Elftes Capitel.

Fernere Erläuterungen über die Geschichtswissenschaft.

[558] §. 1. Die Lehre, welche die vorhergehenden Capitel darzutnun und zu beweisen bestimmt waren – dass die Gesammtreihe der socialen Erscheinungen, mit anderen Worten, der Gang der Geschichte allgemeinen Gesetzen unterworfen ist, welche die Philosophie möglicherweise entdecken dürfte – ist den wissenschaftlichen Denkern des Continents seit Generationen geläufig gewesen, und ist seit dem letzten Viertel dieses Jahrhunderts aus dem Gebiete der Wissenschaft in das Gebiet der Zeitungen und der gewöhnlichen politischen Discussion übergegangen. Zur Zeit der ersten Veröffentlichung dieser Abhandlung war sie indessen in unserem eigenen Lande fast etwas Neues, und die herrschenden Denkgewohnheiten in Betreff historischer Gegenstände waren ganz das Gegentheil einer Vorbereitung für diese Lehre. Seitdem hat aber eine grosse Veränderung stattgefunden und ist durch das wichtige Werk des Herrn Buckle ausserordentlich gefördert worden. Herr Buckle hat dieses grosse Princip sammt vielen treffenden Erläuterungen mit charakteristischer Energie in die Arena der populären Erörterung geworfen, damit es durch eine Art von Streitern und in der Gegenwart einer Art von Zuschauern durchgefochten werde, welche auch nicht einmal von der Existenz eines solchen Princips Kenntniss bekommen hätten, wenn sie dieselbe den Speculationen der reinen Wissenschaft hätten entnehmen müssen. Der bedeutende Streit, der von dieser Zeit an darüber geführt worden ist, diente nicht nur dazu, der Mehrheit der gebildeten Geister das Princip schnell geläufig zu machen, sondern auch, es von der Verwirrung und den Missverständnissen zu befreien, welche es eine Zeit hindurch naturgemäss verdunkeln mussten, und welche den Werth der Lehre bei denjenigen beeinträchtigen, welche sie annehmen, und ein Stein des Anstosses für Viele sind, welche sie nicht annehmen.[558]

Für denkende Geister liegt das hauptsächlichste Hinderniss in Betreff der Anerkennung des Satzes, dass historische Thatsachen wissenschaftlichen Gesetzen unterworfen sind, noch immer in der Lehre von dem freien Willen, oder, mit anderen Worten, in der Verneinung der Gültigkeit des Gesetzes der unveränderlichen Causalität für das menschliche Wollen; denn wenn das Causalgesetz in Beziehung auf unser Wollen keine Gültigkeit besitzt, so kann der Gang der Geschichte als eines Resultates des menschlichen Wollens nicht Gegenstand wissenschaftlicher Gesetze sein, indem das Wollen, von welchem er abhängig ist, weder vorausgesehen noch auf ein Gesetz der Regelmässigkeit zurückgeführt werden kann; seihst nicht, nachdem er stattgefunden hat. Ich habe diese Frage, so weit als es zweckmässig schien, in einem früheren Capitel erörtert und halte nur für nöthig, hier zu wiederholen, dass die Lehre von der Causalität menschlicher Handlungen, welche unpassend die Nothwendigkeitslehre genannt wird, nicht einen geheimnissvollen nexus oder ein allregierendes unvermeidliches Schicksal behauptet; sie behauptet nur, die Handlungen der Menschen seien das Gesammtresultat der allgemeinen Gesetze und Umstände der menschlichen Natur und ihrer eigenen besonderen Charaktere; während diese Charaktere wiederum die Folge der natürlichen und künstlichen Umstände sind, welche deren Erziehung ausmachten, unter welche Umstände ihr eigenes selbstbewusstes Streben zu rechnen ist. Ein jeder, der sich die Mühe nehmen will (wenn der Ausdruck erlaubt ist), sich in diese Lehre hineinzudenken, wird, wie ich glaube, finden, dass sie nicht nur eine getreue Interpretation der allgemeinen Erfahrung in Beziehung auf die menschliche Handlungsweise, sondern auch eine correcte Darstellung des Modus ist, nach welchem er selbst in einem jeden besonderen Fall seine eigene Erfahrung in Beziehung auf diese Handlungsweise spontan interpretirt. Wenn aber dieses Princip von dem individuellen Menschen wahr ist, so muss es auch von dem collectiven Menschen wahr sein. Wenn es das Gesetz des menschlichen Lebens ist, so muss das Gesetz in der Geschichte verwirklicht sein. Die Erfahrung in Beziehung auf die en masse betrachteten menschlichen Angelegenheiten muss damit übereinstimmen, renn es wahr ist, sie muss ihm widerstreiten, wenn es falsch ist. Die Stütze, welche diese Bestätigung a posteriori dem Gesetze verleiht,[559] bildet den Theil des Umstandes, den Herr Buckle in einer höchst klaren und erfolgreichen Weise ans Licht gebracht hat.

Seitdem die Thatsachen der Statistik ein Gegenstand sorgfältiger Aufzeichnung und aufmerksamen Studiums geworden sind, haben sich aus ihr Schlüsse ergeben, von denen einige für diejenigen, welche nicht gewöhnt sind, moralische Handlungen als gleichförmigen Gesetzen unterworfen zu betrachten, sehr beunruhigend waren. Gerade die Ereignisse, welche ihrer eigenen Natur nach am launischsten und ungewissesten erschienen, und welche kein erreichbarer Grad von Kenntniss in irgend einem individuellen Falle uns hätte voraussehen lassen, finden bei der Betrachtung einer bedeutenden Anzahl von Fällen mit einer fast mathematischen Regelmässigkeit Statt. Welche Handlung würde man für abhängiger von dem individuellen Charakter und der Ausübung des individuellen freien Willens halten, als den Todtschlag eines Mitmenschen? Und dennoch variirt in einem jeden grösseren Lande die Anzahl der Mordthaten im Verhältniss zur Bevölkerung von Jahr zu Jahr nur wenig und weicht niemals bedeutend von einer gewissen Durchschnittszahl ab. Was noch merkwürdiger ist, es besteht eine ähnliche Annäherung an die Beständigkeit in dem Verhältniss der Mordthaten, welche alljährlich mit einer bestimmten Art Instrument begangen werden. Ebenso besteht eine ähnliche Annäherung an die Gleichheit in der jährlichen Anzahl der ehelichen und unehelichen Geburten. Dasselbe gilt von den Selbstmorden, den Unfällen und anderen socialen Erscheinungen, welche mit hinlänglicher Genauigkeit aufgezeichnet werden. Eines der sonderbarsten Beispiele bildet die durch die Register des Londoner und Pariser Postamts ermittelte Thatsache, dass die Anzahl der aufgegebenen Briefe, welche deren Schreiber zu adressiren vergassen, im Verhältniss zur ganzen Anzahl der aufgegebenen Briefe in einem jeden Jahr nahezu dieselbe ist. »Jahr auf Jahr,« sagt Herr Buckle, »vergisst dieselbe Anzahl von Briefschreibern diesen einfachen Act, so dass wir für eine jede folgende Periode in Wirklichkeit die Anzahl von Personen voraussagen können, die von ihrem Gedächtniss in diesem unbedeutenden und, wie es scheinen dürfte, zufälligen Vorgang im Stiche gelassen werden«.209[560]

Dieser sonderbare Grad von Regelmässigkeit en masse ist in Verbindung mit der höchsten Unregelmässigkeit in den die Masse zusammensetzenden Fällen eine glückliche Bestätigung a posteriori des Causalgesetzes in seiner Anwendung auf die menschliche Handlungsweise. Nehmen wir die Wahrheit des Gesetzes an, so ist eine jede menschliche Handlung, eine jede Mordthat zum Beispiel, das concurrirende Resultat zweier Reihen von Ursachen. Von der einen Seite die allgemeinen Umstände des Landes und seiner Einwohner; die moralischen Einflüsse, die Einflüsse der Erziehung, die ökonomischen und andere auf das ganze Volk einwirkende und den sogenannten Zustand von Civilisation ausmachende Einflüsse. Von der andern Seite die grosse Mannigfaltigkeit von Einflüssen, die dem Individuum besonders angehören, sein Temperament und andere Eigenthümlichkeiten der Organisation, seine Verwandtschaft, seine gewöhnlichen Genossen, Versuchungen u.s.f. Wenn wir nun das Ganze der Fälle nehmen, welche auf einem Felde stattfinden, das weit genug ist, um alle Combinationen dieser besonderen Einflüsse zu erschöpfen, oder, mit anderen Worten, um den Zufall zu eliminiren; und wenn alle diese Fälle innerhalb so enger Zeitgrenzen stattgefunden haben, dass in den allgemeinen, den Zustand von Civilisation des Landes ausmachenden Einflüssen keine wesentliche Veränderung statt gefunden haben kann: so können wir gewiss sein, dass, wenn menschliche Handlungen von unveränderlichen Gesetzen beherrscht werden, das Durchschnittsresultat so etwas wie eine constante Grösse sein wird. Die Anzahl der innerhalb dieses Feldes und dieser Zeit begangenen Mordthaten wird, da sie zum Theil die Wirkung allgemeiner Ursachen ist, welche sich nicht verändert haben, zum Theil partieller Ursachen, deren Veränderungen sämmtlich mit inbegriffen wurden, in praktischem Sinne genommen, unveränderlich sein. Buchstäblich und mathematisch unveränderlich ist sie nicht, und man kann auch gar nicht erwarten, dass sie es sei; denn die Periode von einem Jahr ist zu kurz, um alle möglichen Combinationen von partiellen Ursachen einzuschliessen, während sie zugleich lang genug ist, um es wahrscheinlich zu machen, dass, wenigstens in einigen Jahren einer jeden Reihe, neue Einflüsse von einem mehr oder weniger allgemeinen Charakter eingeführt worden sind. Dergleichen Einflüsse sind z.B. eine kräftigere oder eine schlaffere Polizei; eine zeitweilige[561] Aufregung durch politische oder religiöse Ursachen; oder irgend ein allgemeiner weltkundiger Vorfall von einer Natur, um in einer krankhaften Weise auf die Einbildungskraft zu wirken. Dass sich trotz dieser unvermeidlichen Unvollkommenheiten in den Daten die Abweichungen in den jährlichen Resultaten in so engen Grenzen bewegen, ist eine glänzende Bestätigung der allgemeinen Theorie. Dieselben Betrachtungen, welche in einer so schlagenden Weise den Beweis der Lehre verstärken, dass historische Thatsachen die unveränderlichen Wirkungen von Ursachen sind, dienen auch dazu, um diese Lehre von verschiedenen Missverständnissen zu befreien, deren Vorhandensein durch die letzten Erörterungen nachgewiesen wurde. Dem Anschein nach glauben Viele, es läge in der Lehre nicht bloss inbegriffen, dass die Gesammtanzahl der in einem gegebenen Raum und in einer gegebenen Zeit begangenen Morde gänzlich die Wirkung der allgemeinen Umstände der Gesellschaft ist, sondern auch, dass es ein jeder besondere Mord ist; dass der einzelne Mörder, so zusagen, ein blosses Werkzeug in den Händen allgemeiner Ursachen ist; dass er selbst keine andere Wahl hat, oder dass, wenn er sie hätte und darnach handeln wollte, irgend ein Anderer genöthigt sein würde, seine Stelle einzunehmen; dass wenn einer der wirklichen Mörder sich des Verbrechens enthalten hätte, irgend ein Anderer, der sonst unschuldig geblieben wäre, einen Extramord begangen haben würde, um die Durchschnittszahl herzustellen. Ein solcher Folgesatz würde eine jede nothwendig zu ihm führende Theorie der Ungereimtheit überführen. Es ist indessen augenscheinlich, dass eine jede besondere Mordthat nicht von dem allgemeinen Zustande der Gesellschaft allein, sondern auch von diesem Zustande in Verbindung mit den im allgemeinen viel mächtigeren speciellen Ursachen des Falles abhängig ist; und wenn diese speciellen Ursachen, welche bei der Verursachung eines jeden besonderen Mordes einen grösseren Einfluss haben, als die allgemeinen Ursachen, keinen Einfluss auf die Anzahl der in einer gegebenen Zeit begangenen Morde haben, so ist dies aus dem Grunde, dass das Feld der Beobachtung so ausgedehnt ist, dass es alle möglichen Combinationen der speciellen Ursachen – alle mit dem allgemeinen Zustande der Gesellschaft verträglichen Varietäten des individuellen Charakters und der individuellen Versuchung einschliesst. Das Gesammtexperiment (Collectivexperiment), wie[562] man es nennen kann, trennt genau die Wirkung der allgemeinen von der Wirkung der speciellen Ursachen und zeigt das reine Resultat der ersteren; aber es behauptet durchaus Nichts in Beziehung auf die Grösse des Einflusses der speciellen Ursachen, er sei grösser oder kleiner, indem sich die experimentelle Scala auf eine solche Anzahl von Fällen erstreckt, dass sich die Wirkungen der speciellen Ursachen innerhalb derselben einander ausgleichen und in der Wirkung der allgemeinen Ursache verschwinden.

Ich will nicht behaupten, dass alle Anhänger der Theorie ihre Sprache von jener Verwirrung immer frei gehalten und keine Neigung gezeigt hätten, den Einfluss der allgemeinen Ursache auf Kosten der speciellen zu hoch anzuschlagen, loh bin im Gegentheil der Meinung, dass sie dies bis zu einem sehr hohen Grade gethan und dadurch ihre Theorie mit Schwierigkeiten beladen und Einwürfen ausgesetzt haben, die sie nicht nothwendigerweise treffen. Es haben sogar Einige gefolgert, oder haben doch zugelassen, dass man annahm, sie hätten aus der Regelmässigkeit in der Wiederkehr der von moralischen Eigenschaften abhängigen Ereignisse gefolgert, dass die moralischen Eigenschaften der Menschen der Verbesserung wenig fähig sind, oder dass sie für den allgemeinen Fortschritt der Gesellschaft im Vergleich mit intellectuellen und ökonomischen Ursachen von geringer Wichtigkeit sind. Aber dergleichen folgern hiesse vergessen, dass die statistischen Tabellen, aus denen diese unveränderlichen Durchschnittszahlen abgeleitet sind, aus Thatsachen zusammengetragen sind, die sich innerhalb enger geometrischer Grenzen und in einer geringen Anzahl von aufeinanderfolgenden Jähren zugetragen haben, d.h. aus einem Felde, das gänzlich unter der Wirksamkeit derselben allgemeinen Ursachen und zwar während einer zu kurzen Zeit stand, um irgend eine grosse Veränderung an sich zuzulassen. Alle moralischen Ursachen, mit Ausnahme der dem Lande im allgemeinen gemeinsamen, sind durch die grosse Anzahl der in Rechnung gezogenen Fälle eliminirt worden; diejenigen aber, welche dem ganzen Lande gemein sind, haben sich während des in den Beobachtungen eingeschlossenen kurzen Zeitraums nicht bedeutend verändert. Wenn wir die Annahme zulassen, dass sie sich verändert haben; wenn wir ein Jahrhundert mit dem anderen, ein Land mit dem anderen, oder auch einen Theil eines Landes mit dem anderen Theile desselben vergleichen,[563] der sich, was die moralischen Elemente betrifft, in Lage und Charakter von ihm unterscheidet, so geben die innerhalb eines Jahres begangenen Verbrechen nicht mehr denselben, sondern sie geben einen sehr verschiedenen numerischen Durchschnitt. Und es muss dies auch so sein; denn insofern ein jedes einzelne durch ein Individuum begangene Verbrechen hauptsächlich von dessen moralischen Eigenschaften abhängt, müssen die von der ganzen Bevölkerung eines Landes begangenen Verbrechen in einem gleichen Grade von deren collectiven moralischen Eigenschaften abhängig sein. Damit dieses Element auf die weite Scala keinen Einfluss übe, wäre es demnach nöthig anzunehmen, der allgemeine moralische Durchschnitt der Menschen verändere sich nicht von Land zu Land, oder von Jahrhundert zu Jahrhundert, was nicht wahr ist, und was durch keine bestellende Statistik möglicherweise nachgewiesen werden könnte, selbst wenn es wahr wäre. Ich stimme aber darum nicht weniger mit der Meinung von Herrn Buckle überein, dass die intellectuellen Elemente der Menschheit – in diesem Ausdruck die Natur ihrer Meinungen (Glauben), die Summe ihres Wissens und die Entwickelung ihrer Intelligenz inbegriffen – der vorherrschende Umstand in der Bestimmung ihres Fortschritts sind. Ich bin aber nicht dieser Meinung, weil ich ihren moralischen und ökonomischen Zustand für weniger mächtige oder weniger veränderliche Agentien halte, sondern weil dieselben in einem hohen Grade die Folgen des intellectuellen Zustandes und in allen Fällen durch ihn beschränkt sind, wie in dem vorhergehenden Capitel bemerkt worden ist. Die geistigen Veränderungen sind nicht sowohl ihrer an sich grösseren Stärke wegen die sichtbarsten Agentien in der Geschichte, sondern weil sie praktisch mit der vereinigten Macht der sämmtlichen drei Veränderungen wirken.

§. 3. Es giebt noch eine andere bei der Erörterung dieses Gegenstandes vernachlässigte Distincton, welche zu beachten vor grosser Wichtigkeit ist. Die Lehre, dass der gesellschaftliche Fortschritt unveränderlichen Gesetzen unterworfen ist, verbindet man oft mit der Lehre, dass der gesellschaftliche Fortschritt durch die Bemühungen von Individuen oder durch Handlungen der Regierungen nicht wesentlich, beeinflusst werden kann. Aber obgleich[564] diese Meinungen oft von denselben Personen gehegt werden, so sind es doch zwei verschiedene Meinungen und ihre Verwechslung bildet den ewig wiederkehrenden Irrthum der Verwechslung von Causalität und Fatalismus. Weil alles, was geschieht, die Wirkung von Ursachen ist, das menschliche Wollen inbegriffen, so folgt noch nicht, dass das Wollen, selbst das von besonderen Individuen, nicht eine sehr wirksame Ursache sein könne. Wenn Jemand bei einem Sturm auf der See schliessen würde, dass der Versuch, sich das Leben zu retten, ganz nutzlos sein würde, weil ungefähr dieselbe Anzahl von Personen dazu bestimmt ist, jährlich durch Schiffbruch umzukommen, so würden wir ihn einen Fatalisten nennen und ihn daran erinnern, dass die Bemühungen schiffbrüchiger Menschen, sich das Leben zu retten, so weit entfernt sind, nutzlos zu sein, dass die Durchschnittssumme dieser Anstrengungen vielmehr eine der Ursachen ist, von denen die ermittelte jährliche Anzahl von Todesfällen durch Schiffbruch abhängt. Wie universal die Gesetze der gesellschaftlichen Entwickelung auch sein mögen, so können sie doch nicht universaler und strenger sein, als die Gesetze der physikalischen Agentien der Natur; dennoch kann der menschliche Wille diese in Werkzeuge für seine Zwecke verwandeln, und der Umfang, bis zu welchem er dies vollbringt, bildet den Hauptunterschied zwischen Wilden und den höher civilisirten Völkern. Menschliche und sociale Thatsachen sind ihrer verwickelten Natur wegen nicht weniger, sondern mehr modificirbar, als mechanische und chemische Thatsachen; der menschliche Einfluss hat daher eine noch grössere Gewalt über sie. Diejenigen, welche behaupten, die Entwickelung der Gesellschaft hänge ausschliesslich oder fast ausschliesslich von allgemeinen Ursachen ab, halten demnach immer unter diesen Ursachen das collective Wissen und die geistige Entwickelung des ganzen Menschengeschlechts inbegriffen. Aber wenn des ganzen Geschlechts, warum nicht auch irgend eines mächtigen Monarchen oder Denkers, oder des herrschenden Theils einer politischen, durch ihre Regierung wirkenden Gesellschaft? Obgleich bei einem grossen Maassstab die zwischen gewöhnlichen Individuen stattfindenden Charakterverschiedenheiten einander neutralisiren, so neutralisiren sich doch einander nicht in einem gegebenen Jahrhundert exceptionelle Individuen, welche wichtige Stellungen einnehmen; es gab[565] keinen zweiten Themistokles, keinen zweiten Luther oder Julius Cäsar von gleichen Anlagen und entgegengesetzten Neigungen, um den gegebenen Themistokles, Luther und Cäsar auszugleichen und sie zu verhindern, eine dauernde Wirkung hervorzubringen. So wie es scheint, können der Wille exceptioneller Personen und die Meinungen und Absichten der Individuen, welche zu einer gewissen Zeit eine Regierung zusammensetzen, unentbehrliche Glieder der causalen Kette sein, durch welche selbst die allgemeinen Ursachen ihre Wirkungen erzeugen, und dies, glaube ich, ist die einzig haltbare Form der Theorie.

In einer berühmten Stelle einer seiner früheren Abhandlungen (und man lasse mich hinzufügen, dass es eine Stelle ist, die es ihm nicht gefiel wieder abdrucken zu lassen) giebt Lord Macaulay der Lehre von der absoluten Einflusslosigkeit grosser Männer einen unbeschränkteren Ausdruck, wie ich glauben muss, als ihr jemals von einem Schriftsteller von gleichen Fähigkeiten gegeben worden ist. Er vergleicht dieselben mit Personen, die bloss auf einer grösseren Höhe stehen und daher die Sonnenstrahlen etwas früher erhalten, als das übrige Menschengeschlecht. »Die Sonne beleuchtet die Hügel, während sie noch unter dem Horizont steht, und die Wahrheit wird durch die höchsten Geister ein wenig früher entdeckt, als sie sich der Menge offenbart. Dies ist der Grad ihrer Ueberlegenheit. Ein leicht, das ohne ihre Hülfe in kurzer Zeit den weit unter ihnen Stehenden sichtbar werden muss, wird zuerst von ihnen aufgefangen und zurückgeworfen!«.210 Wenn diese Metapher durchgeführt wird, so folgt, dass wenn es keinen Newton gegeben hätte, die Welt nicht nur das Newton'sche System bekommen hätte, sondern dass sie es auch ebenso früh bekommen hätte, da die Sonne den Zuschauern in der Ebene gerade ebenso früh aufgegangen sein würde, wenn kein Berg vorhanden gewesen wäre, um die Strahlen früher aufzufangen. Es würde so sein, wenn Wahrheiten, wie die Sonne, kraft ihrer eigenen Bewegung und ohne menschliche Bemühungen aufgingen, sonst aber nicht. Ich glaube, dass wenn Newton nicht gelebt hätte, die Welt in Betreff der Newton'schen Philosophie hätte warten müssen bis ein anderer Newton oder ein ihm Gleichstehender gekommen[566] wäre. Kein gewöhnlicher Mensch und keine Reihe von gewöhnlichen Menschen hätten Aehnliches vollbringen können. Ich will nicht so weit gehen zu sagen, dass das, was Newton während eines einzelnen Lebens that, nicht auch durch einige von denjenigen, welche auf ihn folgten und von denen ein Jeder ihm an Genie weit nachstand, allmälig und schrittweise hätte vollbracht werden können; aber auch der geringste dieser Schritte erforderte einen Mann von grosser geistiger Ueberlegenheit. Hervorragende Männer erblicken nicht bloss das kommende Licht von der Spitze des Hügels aus, sondern sie steigen auf die Spitze und erwecken es; und wenn keiner von ihnen jemals hinaufgestiegen wäre, so würde in vielen Fällen das Licht in der Ebene niemals aufgegangen sein. Die Philosophie und die Religion sind zum grossen Theile auf allgemeine Ursachen zurückführbar, dennoch aber werden wenige daran zweifeln, dass wenn es keinen Sokrates, keinen Plato und keinen Aristoteles, es auch während der nächsten zweitausend Jahre keine Philosophie gegeben hätte und in aller Wahrscheinlichkeit auch dann nicht; und dass wenn es keinen Christus und keinen St. Paulus gegeben hätte, es auch kein Christenthum gegeben hätte.

Der Punkt, in welchem der Einfluss merkwürdiger Männer entscheidend ist, liegt in der Determination der Schnelligkeit der Bewegung. Bei den meisten gesellschaftlichen Zuständen entscheidet die Existenz grosser Männer, ob ein Fortschritt stattfinden soll. Es ist denkbar, dass Griechenland oder das christliche Europa in gewissen Perioden ihrer Geschichte durch allgemeine Ursachen allein hätte fortschreiten können, aber, wenn es keinen Mahomet gegeben hätte, würde Arabien Avicenna oder Averroes, oder die Kalifen von Bagdad und von Cordova hervorgebracht haben? Viel weniger hängt aber bei der Determinirung der besonderen Weise und der Ordnung, in welcher der menschliche Fortschritt stattfinden wird, wenn er überhaupt stattfindet, von dem Charakter der Individuen ab. Es giebt in dieser Beziehung eine Art Nothwendigkeit, welche durch die allgemeinen Gesetze der menschlichen Natur, durch die Beschaffenheit des menschlichen Geistes hervorgerufen wird. Gewisse Wahrheiten können nicht entdeckt, gewisse Erfindungen können nicht gemacht werden, wenn nicht andere zuerst gemacht worden sind; gewisse gesellschaftliche Verbesserungen können anderen Verbesserungen nur folgen, nicht aber[567] vorhergehen. Der Ordnung des menschlichen Fortschritts können daher bis zu einem gewissen Grade bestimmte Gesetze vorgeschrieben sein, aber in Betreff seiner Schnelligkeit oder seines Stattfindens überhaupt ist keine auf die menschliche Species im allgemeinen sich erstreckende Generalisation zu machen; es sind hier nur einige sehr precäre annähernde Generalisationen zu machen, Generalisationen, die sich auf den kleinen Theil der Menschheit beschränken, in dem so etwas wie ein zusammenhängender Fortschritt innerhalb der historischen Zeit vorbanden war, und der aus dessen specieller Lage abgeleitet oder aus seiner besonderen Geschichte gefolgert worden ist. Auch wenn wir die besondere Weise des Fortschritts, die Ordnung der Reihenfolge der gesellschaftlichen Zustände betrachten, so bedürfen unsere Generalisationen einer grossen Biegsamkeit. Die Grenzen der Abweichung in der möglichen Entwickelung des gesellschaftlichen wie des thierischen Lebens sind ein Gegenstand, der noch wenig verstanden wird, und bilden eine der wichtigsten Aufgaben der socialen Wissenschaft. Auf alle Fälle ist es eine Thatsache, dass unter dem Einfluss verschiedener Umstände sich verschiedene Theile der Menschheit in mehr oder weniger verschiedener Weise und in verschiedenen Formen entwickelt haben, und zu den bestimmenden Umständen mag der individuelle Charakter ihrer grossen speculativen Denker oder praktischen Organisatoren wohl gehört haben. Wer kann sagen, wie tief die ganze spätere Geschichte Chinas durch die Individualität von Confucius influirt worden sein mag, oder die Geschichte Spartas (und daher von Griechenland und der ganzen Welt) durch die Individualität von Lykurg.

In Beziehung auf die Natur und den Umfang von dem, was ein grosser Mann unter günstigen Umständen für die Menschheit und was eine Regierung für eine Nation thun kann, sind verschiedene Meinungen möglich, und eine jede Meinungsschattirung ist mit der vollständigsten Anerkennung der Existenz von unveränderlichen Gesetzen geschichtlicher Phänomene verträglich. Der Grad des diesen specielleren Agentien zuzuschreibenden Einflusses erzeugt natürlich einen grossen Unterschied in der Genauigkeit, welche diesen allgemeinen Gesetzen beigelegt werden kann, und in dem Vertrauen, womit Voraussagungen auf dieselben gegründet werden können. Was von den Eigenthümlichkeiten der Individuen[568] in Verbindung mit dem Zufall ihrer Lage abhängt, ist nothwendigerweise unfähig vorausgesehen zu werden. Diese zufälligen Combinationen könnten ohne Zweifel, gleich anderen Combinationen, durch Betrachtung eines hinlänglich grossen Cyclus eliminirt werden; die Eigenthümlichkeiten eines grossen historischen Charakters lassen ihren Einfluss in der Geschichte zuweilen während mehrere Jahrtausende fühlen, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass am Ende von fünfzig Millionen Jahren eine Wirkung derselben vielleicht gar nicht mehr wahrzunehmen sein wird. Da wir indessen keinen Durchschnitt der unermesslichen Zeitlänge erhalten können, die nöthig wäre, um alle möglichen Combinationen von grossen Männern und Umständen zu erschöpfen, so ist und bleibt so viel von dem Gesetze der Entwickelung der menschlichen Angelegenheiten, als von diesem Durchschnitt abhängig ist, für uns unzugänglich: und innerhalb der nächsten tausend Jahre, die für uns weit wichtiger sind, als der ganze Rest der fünfzig Millionen, werden die vorkommenden günstigen und ungünstigen Combinationen für uns rein zufällig sein. Wir können das Erscheinen grosser Männer nicht voraussehen. Diejenigen, welche neue theoretische Gedanken, oder grosse praktische Ideen in die Welt einführen, muss man abwarten, man kann ihre Zeit nicht im voraus bestimmen. Was die Wissenschaft thun kann, besteht in Folgendem: sie kann in der vergangenen Geschichte die allgemeinen Ursachen nachweisen, welche die Menschheit in den Vorbereitungszustand versetzt haben, in dem sie bei der Erscheinung der richtigen Sorte von grossem Manne dem Einfluss desselben zugänglich ist. Wenn dieser Zustand dauert, so macht es die Erfahrung ziemlich gewiss, dass in einer längeren oder kürzeren Periode der grosse Mann hervorgebracht werden wird, vorausgesetzt, die allgemeinen Umstände des Landes und Volkes seien mit seiner Existenz verträglich (was sehr häufig nicht der Fall ist); auch über diesen Punkt kann die Wissenschaft bis zu einem gewissen Grade entscheiden. In dieser Weise können also die Resultate des Fortschrittes, ausgenommen was die Schnelligkeit ihrer Erzeugung betrifft, bis zu einem gewissen Grade auf Regelmässigkeit und Gesetz zurückgeführt werden. Der Glaube, dass sie dies können, verträgt sich aber gleich gut sowohl damit, dass man dem Einflusse der exceptionellen Männer und der Handlungen der Regierungen eine sehr[569] grosse, als auch damit, dass man ihnen eine sehr kleine Wichtigkeit beizulegen hat; dasselbe kann man von allen anderen Zufällen und störenden Ursachen sagen.

§. 4. Es würde nichtsdestoweniger ein grosser Irrthum sein, wenn man der Wirkung hervorragender Individuen oder der Regierungen nur eine geringe Wichtigkeit beilegen wollte. Mau darf nicht schliessen, dass diese beiden Einflüsse gering sind, weil sie der Gesellschaft das nicht geben können, was zu empfangen die Gesellschaft durch die allgemeinen socialen Umstände und den Gang ihrer früheren Geschichte nicht vorbereitet war. Weder die Denker noch die Regierungen bewirken alles, was sie beabsichtigen, aber dafür bringen sie auch oft wichtige Resultate hervor, welche sie nicht im entferntesten voraussahen. Grosse Männer und grosse Handlungen sind selten vergeblich dagewesen; sie senden tausend ungesehene Einflüsse aus, welche wirksamer sind, als die sichtbaren; und obgleich neun von je zehn Dingen, die von denjenigen, welche ihrem Jahrhundert voraus sind, in guter Absicht vollbracht werden, keine wesentliche Wirkung erzeugen, so erzeugt doch das zehnte Ding eine zwanzigmal grössere Wirkung als sich Jemand hätte träumen lassen von ihm vorauszusagen. Sogar die Männer, welche aus Mangel au hinreichend günstigen Umständen keinen Eindruck auf ihr Jahrhundert zurückgelassen haben, sind für die Nachwelt oft von dem grössten Werthe gewesen. Wer, sollte man allem Anschein nach glauben, hätte vergeblicher gelebt, als einige der ersten Ketzer? Sie wurden verbrannt oder niedergemetzelt, ihre Schriften ausgerottet, ihr Angedenken wurde verflucht, und sogar ihre Namen und ihre Existenz wurden sieben bis acht Jahrhunderte hindurch in dem Dunkel vermoderter Manuscripte gelassen – so dass ihre Geschichte vielleicht nur aus den Urtheilssprüchen, durch welche sie verurtheilt worden waren, zusammengestellt werden konnte. Dennoch aber brach das Andenken an diese Männer – an Männer, welche gewissen Ansprüchen oder gewissen Dogmen der Kirche in demselben Jahrhundert widerstanden, in dem man behauptete, es wäre denselben die einstimmige Zustimmung der Christenheit gegeben worden, und die Autorität derselben wäre auf diese Zustimmung gegründet – die traditionellen Fesseln, stellte für den Widerstand[570] eine Reihe von Präcedentien auf, flösste späteren Reformatoren Muth ein und wappnete sie mit den Waffen, deren sie bedurften, als die Menschheit besser vorbereitet war, ihrem Anstoss zu folgen. Diesem Beispiele von Männern wollen wir ein Beispiel von Regierungen beifügen. Die verhältnissmässig aufgeklärte Herrschaft, welche Spanien während eines grossen Theiles des achtzehnten Jahrhunderts genoss, verbesserte nicht die Grundfehler des spanischen Volkes, und es ging in Folge hiervon so vieles von dem vielen Guten, was diese Herrschaft temporär vollbrachte, mit ihr unter, dass die Behauptung, sie habe keine bleibende Wirkung gehabt, ganz plausibel erscheint. Man hat diesen Fall als einen Beweis angeführt, wie wenig Regierungen den Ursachen, welche den allgemeinen Charakter einer Nation bestimmen, entgegen wirken können. Er zeigt aber nur, wieviel Regierungen nicht thun können, nicht aber, dass sie Nichts thun können. Man vergleiche das, was Spanien beim Beginn jener fünfzigjährigen liberalen Regierung war, mit dem, was es am Ende derselben geworden war. Diese Periode brachte den gebildeteren Classen das leicht des europäischen Gedankens, und dieses hat später nie wieder aufgehört sich zu verbreiten. Vor jener Zeit ging die Veränderung in einer umgekehrten Richtung vor sich; Cultur, Aufklärung, geistige und materielle Thätigkeit waren im absterben. War es Nichts, diese abwärtsgehende Richtung aufzuhalten und sie in eine aufwärtsgehende umzukehren? Wieviel von dem, was Carl der Dritte und Aranda nicht thun konnten, war die letzte Folge von dem, was sie thaten! Jenem halben Jahrhundert verdankt Spanien seine Befreiung von der Inquisition und den Mönchen, es verdankt ihm, dass es jetzt ein Parlament und eine freie Presse, die Gefühle von Freiheit und Bürgerthum besitzt, und dass es Eisenbahnen und alle anderen Bestandtheile des materiellen und ökonomischen Fortschritts erhält. In dem Spanien, welches jener Aera vorausging, war nicht ein einziges Element thätig, das in einer beliebigen Zeitlänge hätte zu jenen Resultaten führen können, wenn die letzten Prinzen der österreichischen Dynastie das Land so fort regiert hätten, wie sie regierten, oder wenn die Bourbonen gleich im Anfang das gewesen wären, was sie später sowohl in Spanien als auch in Neapel wurden.

Und wenn eine Regierung viel thun kann, nm positive Verbesserungen[571] herbeizuführen, auch wenn sie wenig zu thun scheint, so sind doch noch grössere Erfolge bei der Abwehr von inneren und äusseren Uebeln, welche den Fortschritt gänzlich aufhalten würden, von ihr abhängig. Oft hat ein guter oder ein schlechter Rathsherr in einer einzelnen Stadt bei einer besonderen Krisis auf das ganze spätere Schicksal der Welt einen Einfluss ausgeübt. Es ist so gewiss, als ein Urtheil in Betreff historischer Ereignisse nur sein kann, dass, wenn es keinen Themistokles gegeben hätte, es auch keinen Sieg bei Salamis gegeben hätte; und wenn letzterer nicht gewesen wäre, wo wäre unsere ganze Civilisation? Wie verschieden würde die Folge gewesen sein, wenn Epaminondas oder Timoleon, oder auch Iphikrates anstatt des Chares und Lysikles bei Chäronea befehligt hätten. Es ist in dem zweiten von zwei Essays über das Studium der Geschichte,211 meiner Ansicht nach die besten und philosophischsten Schriften, welche der gegenwärtige Streit über diesen Gegenstand hervorgerufen hat, ganz richtig bemerkt, die Geschichtswissenschaft berechtigt nicht zu absoluten, sondern nur zu bedingten Voraussagungen. Allgemeine Ursachen haben grossen Einfluss, aber auch individuelle Ursachen »erzeugen grosse Veränderungen in der Geschichte und geben ihr die ganze Färbung, nachdem sie längst vergangen sind.... Niemand kann daran zweifeln, dass die römische Republik in einen Militärdespotismus ausgeartet wäre, wenn Julius Cäsar niemals gelebt hätte« (dies wurde durch allgemeine Ursachen praktisch gewiss gemacht); »aber ist es überhaupt klar, dass in diesem Falle Gallien jemals eine Provinz des römischen Reichs gebildet haben würde? Hätte Varus nicht seine drei Legionen an den Ufern der Rhone verlieren können, und hätte nicht jener Fluss statt des Rheins die Grenze des Reichs werden können? Dies hätte ganz gut stattfinden können, wenn Cäsar und Crassus ihre Provinzen vertauscht hätten, und es ist sicher unmöglich zu sagen, dass bei einem solchen Ereigniss die europäische Civilisation nicht hätte eine andere Richtung nehmen können. Die Eroberung Englands durch die Normannen war eben so gut das Werk eines einzigen Mannes, wie das Schreiben eines Zeitungsartikels es ist; da wir aber die Geschichte dieses Mannes und seiner Familie kennen, so können wir mit aller[572] Gewissheit, wenn auch nicht mit Unfehlbarkeit, voraussagen, dass kein anderer Mensch« (kein anderer in jenem Jahrhundert ist, wie ich vermuthe, gemeint) »das Unternehmen hätte ausführen können. Und wenn es nicht ausgeführt worden wäre, würde dann Grund vorhanden sein anzunehmen, dass unsere Geschichte und unser Nationalcharakter das sein würden, was sie sind?«

Derselbe Schriftsteller bemerkt ganz richtig: der ganze Strom der griechischen Geschichte, wie dieselbe durch Hrn. Grote aufgeklärt worden ist, ist eine Reihe von Beispielen, welche zeigen, wie oft Ereignisse, auf denen das ganze Geschick der späteren Civilisation beruht, von dem persönlichen Charakter im Guten und Bösen eines einzigen Individuums abhängig waren. Man muss indessen sagen, dass Griechenland das ausserordentlichste Beispiel dieser Art liefert, das man in der Geschichte finden kann, und dass dies ein sehr übertriebenes Specimen des Bestrebens im allgemeinen ist. Es ist nur einmal vorgekommen – und wird wahrscheinlich nicht wieder vorkommen – dass die Geschicke der Menschheit von einer gewissen Ordnung der Dinge abhingen, die in einer einzelnen Stadt, oder in einem Lande aufrecht zu erhalten war, das kaum grösser war als Yorkshire, und das durch hundert Ursachen von sehr geringer Bedeutung im Vergleich mit dem allgemeinen Bestreben der menschlichen Allgelegenheiten ruinirt oder gerettet werden konnte. Weder gewöhnliche Zufälle, noch der Charakter von Individuen können jemals wieder die Wichtigkeit erlangen, welche sie damals besassen. Je länger das Menschengeschlecht existirt, und je civilisirter es wird, um so mehr erhält, wie Herr Comte bemerkt, der Einfluss der vergangenen Generationen auf die gegenwärtige Generation und der Menschheit en masse über ein jedes Individuum die Oberhand über andere Kräfte; und obgleich der Gang der Dinge niemals aufhört, der Veränderung sowohl durch Zufälle als auch durch persönliche Eigenschaften zugänglich zu sein, so bringt doch das wachsende Uebergewicht der Gesammtwirkung der Menschheit über alle geringeren Ursachen die allgemeine Entwickelung des Menschengeschlechts in ein mehr bestimmtes und gezogenes Geleise. Die Geschichtswissenschaft wird daher immer möglicher, nicht bloss, weil sie besser studirt wird, sondern auch, weil sie bei einer jeden Generation für das Studium geeigneter wird.[573]

Quelle:
John Stuart Mill: System der deduktiven und inductiven Logik. Band 2, Braunschweig 31868, S. 558-574.
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