstände »sie selbst sind«, bedeutungslos ist, so scheint es ganz natürlich, dass man den Satz, Zwei und Eins sind gleich Drei, als die blosse Behauptung der Identität der Bedeutung der zwei Namen betrachtet.

So plausibel dies indessen aussieht, so hält es doch eine genauere Prüfung nicht aus. Der Ausdruck »Zwei Kieselsteine und ein Kieselstein« und der Ausdruck »Drei Kieselsteine« stehen in der That für dasselbe Aggregat von Gegenständen; sie stehen aber keineswegs für dieselbe physikalische Thatsache. Es sind[307] Namen von denselben Gegenständen, aber von diesen Gegenständen in zwei verschiedenen Zuständen; obgleich sie dieselben Dinge bezeichnen, so ist doch ihre Mitbezeichnung eine verschiedene. Drei Kieselsteine in zwei verschiedenen Theilen, und drei Kieselsteine in einem Theil, machen nicht denselben Eindruck auf unsere Sinne; und die Behauptung, dass dieselben Kieselsteine durch einen Wechsel des Orts und der Anordnung entweder die eine oder die andere Reihe von Sensationen hervorbringen können, ist, obgleich es ein sehr geläufiges Urtheil ist, doch kein identisches. Es ist eine Wahrheit, die uns durch frühe und beständige Erfahrung bekannt ist, eine inductive Wahrheit, und solche Wahrheiten sind das Fundament der Wissenschaft der Zahlen. Die Grundwahrheiten dieser Wissenschaft beruhen ganz auf sinnlichem Beweis; sie werden dadurch bewiesen, dass unsere Augen oder Finger erfahren, dass eine gegebene Zahl von Gegenständen, z B. zehn Bälle, durch Trennung und Wiedervereinigung unseren Sinnen die verschiedenen Reihen von Zahlen darbieten, deren Summe gleich zehn ist. Eine jede bessere Methode, Kinder Arithmetik zu lehren, verfahrt nach dieser Thatsache. Alle diejenigen, welche beim Erlernen der Arithmetik auf den Geist des Kindes einwirken wollen, alle diejenigen, welche Zahlen und nicht blosse Ziffern lehren wollen, lehren gegenwärtig in der beschriebenen Weise mit Hülfe des Sinnenbeweises.

Es steht uns frei, den Satz »Drei ist Zwei und Eins« eine Definition der Zahl zu nennen, und zu behaupten, dass die Arithmetik, wie dies von der Geometrie behauptet worden ist, eine auf Definitionen gegründete Wissenschaft sei. Es sind dies aber Definitionen in geometrischem, nicht in logischem Sinne; sie behaupten nicht nur die Bedeutung eines Ausdrucks, sondern auch zugleich eine beobachtete Thatsache. Der Satz »der Kreis ist eine Figur, welche von einer Linie begrenzt wird, deren Punkte von einem Punkte in ihr alle gleichweit abstehen«, wird die Definition des Kreises genannt; aber der Satz, aus dem so viele Consequenzen folgen, und der wirklich ein erster Grundsatz der Geometrie ist, lautet, dass dieser Beschreibung entsprechende Figuren existiren und so mögen wir den Satz »Drei ist Zwei und Eins« die Definition von Drei nennen, aber die Rechnungen, welche von diesem Satze abhängig sind, folgen nicht aus der Definition[308] selbst, sondern aus einem darin präsupponirten arithmetischen Lehrsatz, nämlich, dass es Zusammenfügungen von Gegenständen giebt, welche, während sie diesen Eindruck

00

0

auf die Sinne machen, in zwei Theile getrennt werden können, wie folgt:

00 0

Nachdem dieser Satz zugegeben ist, so nennen wir alle dergleichen Theile Drei, wonach die Angabe der obenerwähnten physikalischen Thatsache auch als eine Definition des Wortes Drei dienen kann.

Die Wissenschaft der Zahlen macht also keine Ausnahme von dem Schluss, zu dem wir früher gelangten, dass sogar die Processe der deductiven Wissenschaften ganz inductiv, und dass ihre ersten Principien Generalisationen aus der Erfahrung sind. Es bleibt noch zu untersuchen, ob diese Wissenschaft der Geometrie in dem weiteren Umstände gleicht, dass einige ihrer Inductionen nicht genau wahr sind, und dass die ihnen zugeschriebene eigenthümliche Gewissheit, wonach ihre Sätze nothwendige Wahrheiten genannt werden, erdichtet und hypothetisch, dass sie nur in dem Sinne wahr ist, dass diese Sätze nothwendig aus Prämissen folgen, welche nur Annäherungen an die Wahrheit sind.


§. 3. Die Inductionen der Arithmetik sind von zweierlei Art; erstens, diejenigen, welche wir eben auseinandergesetzt haben, wie Gins und Eins sind Zwei, Zwei und Eins sind Drei etc., welche man in dem uneigentlichen oder geometrischen Sinne des Wortes Definitionen der verschiedenen Zahlen nennen kann; und zweitens die beiden folgenden Axiome: die Summe von Gleichem ist Gleiches, der unterschied von Gleichem ist Gleiches. Diese beiden sind hinreichend, denn die entsprechenden Sätze in Betreff von ungleichem können durch das, dem Mathematiker unter dem Namen reductio ad absurdum wohlbekannte Verfahren daraus bewiesen werden.

Diese Axiome, sowie auch die sogenannten Definitionen sind, wie bereite gezeigt worden ist, Resultate der Induction; sie sind wahr von allen Gegenständen, und wie es scheint, genau wahr, ohne die hypothetische Annahme einer unbedingten Wahrheit wo eine Annäherung an dieselbe Alles ist, was vorhanden ist. Die Schlüsse, so wird man daher natürlich folgern, sind genau wahr, und die Wissenschaft der Zahlen macht darin eine Ausnahme von anderen inductiven Wissenschaften, dass die absolute Gewissheit[309] welche man von ihren Beweisen behaupten kann, unabhängig von aller Hypothese ist.

Bei genauerer Prüfung wird man indessen finden, dass sogar in diesem Falle ein hypothetisches Element in dem Schliessen liegt. In allen sich auf Zahlen beziehenden Sätzen ist eine Bedingung eingeschlossen, ohne welche keiner derselben wahr wäre; und diese Bedingung ist eine Annahme, welche falsch sein kann. Die Bedingung ist, dass 1 = 1; dass alle Zahlen, Zahlen derselben Einheit oder von gleichen Einheiten seien. Wäre dies zweifelhaft, so würde kein einziger Satz der Arithmetik als wahr bestehen bleiben. Wie können wir wissen, dass ein Pfand und ein Pfund zwei Pfunde machen, wenn das eine »ein Pfund troie« und das andere »ein Pfund avoir dupois« ist? Wie können wir wissen, dass vierzig Pferdekräfte immer sich selbst gleich sind, wenn wir nicht annehmen, dass alle Pferde von gleicher Stärke sind? Es ist gewiss, dass 1 in der Zahl immer 1 gleich ist; und wo die blosse Zahl der Gegenstände oder der Theile von Gegenständen, ohne sie in einer andern Beziehung für äquivalent anzunehmen, das Wesentliche ist, da sind die Schlüsse der Arithmetik soweit sie gehen ohne Beimischung von Hypothese wahr. Es giebt einige solche Fälle, wie z.B. die Untersuchung über die Grösse der Bevölkerung eines Landes. Bei dieser Untersuchung ist es gleichgültig, ob die Bevölkerung aus Erwachsenen oder Kindern, aus Gesunden oder Kranken, Starken oder Schwachen besteht; ihre Anzahl ist Alles, was wir ermitteln wollen. Wenn aber aus der Gleichheit oder Ungleichheit der Zahl die Gleichheit oder Ungleichheit in einer andern Beziehung zu folgern ist, so wird die auf solche Untersuchungen angewandte Arithmetik ebenso hypothetisch, als die Geometrie. Alle Einheiten müssen in dieser andern Beziehung als gleich angenommen werden, und dies ist niemals genau wahr, denn ein Pfund Gewicht ist nicht genau einem andern, noch eine Meile genau einer andern gleich; eine empfindlichere Wage oder bessere Messinstrumente würden immer einen Unterschied zu erkennen geben.

Was man gewöhnlich mathematische Gewissheit nennt, und was die zweifache Idee von unbedingter Wahrheit und von vollkommener Genauigkeit umfasst, ist daher nicht ein Attribut aller mathematischen Wahrheiten, sondern nur derjenigen, welche[310] sich auf blosse Zahlen, als von der Quantität Im weitem Sinne verschieden, beziehen, und nur so lange wir nicht annehmen, dass die Zahlen der genaue Index wirklicher Quantitäten sind. Die den Schlüssen der Geometrie und sogar der Mechanik zugeschriebene Gewissheit ist nichts als Gewissheit der Folgerung. Unter besonderen Voraussetzungen können wir der besonderen Resultate ganz gewiss sein, wir können aber nicht die nämliche Gewissheit haben, dass diese Voraussetzungen genau wahr sind, und dass sie alle Date einschliessen, welche in einem jeden gegebenen Falle einen Einfluss auf das Resultat ausüben können.


§. 4. Es scheint daher, dass die Methode aller Deductiven Wissenschaften hypothetisch ist. Die Consequenzen werden in ihnen aus gewissen Voraussetzungen gezogen, indem es einer besondern Betrachtung überlassen bleibt, darzuthun, ob diese Voraussetzungen wahr sind oder nicht, und ob sie, wenn nicht genau wahr, eine hinreichend genaue Annäherung an die Wahrheit sind. Da diese Voraussetzungen nur in reinen Fragen der Zahl, und auch da nur so lange wahr sind, als keine andere als rein numerische Schlüsse darauf gegründet werden, so muss es in allen anderen Fällen von deductiver Forschung ein Gegenstand der Untersuchung sein, zu bestimmen, wie viel dem behandelten Falle fehlt, um genau wahr zu sein. Dies ist gemeinlich ein Gegenstand der in einem jeden frischen Falle zu wiederholenden Beobachtung, oder wenn es durch ein Argument anstatt durch Beobachtung auszumachen ist, so kann in einem jeden verschiedenen Falle ein verschiedener Beweis erforderlich sein, und sich ein jeder Grad von Schwierigkeit, vom niedrigsten bis zum höchsten, darbieten. Aber der andere Theil des Processes – nämlich zu bestimmen, was sonst noch geschlossen werden kann, wenn wir die Annahme, und im Verhältniss als wir sie wahr finden – kann ein- für allemal ausgeführt und das Resultat für den gelegentlichen Gebrauch bereit gehalten werden. Auf diese Weise thun wir Alles voraus, was gethan werden kann, und lassen, wenn Fälle vorkommen und eine Entscheidung verlangen, so wenig als möglich zu thun übrig. Diese Untersuchung der Folgerungen, welche aus Voraussetzungen gezogen werden können, ist es, was die Demonstrative Wissenschaft eigentlich constituirt.[311]

Man gelangt natürlich ebensogut von vorausgesetzten Thatsachen als von beobachteten, ebensogut von erdichteten als von wirklichen Inductionen zu neuen Schlüssen. Die Deduction besteht in einer Reihe von Folgerungen von der Form: a ist ein Merkmal von b, b von c, c von d, daher ist a ein Merkmal von d, welches letztere eine der directen Beobachtung unzugängliche Wahrheit sein kann. In gleicher Weise ist es erlaubt, zu sagen, setzen wir voraus, a wäre ein Merkmal von b, b von c, c von d so würde a sein Merkmal von d sein, ein Schluss, an welchen diejenigen nicht dachten welche die Prämissen aufstellten. Es könnte aus falschen Annahmen ein ebenso complicirtes System von Sätzen abgeleitet werden, wie die Geometrie ist; Ptolemäus, Descartes und Andere thaten dies bei ihren Versuchen, die Erscheinungen des Sonnensystems synthetisch nach der Annahme zu erklären, die scheinbaren Bewegungen der himmlischen Körper seien die wirklichen Bewegungen derselben, oder seien in einer von der wahren mehr oder weniger verschiedenen Weise hervorgebracht Manchmal geschieht dies aus Absicht, um die Fälschlichkeit einer Voraussetzung zu beweisen, was reductio ad absurdum genannt wird. In solchen Fällen findet der Schluss Statt wie folgt: a ist ein Merkmal von b, und b von c, wenn nun c auch ein Merkmal von d wäre, so würde a ein Merkmal von d sein, man weiss aber, dass d ein Merkmal der Abwesenheit von a, ist, folglich würde a ein Merkmal seiner eigenen Abwesenheit sein, was ein Widerspruch ist, daher ist c kein Merkmal von d.


§. 5. Manche Autoren waren sogar der Ansicht, dass jedes Syllogisiren zuletzt auf einer reductio ad absurdum beruht, da in dem Falle von Dunkelheit der einzige Weg eine Zustimmung für dasselbe zu, erzwingen nur der wäre, zu zeigen, dass, wenn der Schluss geleugnet wird, wir wenigstens eine von den Prämissen, leugnen müssen, was ein Widerspruch wäre, da sie alle als wahr vorausgesetzt werden. In Folge hiervon glaubten Viele, dass die eigenthümliche Natur des syllogistischen Beweises in der Unmöglichkeit bestände, ohne eine contradictio in adjecto die Prämissen zuzulassen und den Schluss zu verwerfen. Als eine Erklärung der Gründe, auf denen der Syllogismus selbst beruht, ist diese Theorie indessen ganz unzulässig. Wenn Einer trotzdem[312] dass er die Prämissen zugegeben hat, den Schluss leugnet, so ist er erst in einen directen und ausdrücklichen Widerspruch gerathen, wenn er gezwungen ist, eine der Prämissen zu leugnen, und hierzu kann er nur durch eine reductio ad absurdum, d.h. durch einen zweiten Syllogismus gezwungen werden; wenn er nun die Gültigkeit des Schliessprocesses selbst leugnet, so kann er ebensowenig zu einer Zustimmung zu dem zweiten Syllogismus gezwungen werden, als zu dem ersten. Es ist daher in Wahrheit niemals jemand zu einer contradictio in adjecto zu zwingen; er kann nur zu einem Widerspruche (oder vielmehr zu einer Uebertretung) der fundamentalen Grundsätze des Syllogismus – nämlich, dass Alles, was ein Merkmal besitzt, auch das besitzt, wovon es das Merkmal ist, oder (im Falle von allgemeinen Urtheilen) dass das, was ein Merkmal von einem Dinge ist, auch ein Merkmal von Allem ist, wovon das Ding ein Merkmal ist – gezwungen werden. Denn bei einem jeden richtigen Argument ist, sobald es in die syllogistische Form gekleidet ist, ohne Mithülfe eines andern Syllogismus evident, dass derjenige, welcher die Prämissen zugiebt ohne den Schluss zu ziehen, sich nicht nach dem obigen Axiome richtet.

Eine weitere Einsicht in die Theorie der Deduction verlangt eine philosophische Begründung der Theorie der Induction selbst. In dieser Theorie wird die Deduction als eine Art Induction von selbst den ihr zustehenden Platz einnehmen, und ihren Theil des Lichtes erhalten, das auf die grossen Verstandesoperationen geworfen werden kann, wovon sie ein so wichtiger Theil ist.[313]

Quelle:
John Stuart Mill: System der deduktiven und inductiven Logik. Band 1, Braunschweig 31868, S. 302-314.
Lizenz:

Buchempfehlung

Bjørnson, Bjørnstjerne

Synnöve Solbakken. (Synnøve Solbakken)

Synnöve Solbakken. (Synnøve Solbakken)

Vor dem Hintergrund einer romantisch idyllischen Fabel zeichnet der Autor individuell realistische Figuren, die einerseits Bestandteil jahrhundertealter Tradition und andererseits feinfühlige Persönlichkeiten sind. Die 1857 erschienene Bauernerzählung um die schöne Synnöve und den hitzköpfigen Thorbjörn machte Bjørnson praktisch mit Erscheinen weltberühmt.

70 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon