1. Apologie und Krito.

[4] Es darf hier ganz davon abgesehen werden, ob die stark panegyrische, trotz ausgesprochener Verachtung rednerischer[4] Künste rhetorisch genug gehaltene Darstellung, welche die »Verteidigung des SOKRATES« von ihrem Helden liefert, dessen geschichtliche Persönlichkeit in jedem Zug getreu wiedergibt1. Denn es genügt für unsere Absicht, daß dies jedenfalls die Gestalt des SOKRATES ist, wie sie in der Seele ihres begeisterten Schülers, der im Begriff steht, sein Nachfolger zu werden (39 CD), sich gezeichnet hat, und die Gestalt seiner Lehre, in der sie die Voraussetzung seiner eigenen philosophischen Entwicklung bildet.

Nach dieser Darstellung wollte SOKRATES schlechterdings in nichts als Wissender gelten, außer in dem Einen, daß er eben dies, sein Nichtwissen, wisse. Er bekennt vor allem sein gänzliches Nichtwissen gerade über den zentralen Gegenstand seiner Nachforschung, über die sittlichen Begriffe; er glaubt ein Wissen darüber sogar dem Menschen überhaupt unerreichbar. Dagegen behauptet er zu besitzen und fordert unbedingt von jedem das einzige Wissen, ob man weiß oder nicht. Es ist schimpflichste Unwissenheit, sich dünken zu wissen, was man in der Tat nicht weiß (29 A).

SOKRATES sagt demnach nicht: ich weiß nichts von den und den Gegenständen, z.B. was »am Himmel und unter der Erde« ist (19 B, 23 D), aber wohl von dem, was in unserem Bereich; wie XENOPHON sich des Meisters Meinung zurechtgelegt hat; auch nicht: ich weiß allgemein nichts von den Zusammenhängen der äußeren Natur, wohl aber vom Sittlichen, von »menschlicher und bürgerlicher Tugend« (20 B); sondern rundweg erklärt er von dieser wie jener Wissenschaft nichts zu verstehen, also auch niemanden darüber etwas lehren, ihn darin »bessern« d.h. fördern, oder Menschen »erziehen« zu können. Es mag das wohl eine schöne Kunst sein, erklärt er, aber »ich verstehe sie nicht« (20 C); wer das von mir behauptet, daß ich dergleichen beanspruche, »der lügt es und sagt es zu meiner Verleumdung« (20 E, vgl. 33 A). Ausdrücklich weist er das vielverbreitete Mißverständnis zurück, als ob sein Nichtwissen bloß ironisches Vorgeben sei, und er in der Tat selber glaube und auch von Anderen dafür angesehen sein wolle zu wissen, worüber er sich unwissend stelle.

Wie soll man diese seltsame Wissenschaft des Nichtwissens sich deuten? SCHLEIERMACHER hat sie überzeugend aufgeklärt[5] durch die Unterscheidung zwischen Form und Materie des Wissens. Die ganz neue Besinnung auf die Form des Wissens mußte, in zunächst ausschließlich kritischer Anwendung auf die Prüfung des vorliegenden, geltenden Wissens, zu dem rein negativen Ergebnis führen, daß dies geltende Wissen ein wahres nicht sei, weil es die formalen Erfordernisse eines solchen nicht erfüllt. Und über diese bloß kritische Anwendung ist SOKRATES, nach PLATOS Darstellung, nicht hinausgegangen. Daher ging seine Philosophie gänzlich auf in Kritik: im Suchen, Prüfen, Oberführen, im Sichbesinnen und Erwecken zur Selbstbesinnung. Ihre ausschließliche Methode war Unterredung, Frage und Antwort, regelmäßig mit negativem Ausgang. Vom Nahen, Alltäglichen, vermeintlich Gewußten hebt die Untersuchung an, aber nur um von da zurück zu fragen nach dem allgemeinen, gesetzmäßigen Grund, nach den logischen Voraussetzungen der auf Grund der Erfahrung zuversichtlich, aber ohne logische Besinnung abgegebenen Urteile. Es erweist sich stets, daß man von diesen nicht befriedigende Rechenschaft zu geben vermag, sondern sich über sie alsbald in Widerspruch mit sich selbst verstrickt findet. Das sokratische Nichtwissen besagt also Nichtverstehen des empirisch zwar Bewußten, das aber, nach dem nun erreichten strengeren Begriff des Wissens, nicht gewußt heißen darf.

Immerhin erfährt das sokratische Nichtwissen mehr als eine Einschränkung. Erstens wird ein positives Wissen im empirisch-technischen Bereich von SOKRATES so wenig geleugnet, daß seine Anerkennung vielmehr die Voraussetzung seiner ganzen Reflexion ist. Er hatte beobachtet, daß die technische Richtigkeit in allem und jedem, wovon es nur eine Technik gibt – und er verstand diesen Begriff so weit, daß er die theoretische Kunde eines jeden bestimmt begrenzten Tuns umfaßt – auf Einem allein beruht, nämlich dem Verstehen. Das Gesetz der Technik, daß das Können sich im Wissen gründet (uns besagt ja das Verstehen beides in Einem), übertrug er, als Forderung, auf das gesamte menschliche Tun, insbesondere auf die allgemein und eigentümlich »menschliche« d.i. sittliche »Tugend«. Dabei aber stieß er auf einen sonderbaren Kontrast. Im ganzen Gebiete der Technik ist das Verstehen (d.h. Wissen und also Können) erreichbar, übt daher der Verstand eine unbestrittene Herrschaft; im Sittlichen, wozu auch das Politische gehört, im Gebiete nicht des Machens oder bloß äußeren Tuns,[6] sondern des Handelns, sollte es erst recht so sein, denn es betrifft am allernächsten »uns selbst«, unser praktisches Bewußtsein, und nicht bloß »das Unsrige« d.h. was uns äußerlich bleibt, für ans bloß den Wert des Mittels zu anderweitigem Zweck hat; es sollte also vor allem der Herrschaft des Bewußtseins unterstehen. Aber es ist offenbar da nicht herrschend, denn die Prüfung ergibt, daß keiner, wie hohen Ruf überlegenen Verstehens er auch genieße, ernstlich befragt, von den Gründen seines Urteilens und Handelns auf diesem Felde befriedigende Rechenschaft zu geben vermag. Jede Kunsttätigkeit, jedes gemeinste Handwerk oder Geschäft hat seine bestimmt definierbare Tüchtigkeit, Tugend oder Güte (aretê, durchaus als Abstraktum zu agathon, gut d.h. tüchtig zu verstehen); so auch der Mensch seinem leiblichen Wesen nach: Gesundheit; für jedes dieser Gebiete gibt es den »Sachverständigen«, an den ein jeder, der selber der Sache nicht kundig ist, sich wenden kann; jedes von diesen Dingen ist demgemäß auch lehr- und lernbar; in keinem hält sich leicht einer für sachkundig oder wird von andern dafür gehalten, der es nicht ist, denn die sichere Probe ist das Werk, das man als Leistung seiner Kunst aufweisen kann, oder der Lehrerfolg, der wiederum in den Leistungen der Schüler sich zweifellos bekundet. Nur gerade in dem Wichtigsten von allem, der eigentlich menschlichen, nämlich sittlichen »Tugend«, vermag keiner sich unanfechtbar als sachverständig zu beweisen. Was ist der Grund dieses seltsam verschiedenen Verhaltens? Ersichtlich kein andrer als dieser: Im Technischen handelt es sich nur um die Tauglichkeit des Mittels zum schon vorausgesetzten Zweck, im Sittlichen um die Begründung der Zwecksetzung selbst, um das Prinzip des Handelns. Nach dem Prinzip zurückzufragen, das war die große, neue Sache, die SOKRATES anbahnte. Ohne das Prinzip steht aber auch die technische Kunde wie in der Luft. Dies Wissen ist, um es vorgreifend in dem Terminus der entwickelten Wissenschaftslehre PLATOS auszudrücken, nur ein hypothetisches, ein Wissen aus Voraussetzungen, von denen selber nicht ferner Rechenschaft gegeben oder innerhalb der fraglichen Erwägung überhaupt verlangt wird. Solch bedingtes Wissen ist ohne Zweifel auf dem Grunde der Erfahrung möglich und wird erreicht. Aber es bildet nicht den eigentlichen Fragepunkt für SOKRATES, der vielmehr auf eine radikale Begründung des menschlichen Wollens und Handelns ausging. Zu solcher konnte ihm das bloß technische Verstehen,[7] so sehr er es in seinem Bereich hochhielt, nicht taugen. Daher dient ihm die »Induktion«, die vom empirisch Bekannten und Unstreitigen ausgeht, niemals zur Lösung der aufgeworfenen Frage, sondern stets nur als Mittel zu einer fortschreitenden Vertiefung der Fragestellung selbst, die dann sehr bald den Punkt erreicht, wo keine Induktion mehr Antwort zu geben vermag. Es ist der seltsamste Mißverstand, daß SOKRATES auf dem Wege der Induktion die Definition finden gelehrt habe. Wenn das Zeugnis PLATOS irgend gelten soll, lehrte er sie suchen und nicht finden. Das war seine Wissenschaft des Nichtwissens.

Dabei wird nun aber niemals etwa das zweifelhaft, daß die Tüchtigkeit des menschlichen Handelns, ebenso wie die einer jeden Technik, auf Begriff beruhen, daß sie vom Wissen, vom Verstehen schlechthin abhängen müsse; daß auf dem Gebiete des Handelns (der Zweckwahl) nicht anders als auf dem des Machens, Vollführens (der Mittelwahl) das Gesetz regieren muß. Besinnung, Bewußtsein muß hier wie dort im Menschen die Herrschaft führen. Sein Tun ist gut, sofern es dem Gesetz, der ratio (dem Logos, Krito 46 B, 48 C etc., gleichbedeutend: »die Wahrheit selbst«, 48A) gemäß ist, anders nicht. Zwar weiß SOKRATES dies geforderte Gesetz auf keine Weise näher zu bestimmen, insofern ist sein Bekenntnis des Nichtwissens ganz streng zu nehmen. Er gelangt über das lediglich Formale, daß Tugend im Begriff, im Gesetz bestehen müsse, nicht hinaus, nicht als ob er dadurch schon befriedigt wäre, sondern weil er hier in der Tat nicht weiter zu kommen weiß. Aber auch so liegt darin eine doppelte Positivität. Erstens das Formale des Erkennens gelangte auf diesem Wege zuerst zu reiner Ablösung. Daher hat die Entwicklung des logischen Bewußtseins, d.h. des Wissenschaftsbewußtseins, seiner Form nach, von SOKRATES den für immer entscheidenden Anstoß erhalten. Man muß die Trias SOKRATES-PLATO-ARISTOTELES würdigen als die Geburt des Geistes und der Form abendländischer Wissenschaft. Aber zweitens, auch bloß als Ethik angesehen, ist die Philosophie des SOKRATES wahrlich nicht ohne positiven Gehalt und Wirkungskraft geblieben. Zwar, was zuletzt das Gute sei, weiß SOKRATES uns nicht zu sagen; aber, daß es unbedingt des Menschen Heil ist, daß gegen die bedingungslose Forderung der Gesetzlichkeit keine Klugheitserwägung aufkommen darf, daß diesem Einen alles andre, das »Leben« mit allem, was es bieten mag, auch die Hoffnung eines andern[8] Lebens, willig zu opfern ist, das tritt in der Apologie und dem zugehörigen kleinen Dialog Krito erhaben genug, und wahrlich nicht bloß rednerisch wirksam, heraus. Dieser Gegensatz ist dem SOKRATES bestimmt bewußt als der des Seelischen und Leiblichen, des Selbst und dessen, was nur des Selbst (ta heautou) ist. Wir erkennen darin den Hinweis auf das praktische Selbstbewußtsein als den Quell des Wissens, in dem das Sittliche beruhe. Aufs Bewußtsein kommt alles an: auf Besinnung (phronêsis), Wahrheit (alêtheia) und, damit gleichbedeutend (Ap. 29E), auf die Seele, daß sie so gut als möglich sei. »Seele« wird hier fast identisch mit Begriff und Wahrheit, weil mit Bewußtsein. Die Einheit des praktischen Bewußtseins zu wahren, daran hängt alles für den Menschen (Ap. a. a. O.; Krito 47 E; Prot. 313 A; Men. 88 C), darum hat man zu allererst und zu allermeist zu sorgen. Das heißt um »sich« sorgen mehr als um »das Seine«. In diesem Punkte ist SOKRATES so positiv wie nur denkbar. Aber diese Positivität ist allerdings nur die einer Forderung, und darum bleibt SOKRATES dabei, daß sie ein Wissen, eine abgeschlossene Erkenntnis nicht sei.

Deutlich schimmert durch die platonische Darstellung der überempirische Charakter des Sittlichen durch. Und darin liegt endlich der Zusammenhang der sokratischen Ethik mit einer höchst gereinigten, ausschließlich auf sittlichen Grund gestellten Religion. »Ich glaube an Götter wie keiner meiner Ankläger«, darf SOKRATES erklären. Nämlich er glaubt an die Gottheit als den Ausdruck für die Realität des Sittlichen, für die warm und stark von ihm ausgesprochene Überzeugung, daß dem Guten niemand und nichts schaden kann weder in diesem Leben noch in einem andern, wenn es eines gibt: Gott wird den Gerechten nicht verlassen. Eine positivere, eine praktisch wirksamere Ethik als diese gibt es nicht. Der Zusammenhang aber des sittlichen Endziels mit diesem menschlichen Leben und seinen irdischen Aufgaben braucht dabei nicht verloren zu gehen. Stand einmal das Ziel, nämlich das Grundgesetz der Gesetzlichkeit selbst, unerschütterlich fest, so mußte sich im beständigen Hinblick auf dies ewige Ziel auch das irdische Tun des Menschen berichtigen. Ein vielseitig ausgebildetes System technischer Kenntnisse stand zu Gebote, jede wohlgegründet auf ihr eigentümliches Gesetz, dadurch zugleich in ihre bestimmten Schranken eingeschlossen; somit alle wenigstens formal geeint durch den gleichen, allbeherrschenden Gesichtspunkt des Begriffs,[9] des Gesetzes selbst. Es bedurfte nur der bestimmteren Herausarbeitung jener letzten, Richtung gebenden Einsicht: der ausdrücklichen Erhöhung jenes selbigen Gesichtspunktes des Gesetzlichen von der Stufe der bloßen Mittelwahl zu der der Zweckwahl, um nach dieser obersten Norm das ganze menschliche Tun und Treiben zu organisieren. Ganz diesen Weg nimmt die Ethik bei PLATO, und so wird deren völlig positive Wendung verständlich als gerade Fortsetzung und innere Fortwirkung der Sokratik, als die sie jedenfalls PLATO selbst bis zu seinen spätesten aufs ethische Gebiet bezüglichen Untersuchungen bewußt geblieben ist.

Es ist wohl möglich, daß auf diese scharf umrissene Zeichnung des Gesamtbildes des SOKRATES bereits eigentümlich platonische Motive in gewissem Maße eingeflossen sind; naturgemäß wird PLATO in SOKRATES die Züge bevorzugt haben, die ihm die zugänglichsten waren, in ihm am kräftigsten weiterarbeiteten. Aber jedenfalls mit Grund ist PLATO sich bewußt, daß er diese ganze Art, die Probleme zu sehen, insbesondere diese engste Zusammenfassung der sittlichen mit der logischen Frage, dem Meister verdankte. Aus ihr aber versteht sich nunmehr seine eigene Entwicklung in den zunächst folgenden, vorzugsweise bei den ethischen Fragen und bei der bestimmten, sokratischen Behandlungsart dieser Fragen stehen bleibenden Schriften vom Protagoras bis zum Gorgias. In der immer tiefer dringenden Untersuchung des Begriffs derjenigen Erkenntnis, in der, nach SOKRATES, die Tugend bestehen sollte, werden wir den eigentümlich platonischen Erkenntnisbegriff sich Schritt um Schritt entfalten sehen.

1

Meine Meinung darüber habe ich ausgesprochen in den Philosophischen Monatsheften, Band 30, S. 337 ff., bes. 348.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 4-10.
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