Neuntes Capitel.

Von der physikalischen oder concreten deductiven Methode.

[512] §. 1. Nach dem, was zur Erläuterung der Natur der Erforschung socialer Erscheinungen gesagt wurde, ist der allgemeine und dieser Methode eigene Charakter hinlänglich klar und bedarf keiner weiteren Begründung, sondern nur noch einer Recapitulation. Wie verwickelt die Erscheinungen auch sein mögen, ihre Sequenzen und Coexistenzen gehen aus den Gesetzen der einzelnen Elemente hervor. Die bei gesellschaftlichen Erscheinungen durch eine complexe Reihe von Umständen erzeugte Wirkung ist der Summe von den Wirkungen der Umstände einzeln genommen genau gleich, und die Complexität entspringt nicht aus der nicht besonders grossen Anzahl der Gesetze selbst, sondern aus der ausserordentlichen Zahl und Mannigfaltigkeit der Data oder Elemente – der Agentien, welche nach einer geringen Anzahl von Gesetzen zur Wirkung beitragen. Die Gesellschaftswissenschaft (welche einem bequemen Barbarismus zufolge Sociologie genannt wurde) ist daher eine deductive Wissenschaft nicht in der That nach dem Vorbilde der Geometrie, sondern nach dem Vorbilde der verwickelteren physikalischen Wissenschaften. Sie folgert das Gesetz einer jeden Wirkung aus den Causalgesetzen, von denen diese Wirkung abhängig ist; nicht aus dem Gesetze von bloss einer Ursache, wie bei der geometrischen Methode, sondern sie zieht alle Ursachen in Betracht, welche die Wirkung zusammen beeinflussen, und verbindet deren Gesetze mit einander. Kurz, ihre Methode ist die concrete deductive Methode, wovon die Astronomie das vollkommenste, die Physik ein etwas weniger vollkommenes Beispiel darbietet, und deren Anwendung bei der von[512] dem Gegenstande erheischten Vorsicht und Anpassung die Physiologie umzugestalten beginnt.

Ohne Zweifel ist in der Sociologie ein ähnliches Anpassen und eine ähnliche Vorsicht unumgänglich nöthig. Wenn wir auf das Studium der verwickeltsten Erscheinungen eine Methode anwenden, die nachweisbar die einzige ist, welche das Licht der Wissenschaft auf bei weitem weniger verwickelte Erscheinungen werfen kann, so sollten wir wohl bedenken, dass dieselbe grössere Complication, welche das Instrument der Deduction nöthiger macht, es auch unsicherer macht; wir müssen darauf vorbereitet sein, diesen grösseren Schwierigkeiten durch geeignete Kunstgriffe zu begegnen.

Die Handlungen und die Gefühle der Menschen im socialen Zustande werden ohne Zweifel gänzlich durch psychologische und ethologische Gesetze beherrscht. Welchen Einfluss eine Ursache auf die socialen Erscheinungen auch ausüben mag, so übt sie ihn durch diese Gesetze. Vorausgesetzt also, die Gesetze der menschlichen Handlungen und Gefühle seien hinlänglich bekannt, so werden wir keiner besondern Schwierigkeit begegnen, wenn wir die Natur der socialen Wirkungen, welche eine gegebene Ursache hervorzubringen strebt, aus diesen Gesetzen bestimmen wollen. Wenn aber die Aufgabe ist, verschiedene Bestreben mit einander zu verbinden und das Durchschnittsresultat vieler coexistirender Ursachen zu berechnen; und besonders, wenn wir bei dem Versuche vorauszusagen, was in einem gegebenen Falle wirklich geschehen wird, gezwungen sind, die Einflüsse aller in diesem Falle etwa existirender Ursachen zu berechnen und zu verbinden: so unternehmen wir ein Werk, das weit zu führen die Kräfte menschlicher Fähigkeiten übersteigt.

Wenn alle Hülfsmittel der Wissenschaft uns nicht in den Stand setzen können, die gegenseitige Wirkung von drei gegeneinander gravitirenden Körpern genau zu berechnen, so kann man sich denken, mit welcher Aussicht auf Erfolg wir uns bemühen werden, das Resultat der widerstreitenden Bestreben zu berechnen, welche in tausend verschiedenen Richtungen wirken und in einem gegebenen Augenblick in einer gegebenen Gesellschaft tausend verschiedenen Veränderungen Vorschub leisten; obgleich wir den Gesetzen der menschlichen Natur nach im Stande sein könnten und sollten, die Bestreben selbst, soweit sie von unserer Beobachtung zugängigen Ursachen abhängen, ziemlich richtig zu unterscheiden[513] und sowohl die Richtung zu bestimmen, welche ein jedes derselben, wenn es allein wirkte, der Gesellschaft geben würde, als auch in einer allgemeinen Weise wenigstens auszusprechen, dass einige von diesen Bestreben stärker sind als die anderen.

Wenn wir uns aber die nothwendigen Unvollkommenheiten der auf einen solchen Gegenstand angewandten aprioristischen Methode nicht verhehlen, so dürfen wir sie von der andern Seite auch nicht übertreiben. Die Einwürfe, welche auf die deductive Methode in ihrer schwierigsten Anwendung passen, passen auch auf sie, wie wir früher zeigten, bei ihrer leichtesten Anwendung; auch da würden die Schwierigkeiten unübersteiglich sein, wenn nicht, wie vollständig erklärt wurde, ein angemessenes Hülfsmittel vorhanden wäre. Dieses Hülfsmittel besteht in dem Verfahren, welches wir unter dem Namen Bestätigung (Verification) als den dritten wesentlichen Bestandtheil der deductiven Methode charakterisirt haben; in dem Verfahren, die Schlüsse des Syllogismus entweder mit den concreten Erscheinungen selbst, oder, wenn diese nicht zu erlangen sind, mit deren empirischen Gesetzen zu vergleichen. Der Grund des Vertrauens zu einer concreten deductiven Wissenschaft liegt nicht in dem aprioristischen Schliessen selbst, sondern in der Uebereinstimmung ihrer Resultate mit den Resultaten der Beobachtung a posteriori. Ein jeder von diesen zwei Processen nimmt für sich und abgesehen vom andern in dem Verhältniss an Werth ab, als der Gegenstand verwickelt wird, und zwar in einem so raschen Verhältniss, dass er bald gänzlich werthlos wird; aber das in die Uebereinstimmung der zwei Beweisarten zu setzende Vertrauen vermindert sich nicht allein bei weitem nicht in einem ähnlichen Verhältniss, sondern es ist auch nicht nothwendig, dass es sich überhaupt viel vermindere. Es resultirt nur eine Störung in der Reihenfolge der zwei Processe, die zuweilen bis zu einer wirklichen Umkehrung derselben geht; so dass wir, anstatt unsere Schlüsse deductiv zu ziehen und sie durch die Beobachtung zu bestätigen, in manchen Fällen sie zuerst vermuthungsweise aus der specifischen Erfahrung gewinnen und sie dann durch aprioristisches Schliessen mit den Principien der menschlichen Natur in Zusammenhang bringen, so dass diese Schlüsse eine wirkliche Verification bilden.

Der einzige Denker, der bei einer gehörigen Kenntniss der[514] wissenschaftlichen Methoden im allgemeinen versucht hat, die Methode der Sociologie zu charakterisiren, Herr Comte, betrachtet diese umgekehrte Ordnung als der Natur der sociologischen Speculation eigen. Er betrachtet die sociale Wissenschaft so, als bestände sie wesentlich aus Generalisationen aus der Geschichte, welche durch Deduction aus den Gesetzen der menschlichen Natur verificirt, nicht aber ursprünglich durch dieselbe an die Hand gegeben wurden. Obgleich in dieser Ansicht eine Wahrheit liegt, deren Wichtigkeit ich mich sogleich bemühen werde zu zeigen, so muss ich doch glauben, dass diese Wahrheit zu unbedingt ausgedrückt ist, und dass in der sociologischen Forschung sowohl für die directe, als auch für die umgekehrte deductive Methode bedeutend Raum ist.

In dem nächsten Capitel wird in der That gezeigt werden, dass es eine Art von sociologischen Untersuchungen giebt, auf welche ihrer ausserordentlich grossen Complicirtheit wegen die directe deductive Methode gänzlich unanwendbar ist, während wir als einen glücklichen Ersatz gerade in diesen Fällen die besten empirischen Gesetze gewinnen können; diesen Untersuchungen ist daher die umgekehrte deductive Methode ausschliesslich angepasst. Es giebt aber, wie es sich sogleich zeigen wird, auch andere Fälle, in denen es unmöglich ist, aus der directen Erfahrung etwas zu erhalten, was den Namen eines empirischen Gesetzes verdiente, und glücklicherweise trifft es sich, dass dieselben gerade die Fälle sind, in denen die directe Methode durch den Einwurf, dem sie ohne Zweifel immer bis zu einem gewissen Grad ausgesetzt ist, am wenigsten betroffen wird.

Wir werden daher zuerst die Sociale Wissenschaft als eine Wissenschaft der directen Deduction betrachten und sehen, was durch diese Untersuchungsweise darin vollbracht werden und unter welchen Beschränkungen dies geschehen kann. Wir werden sodann das umgekehrte Verfahren in einem besondern Capitel prüfen und es zu charakterisiren suchen.

§. 2. Es ist zuvörderst einleuchtend, dass, als ein System aprioristischer Deductionen betrachtet, die Sociologie nicht eine Wissenschaft positiver Voraussagungen, sondern nur eine Wissenschaft von Bestreben sein kann. Wir mögen im Stande sein, aus[515] den auf die Umstände eines gewissen gesellschaftlichen Zustands angewandten Gesetzen der menschlichen Natur zu schliessen, dass eine besondere Ursache in einer gewissen Weise wirken wird, wenn sie nicht aufgehoben wird; wir sind aber weder jemals gewiss, bis zu welchem Umfange oder bis zu welchem Grade sie so wirken wird, noch können wir mit Gewissheit behaupten, dass sie nicht aufgehoben werden wird; denn wir können selten alle mit ihr coexistirenden Agentien auch nur annähernd kennen, noch weniger aber das Gesammtresultat so vieler combinirter Elemente berechnen. Es ist indessen hier nochmals die Bemerkung zu wiederholen, dass ein für die Voraussagung unzulängliches Wissen als ein Wegweiser sehr schätzbar sein kann. Es ist für eine kluge Führung sowohl der Geschäfte der Gesellschaft, als auch der eigenen Privatangelegenheiten nicht nothwendig, dass wir die Resultate von dem, was wir thun, unfehlbar voraussehen. Wir müssen unsern Zweck durch Mittel zu erreichen suchen, die vielleicht vereitelt werden, und uns gegen Gefahren vorsehen, die vielleicht niemals eintreffen. Es ist das Ziel der praktischen Politik, eine gegebene Gesellschaft mit der möglichst grossen Anzahl von Umständen zu umgeben, deren Bestreben wohlthätig sind, und diejenigen Umstände, deren Bestreben schädlich sind, zu beseitigen oder zu verhindern. Eine blosse Kenntniss der Bestreben giebt uns diese Macht bis zu einem gewissen Umfang, wenn sie uns auch ohne die Macht lässt, das Gesammtresultat derselben vorauszusagen.

Es wäre indessen ein Irrthum vorauszusetzen, wir könnten selbst in Beziehung auf Bestreben auf diese Weise zu einer grossen Anzahl von Urtheilen gelangen, welche von allen Gesellschaften ohne Ausnahme wahr sein werden. Eine solche Voraussetzung wäre mit der ausserordentlich modificirbaren Natur der socialen Erscheinungen, mit der Menge und Mannigfaltigkeit der Umstände, durch welche sie modificirt werden, unvereinbar; sie wäre unvereinbar mit Umständen, die niemals bei zwei verschiedenen Gesellschaften, oder zu zwei verschiedenen Perioden derselben Gesellschaft dieselben oder auch nur nahezu dieselben sind. Es würde dies kein so ernsthaftes Hinderniss sein, wenn, obgleich die auf die Gesellschaft wirkenden Ursachen im allgemeinen zahlreich sind die einen jeden Zug der Gesellschaft influirenden Umstände der[516] Zahl nach beschränkt wären; denn wir könnten alsdann eine besondere sociale Erscheinung isoliren und ihre Gesetze unabhängig von der Störung durch den Rest der Erscheinungen studiren. Aber die Wahrheit ist ganz das Entgegengesetzte hiervon. Was irgend ein Element des socialen Zustandes in einem merklichen Grade afficirt, afficirt dadurch alle anderen Elemente. Die Erzeugungsweise aller socialen Erscheinungen ist ein grosser Fall von Vermischung von Gesetzen. Wir können den Zustand einer Gesellschaft in irgend einer Beziehung weder theoretisch verstehen noch praktisch beherrschen, wenn wir den Zustand nicht in allen anderen Beziehungen in Betracht ziehen. Es giebt keine sociale Erscheinung, die nicht mehr oder weniger durch jeden anderen Theil des Zustandes derselben Gesellschaft und daher auch durch eine jede Ursache beeinflusst wäre, welche eine jede andere der gleichzeitigen socialen Erscheinungen beeinflusst. Kurz, es giebt was die Physiologen einen Consens, eine Mitleidenschaft nennen, ähnlich derjenigen, welche zwischen den verschiedenen Organen und Functionen des physischen Organismus des Menschen und der höheren Thiere existirt, und die eine der vielen Analogien ausmacht, welche Ausdrücke wie »Staatskörper« und »Naturkörper« allgemein gemacht haben. Aus diesem Consens folgt, dass, es sei denn, zwei Gesellschaften könnten in allen sie umgebenden und influirenden Umständen gleich sein (worin inbegriffen wäre, dass sie in ihrer vorausgängigen Geschichte ähnlich sind), die Erscheinungen sich in keinem einzigen Theile bei beiden genau entsprechen werden, keine Ursache bei beiden genau dieselben Wirkungen erzeugen wird. Eine jede Ursache kommt, wenn sich ihre Wirkung über die Gesellschaft verbreitet, irgendwo mit verschiedenen Reihen von Agentien in Berührung und ihre Wirkung auf einige der socialen Erscheinungen wird auf diese Weise verschieden modificirt; und diese Unterschiede erzeugen durch ihre Rückwirkung einen Unterschied auch in denjenigen Wirkungen, welche sonst unverändert geblichen wären. Wir können daher niemals mit Gewissheit behaupten, dass eine Ursache, welche bei einem Volke oder in einem Zeitalter ein besonderes Bestreben hatte, ein anderesmal dasselbe Bestreben haben wird, wenn wir nicht auf unsere Prämissen zurückgehen und die Analyse des Ganzen der influirenden Umstände, wie wir sie[517] zuerst angestellt hatten, für die zweite Nation oder das zweite Zeitalter wiederholen. Die deductive Gesellschaftswissenschaft wird keinen Lehrsatz aufstellen, der die Wirkung einer Ursache in einer universalen Weise behauptet, aber sie wird uns lehren, den geeigneten Lehrsatz für die Umstände eines gegebenen Falls herzustellen. Sie wird nicht die Gesetze der Gesellschaft im allgemeinen, sondern die Mittel geben, um die Erscheinungen einer gegebenen Gesellschaft aus den besonderen Elementen oder Daten dieser Gesellschaft zu bestimmen.

Alle allgemeinen Urtheile, welche durch die deductive Wissenschaft aufgestellt werden können, sind daher im strengsten Sinne des Wortes hypothetisch. Sie sind auf irgend eine angenommene Reihe von Umständen gegründet und behaupten, wie eine gegebene Ursache unter diesen Umständen wirken würde, vorausgesetzt, es seien keine anderen Umstände mit denselben verbunden. Wenn die angenommene Reihe von Umständen einer bestehenden Gesellschaft entnommen ist, so werden die Schlüsse von dieser Gesellschaft wahr sein, vorausgesetzt, die Wirkung dieser Umstände sei nicht durch andere nicht in Rechnung gezogene Umstände modificirt worden. Wenn wir uns der concreten Wahrheit noch mehr zu nähern wünschen, so können wir dies nur dadurch, dass wir eine grössere Anzahl von individualisirenden Umständen in Rechnung nehmen.

Wenn wir aber bedenken, wie schnell das Verhältniss der Ungewissheit unserer Schlüsse zunimmt, sobald wir versuchen, die Wirkung einer grösseren Anzahl von zusammenwirkenden Ursachen in die Rechnung einzuführen, so werden wir die hypothetischen Combinationen von Umständen, auf welche wir die allgemeinen Lehrsätze der Wissenschaft bauen, nicht sehr verwickelt machen dürfen, wann nicht eine so schnell wachsende Gefahr des Irrthums entstehen soll, dass unsere Schlüsse dadurch bald ihres ganzen Werthes beraubt werden. Als ein Mittel um allgemeine Sätze zu erhalten muss daher diese Untersuchungsweise, bei Strafe der Werthlosigkeit, auf diejenigen Classen von socialen Thatsachen beschränkt werden, welche, obgleich durch alle sociologischen Agentien beeinflusst, wie die übrigen, wenigstens der Hauptsache nach unter dem unmittelbaren Einfluss von nur wenigen stehen.

[518] §. 3. Ungeachtet des allgemeinen Consens der gesellschaftlichen Erscheinungen, wodurch alles, was in irgend einem Theile der gesellschaftlichen Thätigkeit stattfindet, einen entsprechenden Einfluss auf jeden andern Theil ausübt; und ungeachtet des Uebergewichtes, welches der allgemeine Zustand der Civilisation und des socialen Fortschritts einer gegebenen Gesellschaft über alle partiellen und untergeordneten Erscheinungen haben muss, ist es doch nicht weniger wahr, dass verschiedene Arten von socialen Thatsachen in der Hauptsache unmittelbar und in der ersten Instanz von verschiedenen Arten von Ursachen abhängig sind, und dass sie daher nicht allein getrennt studirt werden können, sondern dass sie es auch müssen; gerade so wie wir in dem Naturkörper die Physiologie und Pathologie eines jeden der wichtigeren Organe und Gewebe getrennt studiren, obgleich der Zustand aller anderen Organe und Gewebe auf sie einwirkt, und obgleich die eigenthümliche Constitution und der allgemeine Gesundheitszustand des Organismus bei der Bestimmung des Zustandes eines besonderen Organs mit den localen Ursachen zusammenwirken und sie oft überwiegen.

Auf diese Betrachtungen gründet sich die Existenz der unterschiedenen und getrennten, wenn auch nicht unabhängigen, Zweige der sociologischen Speculation.

Es giebt z.B. eine grosse Classe von socialen Erscheinungen, in denen die unmittelbar bestimmenden Ursachen hauptsächlich die durch das Verlangen nach Reichthum wirkenden sind, und in denen das hauptsächlich in Betracht kommende psychologische Gesetz das bekannte Gesetz ist, dass ein grosser Gewinn einem kleinen Gewinn vorzuziehen ist. Ich meine natürlich jenen Theil der gesellschaftlichen Erscheinungen, der aus der industriellen oder productiven Thätigkeit, und denjenigen Handlungen der Menschen hervorgeht, durch welche die Vertheilung der Producte dieser industriellen Thätigkeit stattfindet, insofern sie nicht durch Gewalt oder durch freiwilliges Schenken modificirt wird. Wenn wir von diesem einen Gesetz der menschlichen Natur und von denjenigen wichtigeren (allgemeinen oder auf besondere sociale Zustände beschränkten) Umständen aus schliessen, welche durch dieses Gesetz auf den menschlichen Geist wirken, so körnen wir uns in den Stand setzen, diesen Theil der socialen Erscheinungen,[519] soweit er von dieser Classe von Umständen abhängt, zu erklären und vorauszusagen; indem wir dabei über einen jeden andern Umstand der Gesellschaft hinwegsehen und daher weder die in Rechnung gezogenen Umstände auf ihren möglichen Ursprung aus anderen Thatsachen des socialen Zustandes zurückführen, noch die Art und Weise in Anschlag bringen, in der irgend einer dieser anderen Umstände mit der Wirkung der ersteren zusammentreffen und sie aufheben oder modificiren kann. Auf diese Weise konnte man eine Wissenschaft aufbauen, die den Namen Nationalökonomie erhalten hat.

Der Grund, um diesen Theil der socialen Erscheinungen von den übrigen zu trennen und eine auf dieselben bezügliche besondere Wissenschaft zu schaffen, ist, – dass sie, wenigstens in der ersten Instanz, hauptsächlich nur von einer Classe von Umständen abhängig sind; und dass, wenn auch andere Umstände dazwischentreten, die Bestimmung der einer Classe von Umständen allein angehörigen Wirkung ein hinreichend verwickeltes und schwieriges Geschäft ist, um es rathsam zu machen, dasselbe einfür allemal abzumachen und alsdann die Wirkung der modificirenden Umstände in Anschlag zu bringen; besonders da gewisse feste Combinationen der ersteren Classe in Verbindung mit stets sich ändernden Umständen der letzteren leicht wiederkehren.

Wie ich bei einer andern Gelegenheit bemerkt habe, so befasst sich die Nationalökonomie nur »mit den Erscheinungen des gesellschaftlichen Zustandes, die in Folge des Strebens nach Reichthum stattfinden. Sie abstrahirt von allen anderen menschlichen Leidenschaften oder Motiven, mit Ausnahme derjenigen, welche als die dem Verlangen nach Reichthum ewig widerstreitenden Elemente angesehen werden können, wie Scheu vor Arbeit und das Verlangen nach kostspieligen Genüssen. Diese nimmt sie bis zu einem gewissen Grad in Rechnung, weil sie nicht, wie unsere anderen Wünsche, mit dem Streben nach Reichthum gelegentlich collidiren sondern weil sie es, wie ein Hemmschuh oder ein Hinderniss, stets begleiten und sich daher der Betrachtung desselben immer beimischen. Die Nationalökonomie betrachtet die Menschen bloss als mit der Erwerbung und der Consumtion von Reichthum beschäftigt, und sucht zu zeigen, welchen Verlauf die Handlungen der in einem gesellschaftlichen Zustande lebenden Menschen nehmen würden,[520] wenn dieses Motiv, ohne durch die obengenannten zwei antagonistischen Motive gehemmt zu sein, alle ihre Handlungen absolut beherrschte. Sie zeigt, dass die Menschen unter dem Einfluss dieses Verlangens Reichthum aufhäufen und diesen Reichthum zur Erzeugung von anderm Reichthum gebrauchen; dass sie durch gegenseitiges Uebereinkommen die Einrichtung des Eigenthums sanctioniren; dass sie Gesetze aufstellen, um die Einzelnen zu verhindern, durch Gewalt oder Betrug Eingriffe in das Eigenthum anderer zu thun; dass sie verschiedene Erfindungen annehmen, um die Productivität Ihrer Arbeit zu erhöhen; dass sie die Vertheilung des Products durch Uebereinkunft ordnen, unter dem Einfluss der Concurrenz ordnen (während die Concurrenz selbst durch gewisse Gesetze beherrscht ist, welche Gesetze daher die letzten Regulatoren der Vertheilung der Erzeugnisse sind); und dass sie gewisse Mittel gebrauchen (wie Geld, Credit etc.), um die Vertheilung des Pro ductes zu erleichtern. Alle diese Operationen betrachtet die Nationalökonomie so, als flössen sie allein aus dem Verlangen nach Reichthum, obgleich viele derselben wirklich das Resultat einer Vielfachheit von Motiven sind. Die Wissenschaft schreitet sodann zur Untersuchung der Gesetze, welche diese Operationen unter der Voraussetzung beherrschen, der Mensch sei ein Wesen, das durch die Nothwendigkeit seiner Natur bestimmt wird, eine grössere Menge Reichthum einer kleineren in allen Fällen verzuziehen, und zwar nur mit Ausnahme des durch die zwei bereits erwähnten Gegenmotive constituirten Falles. Nicht dass irgend ein Nationalökonom jemals so absurd gewesen wäre anzunehmen, die Menschen seien wirklich so constituirt, sondern weil dies die Art und Weise ist, wie die Wissenschaft nothwendig verfahren muss. Wenn eine Wirkung von einem Zusammenwirken von Ursachen abhängig ist, so müssen diese Ursachen einzeln studirt und ihre Gesetze separat erforscht werden, wenn wir durch die Ursachen das Vermögen, die Wirkung vorauszusagen oder zu beherrschen, zu erlangen wünschen; indem das Gesetz der Wirkung aus den Gesetzen aller sie bestimmenden Ursachen zusammengesetzt ist. Das Gesetz der Centripetalkraft und das Gesetz der Centrifugalkraft musste bekannt gewesen sein, ehe die Bewegung der Erde und der Planeten erklärt und vorausgesagt werden konnte. Dasselbe ist der Fall mit der Handlungsweise des Menschen[521] in der Gesellschaft. Um urtheilen zu können, wie er unter der Mannigfaltigkeit der auf ihn einwirkenden Wünsche und Abneigungen handeln wird, müssen wir wissen, wie er unter dem ausschliesslichen Einfluss einer jeden einzelnen handeln würde. Es giebt vielleicht in dem Leben eines Menschen keine Handlung, bei welcher er ausschliesslich unter dem Einfluss des Verlangens nach Reichthum, und nicht auch, unmittelbar oder mittelbar, unter dem Einfluss anderer Impulse stände. Auf diejenigen Theile der menschlichen Handlungsweise, wovon Reichthum nicht einmal der Hauptzweck ist, hält die Nationalökonomie indessen ihre Schlüsse nicht für anwendbar. Es giebt aber gewisse Zweige der menschlichen Angelegenheiten, in denen die Erwerbung von Reichthum das hauptsächliche und anerkannte Ziel ist. Von diesen allein nimmt die Nationalökonomie Notiz. Sie muss dabei nothwendig in der Art verfahren, dass sie den hauptsächlichen und anerkannten Zweck so behandelt, als ob er der alleinige Zweck wäre; was von allen gleich einfachen Hypothesen der Wahrheit am nächsten kommt. Der Nationalökonom untersucht, welche Handlungen dieses Verlangen hervorrufen würde, wenn es in dem fraglichen Bereich durch kein anderes Verlangen gehindert wäre. Auf diese Weise lässt sich eine grössere Annäherung an die wirkliche Ordnung der menschlichen Angelegenheiten erreichen, als es sonst in diesem Fache thunlich wäre. Diese Annäherung ist alsdann dadurch zu verbessern, dass man die Wirkungen von allen Impulsen in Anschlag bringt, von denen gezeigt werden kann, dass sie sich mit dem Resultat in einem besonderen Falle vermischen. Diese Correctionen werden nur in einigen wenigen der schlagendsten Fälle (wie bei dem wichtigen Princip von der Bevölkerung) in den Entwickelungen der Nationalökonomie selbst eingeschaltet; indem dabei der praktischen Nützlichkeit zu Liebe von der Strenge einer rein wissenschaftlichen Anordnung einigermaassen abgestanden wird. Wenn es bekannt oder zu vermuthen ist, dass bei dem Streben nach Reichthum die Handlungsweise der Menschen unter dem collateralen Einfluss einer anderen Eigenschaft unserer Natur steht, als in dem Verlangen liegt, die grösste Menge Reichthum mit dem geringsten Aufwand von Arbeit und Selbstverleugnung zu gewinnen, so werden die Schlüsse der Nationalökonomie so lange nicht auf die Erklärung oder Voraussagung von Ereignissen anwendbar sein, als sie nicht durch eine[522] genaue Veranschlagung des durch die andere Ursache ausgeübten Einflusses modificirt sind.«204

Allgemeine Sätze, wie die oben angegebenen, können in einem jeden gegebenen Zustande der Gesellschaft in ausgedehnter Weise praktische Führer sein, wenn auch die modificirenden Einflüsse der verschiedenen Ursachen, welche die Theorie nicht in Rechnung zieht, und die Wirkung der fortwährend stattfindenden allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen vorläufig unbeachtet bleiben. Und obgleich es ein sehr gewöhnlicher Irrthum der Nationalökonomen gewesen ist, aus den Elementen des einen gesellschaftlichen Zustandes Schlüsse zu ziehen und sie auf andere Zustände anzuwenden, in denen viele von diesen Elementen nicht dieselben sind: so ist es doch nicht schwierig, dadurch, dass man die Beweise rückwärts verfolgt und an den geeigneten Stellen das neue Element einführt, denselben allgemeinen Gang des für den einen Fall dienenden Arguments auch den anderen Fällen anzupassen.

Es ist z.B. sehr die Gewohnheit der englischen Nationalökonomen gewesen, die Vertheilung der Producte der Industrie auf eine Voraussetzung hin zu erörtern, die sich kaum irgendwo anders als in England und Schottland verwirklicht findet, nämlich auf die Voraussetzung hin, dass an der Production »drei von einander ganz verschiedene Factoren, Arbeiter, Capitalisten und Grundbesitzer, Antheil haben, und dass denselben gesetzlich und thatsächlich erlaubt ist, auf ihre Arbeit, ihr Capital und ihr Land den Preis zu setzen, den sie dafür bekommen können. Da sich die Schlüsse der Wissenschaft alle auf eine so constituirte Gesellschaft beziehen, so bedürfen sie bei ihrer Anwendung auf eine jede andere Gesellschaft einer Prüfung. Sie sind da nicht anwendbar, wo die Landbesitzer die einzigen Capitalisten und die Arbeiter, wie in Sklavenstaaten, deren Eigenthum sind. Sie sind da nicht anwendbar, wo, wie in Indien, der Staat der fast universale Landbesitzer ist. Sie sind da nicht anwendbar, wo der ackerbautreibende Arbeiter gewöhnlich der Besitzer des Landes selbst und des Capitals ist, wie in Frankreich, oder nur des Capitals, wie in Irland.« Aber obgleich man den Nationalökonomen der jetzigen Zeit mit Recht vorwerfen kann, »dass sie aus vergänglichem Material ein dauerndes[523] Gebäude zu errichten suchen; dass sie die Unwandelbarkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen für ausgemacht ansehen, während viele von diesen Einrichtungen veränderlich oder fortschreitend sind, und dass sie Behauptungen, welche vielleicht nur auf den besonderen Zustand der Gesellschaft, in welcher der Schriftsteller zufällig lebte, anwendbar sind, unter so geringen Beschränkungen aussprechen, als ob sie universale und absolute Wahrheiten wären,« so raubt dies doch diesen Urtheilen nicht ihren Werth, wenn man bei deren Anwendung den gesellschaftlichen Zustand, dem sie entnommen sind, berücksichtigt. Und sogar in Betreff ihrer Unanwendbarkeit auf andere gesellschaftliche Zustände »darf man nicht voraussetzen, die Wissen schaft sei so unvollständig und ungenügend, wie diese Unanwendbarkeit zu beweisen scheint. Obgleich viele von ihren Schlüssen nur local wahr sind, so ist doch ihre Untersuchungsmethode allgemein anwendbar; und so wie ein jeder, der eine bestimmte Anzahl algebraischer Gleichungen gelöst hat, ohne Schwierigkeit alle anderen Gleichungen von derselben Art lösen kann, so ist ein jeder, der mit der Nationalökonomie von England oder sogar von Yorkshire bekannt ist, auch mit der Nationalökonomie aller anderen wirklichen oder möglichen Nationen bekannt, vorausgesetzt, er habe genug gesunden Menschenverstand, um nicht zu erwarten, es könnten dieselben Schlüsse aus veränderlichen Prämissen hervorgehen.« Wer vollkommen mit den Gesetzen bekannt ist, welche bei freier Concurrenz den Pacht, den Zins und den Lohn bestimmen, welche Grundbesitzer, Capitalist und Arbeiter in dem gesellschaftlichen Zustand empfangen, in welchem diese drei Classen vollständig getrennt sind, wird keine Schwierigkeit finden, die sehr verschiedenen Gesetze zu bestimmen, welche die Vertheilung der Producte unter die dabei betheiligten Classen in einem der Zustände von Cultur und Landbesitz, wie sie in dem vorhergehenden Auszug angegeben wurden, reguliren.205

§. 4. Ich möchte hier nicht versuchen zu entscheiden, welche andere hypothetische oder abstracte Wissenschaften ausser der[524] Nationalökonomie aus dem allgemeinen Stoffe der Gesellschaftswissenschaft herauszubilden wären; welche anderen Theile der socialen Erscheinungen in erster Instanz in einer hinlänglich engen und vollständigen Abhängigkeit von einer besonderen Classe von Ursachen stehen, um es bequem zu machen, eine vorläufige Wissenschaft dieser Ursachen zu schaffen; ich verschiebe die Betrachtung der Ursachen, welche durch dieselben oder mit ihnen zusammen wirken, bis zu einer späteren Periode der Untersuchung. Unter diesen separaten Abtheilungen ist indessen eine, welche wir nicht mit Stillschweigen übergehen können, da sie von einem umfassenderen und wichtigeren Charakter ist, als irgend ein anderer von den Zweigen, in welche die Gesellschaftswissenschaft eingetheilt werden könnte. Wie diese, befasst sie sich direct mit der Ursache von nur einer Classe von socialen Thatsachen, aber einer Classe, welche, sei es unmittelbar oder entfernt, den höchsten Einfluss auf die übrigen ausübt. Ich meine die politische Ethologie, wie man sie nennen könnte, oder die Lehre von den Ursachen, welche den einem Volke oder einem Jahrhundert angehörigen Charaktertypus bestimmen. Von allen untergeordneten Zweigen der Gesellschaftswissenschaft ist dieser am vollständigsten in seiner Kindheit. Die Ursachen des Nationalcharakters wer den kaum noch verstanden, und die Wirkung der Institutionen oder gesellschaftlichen Einrichtungen auf den Charakter des Volkes ist im allgemeinen derjenige Theil ihrer Wirkungen, der am wenigsten beachtet und am wenigsten begriffen wird. Auch dürfen wir uns hierüber gar nicht wundern, wenn wir den Kindheitszustand der Wissenschaft der Ethologie selbst betrachten, der Wissenschaft, welcher die Gesetze zu entnehmen sind, von denen die Wahrheiten der politischen Ethologie nur Resultate und Erläuterungen sind.

Einem jeden wird sich indessen bei genauer Betrachtung zeigen, dass die Gesetze des nationalen (oder collectiven) Charakters bei weitem die wichtigste Classe von sociologischen Gesetzen sind. Erstens ist der Charakter, der durch irgend einen Zustand von socialen Umständen gebildet wird, an sich die interessanteste Erscheinung, welche dieser gesellschaftliche Zustand möglicherweise darbieten kann. Zweitens ist er eine Thatsache, die in die Erzeugung aller anderen Erscheinungen bedeutend mit eingeht. Und vor Allem ist der Charakter, d.h. die Meinungen,[525] Gefühle und Gewohnheiten des Volkes, obgleich grossentheils das Resultat von dem ihm vorausgängigen gesellschaftlichen Zustande, zum grossen Theil auch die Ursache des auf ihn folgenden gesellschaftlichen Zustandes; er ist die Kraft, durch welche alle diejenigen von den Umständen der Gesellschaft, welche, wie z.B. Gesetze und Gebräuche, künstlich sind, gänzlich gebildet werden; die Gebräuche werden es augenscheinlich, und nicht weniger gewiss die Gesetze, entweder durch den directen Einfluss der öffentlichen Denkungsart auf die herrschenden Gewalten, oder durch die Wirkung, welche die Beschaffenheit der nationalen Meinung Und des nationalen Gefühls auf die Bestimmung der Regierungsform und die Charakterbildung der Regierenden hat.

Der unvollkommenste Theil derjenigen Zweige der socialen Forschung, welche als besondere Wissenschaften cultivirt worden sind, ist, wie zu erwarten war, die Lehre von der Art und Weise, in welcher ihre Schlüsse durch ethologische Betrachtungen afficirt werden. Als abstracte oder hypothetische Wissenschaften leiden sie unter diesem Mangel nicht, aber er macht sie in ihrer praktischen Anwendung als Zweige einer umfassenden socialen Wissenschaft fehlerhaft. In der Nationalökonomie z.B. werden von englischen Denkern stillschweigend empirische Gesetze der menschlichen Natur angenommen, welche nur für Grossbritannien und die Vereinigten Staaten gültig sind. So wird unter anderm beständig eine Stärke der Concurrenz angenommen, welche als eine allgemeine mercantilische Thatsache in keinem andern Lande der Welt existirt, als in diesen beiden Ländern. Ein englischer Nationalökonom hat, wie alle seine Landsleute, selten gelernt, dass es möglich ist, dass Menschen bei dem Verkaufe ihrer Waaren am Ladentische mehr auf ihre Bequemlichkeit oder ihre Eitelkeit, als auf Geldgewinn bedacht sein können. Wer aber die Gewohnheiten des europäischen Continents kennt, der weiss, welch scheinbar geringfügiges Motiv oft das Verlangen nach Geldgewinn überwiegt, sogar bei Unternehmungen, welche den Geldgewinn unmittelbar zum Zweck haben. Je mehr die Wissenschaft der Ethologie cultivirt wird, und je besser die Verschiedenheiten des individuellen und nationalen Charakters verstanden werden, um so kleiner wird wahrscheinlich die Zahl der Propositionen werden, welche man als universale Principien[526] der menschlichen Natur für hinreichend sicher halten wird, um darauf zu bauen.

Diese Betrachtungen zeigen, dass die Eintheilung der socialen Wissenschaft in Fächer – damit ein jedes Fach separat studirt und seine Schlüsse sodann für die Praxis durch die von den anderen Zweigen gelieferten Modificationen corrigirt werden – zum wenigsten einer wichtigen Beschränkung unterworfen werden muss. Von den socialen Erscheinungen können diejenigen Theile allein, selbst vorläufig, mit Vortheil zum Gegenstand unterschiedener Zweige der Wissenschaft gemacht werden, in welche die Charakterverschiedenheiten verschiedener Nationen oder verschiedener Zeiten nur in einem untergeordneten Grade als influirende Ursachen eingehen. Diejenigen Erscheinungen dagegen, mit denen sich die Einflüsse des ethologischen Zustandes des Volkes bei jedem Schritte vermischen (so dass der Zusammenhang von Ursache und Wirkung nicht einmal in roher Weise bezeichnet werden kann, ohne diese Einflüsse in Betracht zu ziehen), könnten nicht mit Vortheil oder sogar nicht ohne grossen Nachtheil unabhängig von der politischen Ethologie und daher auch nicht unabhängig von allen Umständen, welche die Eigenschaften eines Volkes beeinflussen, behandelt werden. Aus diesem Grunde (und noch aus anderen sich sogleich zeigenden Gründen) kann es keine getrennte Staatswissenschaft geben; indem das stattfindet, was sich mehr als alles andere mit den Eigenschaften des besonderen Volkes oder des besonderen Jahrhunderts zugleich als Ursache und Wirkung vermischt. Alle Fragen in Beziehung auf das Bestreben von Regierungsformen müssen einen Theil der allgemeinen Gesellschaftswissenschaft, nicht eines separaten Zweiges derselben ausmachen.

Diese allgemeine Gesellschaftswissenschaft, als unterschieden von den getrennten Zweigen der Wissenschaft (von denen ein jeder seine Schlüsse nur bedingungsweise und als der Oberherrschaft der Gesetze der allgemeinen Wissenschaft unterworfen behauptet), ist nun zu charakterisiren. Wie sogleich gezeigt werden wird, kann hier nur durch die umgekehrte deductive Methode etwas wahrhaft Wissenschaftliches erreicht werden. Ehe wir aber den Gegenstand derjenigen sociologischen Betrachtungen verlassen, deren Verfahren in der directen Deduction besteht, müssen wir prüfen, in welchem Verhältniss dieselben zu dem unumgänglich nöthigen[527] Elemente aller deductiven Wissenschaften stehen, nämlich zu der Verification durch specifische Erfahrung – zu der Vergleichung der theoretischen Schlüsse mit den Resultaten der Beobachtung.

§. 5. Wir haben gesehen, dass in den meisten deductiven Wissenschaften und in der Ethologie selbst, welche das unmittelbare Fundament der Gesellschaftswissenschaft ist, die beobachteten Thatsachen einer Vorbereitung unterworfen werden, um sie geschickt zu machen, rasch und genau mit einander verglichen zu werden; zuweilen auch, um mit den Schlüssen der Theorie überhaupt verglichen zu werden. Diese vorbereitende Behandlung besteht darin, dass man allgemeine Sätze sucht, welche in conciser Weise ausdrücken, was einer grossen Classe von beobachteten Thatsachen gemein ist, und diese Sätze nennt man die empirischen Gesetze der Erscheinungen. Wir haben daher zu untersuchen, ob ein ähnlicher vorbereitender Process auch mit den Thatsachen der Gesellschaftswissenschaft vorgenommen werden kann; ob es in der Geschichte und in der Statistik empirische Gesetze giebt.

In der Statistik können empirische Gesetze begreiflicherweise zuweilen ermittelt werden, und die Ermittelung derselben bildet einen wichtigen Theil jenes Systems von indirecter Beobachtung, auf das wir in Betreff der Data der deductiven Wissenschaft oft bauen müssen. Das Verfahren der Wissenschaft besteht in dem Folgern von Wirkungen aus deren Ursachen; wir können aber die Ursachen oft nur vermittelst ihrer Wirkungen beobachten. In solchen Fällen kann die deductive Wissenschaft aus Mangel an den nöthigen Daten die Wirkungen nicht voraussagen; sie kann bestimmen, welche Ursachen eine gegebene Wirkung hervorbringen können, nicht aber, wie häufig oder in welchen Quantitäten jene Ursachen existiren. Eine vor mir liegende Zeitung giebt hiervon ein schlagendes Beispiel. Von einem der officiellen Curatoren von Concursmassen wird eine Darlegung gegeben, worin gezeigt ist, in wie vielen von den Fallimenten, welche er von Amts wegen zu untersuchen hatte, die Verluste durch schlechte Geschäftsführung jeder Art und in wie vielen durch unvermeidliches Unglück verursacht worden sind. Als Resultat ergiebt sich, dass die Anzahl der durch übele Geschäftsführung verursachten Fallimenten die aus allen anderen Ursachen entstandenen bei weitem übertrifft. Nur die specifische[528] Erfahrung konnte einen genügenden Grund für einen solchen Schluss geben. Derartige empirische Gesetze (die immer nur annähernde Generalisationen sind) aus der directen Beobachtung abzuleiten, ist daher ein wichtiger Theil der sociologischen Forschung.

Man muss das experimentelle Verfahren hier nicht als einen deutlichen Weg zur Wahrheit, sondern als das (zufällig allein oder am besten anwendbare) Mittel betrachten, um die nöthigen Data für die deductive Wissenschaft zu erhalten. Wenn die unmittelbaren Ursachen der socialen Thatsachen der directen Beobachtung nicht zugänglich sind, so giebt uns das empirische Gesetz der Wirkungen auch das empirische Gesetz der Ursachen (und dies ist alles, was wir in diesem Falle erlangen können). Aber diese unmittelbaren Uraachen hängen von entfernten Ursachen ab, und das durch diese directe Beobachtungsweise erhaltene empirische Gesetz ist in seiner Anwendung auf unbeobachtete Thatsachen nur so lange zuverlässig, als man nicht Grund zu glauben hat, es sei in irgend einer der entfernten Ursachen, von denen die unmittelbaren Ursachen abhängig sind, eine Veränderung vorgegangen. Wenn wir daher auch die besten statistischen Generalisationen benutzen, um zu folgern (obgleich nur muthmaasslich), dass dasselbe empirische Gesetz in einem jeden neuen Falle gültig sein wird, so ist es doch nöthig, dass wir mit den entfernteren Ursachen wohl bekannt seien, damit wir vermeiden, das empirische Gesetz auf Fälle anzuwenden, welche sich in den Umständen, von denen die Wahrheit des Gesetzes zuletzt abhängig ist, unterscheiden. So muss nothwendigerweise auch da, wo aus der specifischen Beobachtung abgeleitete Schlüsse für praktische Folgerungen in neuen Fällen verwerthbar sind, die deductive Wissenschaft über dem ganzen Process Wacht halten; sie sollte beständig berücksichtigt und ihre Zustimmung sollte bei einer jeden Folgerung eingeholt werden.

Dasselbe gilt von allen Generalisationen, welche sich auf die Geschichte gründen lassen. Nicht allein dass es solche Generalisationen giebt, sondern es wird auch sogleich gezeigt werden, dass die allgemeine Gesellschaftswissenschaft, welche die Gesetze der Succession und der Coexistenz der grossen Thatsachen untersucht, die den Zustand der Gesellschaft und der Civilisation zu irgend einer Zeit ausmachen, in keiner anderen Weise verfahren kann, als[529] dass sie solche Generalisationen ausführt – und die dann durch Verbindung mit den psychologischen und ethologischen Gesetzen, von denen sie wirklich abhängen müssen, zu bestätigen sind.

§. 6. Aber (indem diese Frage für den geeigneten Ort vorbehalten bleibt) in denjenigen specielleren Untersuchungen, welche den Gegenstand der getrennten Zweige der Gesellschaftswissenschaft bilden, ist dieser doppelte logische Process und diese gegenseitige Verification nicht möglich; die specifische Erfahrung bietet hier nichts, was auf empirische Gesetze hinausliefe. Dies ist besonders da der Fall, wo der Zweck ist, die Wirkung irgend einer socialen Ursache unter einer grossen Anzahl von gleichzeitig wirkenden Ursachen zu bestimmen, z.B. die Wirkung der Korngesetze, oder die Wirkung eines Prohibitivsystems im allgemeinen. Obgleich es theoretisch vollkommen gewiss sein mag, welche Art Wirkungen Korngesetze hervorbringen müssen, und in welcher allgemeinen Richtung sich ihr Einfluss auf das industrielle Gedeihen zu erkennen geben wird: so ist doch ihre Wirkung nothwendig durch ähnliche oder durch entgegengesetzte Wirkungen anderer influirender Agentien so verdeckt, dass die specifische Erfahrung höchstens nur zeigen kann, dass in dem Durchschnitte von einer grossen Anzahl von Fällen diejenigen Fälle, wo Korngesetze existirten, die Wirkung in einem höheren Grade zeigten, als die Fälle, wo keine existirten. Nun kann aber die Anzahl der Fälle, welche erforderlich ist, um alle Combinationen der verschiedenen Einfluss ausübenden Umstände zu umfassen und so einen merklichen Durchschnitt darzubieten, niemals erhalten werden. Nicht allein, dass wir niemals die Thatsachen von so vielen Fällen mit der hinreichenden Glaubwürdigkeit erfahren können, sondern es bietet sie auch die Welt innerhalb der Grenzen des gegebenen Zustandes der Gesellschaft und der Civilisation, welchen diese Untersuchungen immer voraussetzen, nicht in genügender Zahl dar. Da wir auf diese Weise keine vorausgängigen empirischen Generalisationen besitzen, um die Schlüsse der Theorie damit zu vergleichen, so bleibt als die einzige directe Verificationsweise die Vergleichung dieser Schlüsse mit dem Resultate eines einzigen Experiments oder Falles. Aber die Schwierigkeit ist hier gleich gross; denn um eine Theorie durch das Experiment zu verificiren, müssen die[530] Umstände des Experiments genau dieselben sein, wie die in der Theorie betrachteten. Aber bei socialen Erscheinungen sind die Umstände von nicht zwei Fällen genau gleich. Ein Versuch mit Korngesetzen in einem anderen Lande oder bei einer früheren Generation würde einen Schluss in Beziehung auf dieses Land und auf diese Generation sehr wenig bestätigen. Auf diese Art trifft es sich in den meisten Fällen, dass der für die Bestätigung der Voraussagungen der Theorie wirklich geeignete individuelle Fall gerade der Fall ist, für den die Voraussagungen gemacht worden sind, und die Bestätigung kommt zu spät, um als ein practischer Wegweiser dienen zu können.

Obgleich nun die directe Verification unmöglich ist, so giebt es doch eine indirecte Verification, die kaum von geringerem Werthe und immer ausführbar ist. Der in Betreff eines individuellen Falles gezogene Schluss kann nur durch diesen Fall direct verificirt werden; er wird aber indirect verificirt, nämlich durch die Bestätigung anderer Schlüsse, die aus denselben Gesetzen in anderen individuellen Fällen gezogen worden sind. Die Erfahrung welche zu spät kommt, um den besonderen Satz zu verificiren, auf den sie sich bezieht, kommt nicht zu spät, um die allgemeine Zulänglichkeit der Theorie bestätigen zu helfen. Bis zu weichem Grade die Wissenschaft einen sicheren Boden darbietet, um vorauszusagen (und folglich, um practisch zu behandeln), was noch nicht geschehen ist, wird dadurch erprobt, dass wir zusehen, bis zu welchem Grade sie uns erlaubt hätte vorauszusagen, was sich wirklich zugetragen hat. Ehe wir unserer Theorie von dem Einflusse einer besonderen Ursache bei einem gegebenen Zustande von Umständen völlig trauen können, müssen wir im Stande sein, den bestehenden Zustand desjenigen ganzen Theils der socialen Erscheinungen zu erklären, den diese Ursache zu beeinflussen strebt. Wann wir z.B. in der Nationalökonomie unsere Betrachtungen auf die Voraussagung oder die Leitung der Erscheinungen irgend eines Landes anwenden wollten, so müssten wir im Stande sein, alle mercantilen oder industriellen Thatsachen von einem allgemeinen Charakter, die zu dem gegenwärtigen Zustande dieses Landes gehören, zu erklären; wir müssten genügende Ursachen nachweisen können, um sie alle zu erklären, oder wir müssten guten Grund haben anzunehmen, diese Ursachen hätten wirklich existirt. Wenn wir dies nicht[531] können, so ist es ein Beweis, dass die Thatsachen, welche hätten in Rechnung gezogen werden sollen, uns entweder nicht vollständig bekannt waren, oder dass wir, obgleich mit den Thatsachen bekannt, nicht Herr einer hinlänglich vollkommenen Theorie sind, am ihre Folgen nachweisen zu können. Bei dem gegenwärtigen Zustande unseres Wissens sind wir in beiden Fällen nicht völlig competent, für dieses Land theoretische oder practische Schlüsse zu ziehen. In gleicher Weise müssten wir, wenn wir versuchen wollten, die Wirkung zu beurtheilen, welche irgend eine politische Einrichtung haben würde, vorausgesetzt sie könnte in einem gegebenen Lande eingeführt werden, im Stande sein zu zeigen, dass der bestehende Zustand der practischen Regierung dieses Landes und von allem, was davon abhängt, so wie auch der besondere Charakter und die Bestreben des Volkes und sein Zustand in Beziehung auf die verschiedenen Elemente der gesellschaftlichen Wohlfahrt der Art sind, wie sie die Institutionen, unter denen dasselbe gelebt hat, in Verbindung mit den anderen Umständen seiner Natur oder Lage hervorzubringen geeignet waren.

Kurz, um zu beweisen, dass uns unsere Wissenschaft und unsere Kenntniss des besonderen Falles befähigen, die Zukunft vorauszusagen, müssen wir zeigen, dass sie uns in den Stand gesetzt haben würden, die Gegenwart und die Vergangenheit vorauszusagen. Wenn etwas vorhanden ist, was wir nicht voraussagen konnten, so constituirt dies eine rückständige Erscheinung, welche zu ihrer Erklärung weiteres Stadium verlangt; und wir müssen entweder unter den Umständen des besonderen Falles suchen, bis wir einen finden, der den Principien unserer bestehenden Theorie zufolge die unerklärte Erscheinung erklärt, oder wir müssen umgekehrt die Erklärung in einer Ausdehnung und Verbesserung der Theorie selbst suchen.[532]

Quelle:
John Stuart Mill: System der deduktiven und inductiven Logik. Band 2, Braunschweig 31868, S. 512-533.
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