1. Der Welturheber und die Ideen (pag. 27 D – 30 B).

[356] Das ist die erste die Prinzipienlehre berührende Frage, die uns im Timaeus entgegentritt: Wer oder was ist unter dem Demiurgen zu verstehen? ARISTOTELES wirft die Frage halb spottend auf, deutlich in dem Sinne, daß das Verhältnis des werktätigen Prinzips (to ergazomenon) zu den Ideen bei PLATO unklar geblieben sei (Metaph. I 9, 991 a 22). Für den Philebus hat sich uns diese Frage schon beantwortet; und auf den Staatsmann glaubten wir die Antwort ohne weiteres übertragen zu dürfen. Es bleibt zu prüfen übrig, ob dieselbe Lösung auch angesichts des Timaeus standhält, oder etwa eine andre hier noch gefunden werden muß. An sich wäre es keineswegs undenkbar, daß PLATO seit dem Philebus seine Meinung über[356] diesen Punkt geändert hätte, zumal wir über den zeitlichen Abstand beider Schriften nichts Sicheres wissen. Wir folgen, wie wir zu tun pflegen, genau dem Text.

Das Sein, dem alles Werden fremd, das Werdende, das niemals ist; jenes Sache des Denkens und sicherer Begründung, dieses nur der Meinung und nicht nach dem Grunde fragenden Wahrnehmung zugänglich, wird, wie noch zuletzt im Philebus (59), in aller Schroffheit gegeneinandergestellt, für das Werden aber dann, ebenfalls in naher Übereinstimmung mit der letzteren Schrift (26 E, vgl. Soph. 265 B, Politic. 270 A) ein »Grund« gefordert. Die Welt ist geworden, weil sinnlich und körperlich (so auch Staatsm. 269 D E), also muß sie eine Ursache haben, einen Schöpfer und Vater, den auszufinden freilich schwer, wenn man ihn aber gefunden, allen (verständlich genug) mitzuteilen unmöglich ist. Es genügt jedoch für jetzt die einzige Voraussetzung, daß er gut war (29 E, vgl. A, arisitos tôn aitiôn), also seiner Schöpfung auch alles mögliche Gute zukommen lassen wollte; oder, im Grunde gleichbedeutend: daß er bei Erschaffung der Welt auf die ewigen Urbilder hinblickte und sie diesen nachbildete; was die tatsächliche Schönheit und Güte der Welt (diese beiden Begriffe werden, wiederum genau nach dem Philebus, gänzlich in Eins gefaßt), zu beweisen genügt (28 A – 29 A). Diese Schönheit und Güte aber besteht (wie wir es schon garnicht anders erwarten) in gesetzmäßiger Ordnung. Die Schöpfung der Welt ist identisch mit der Einführung der Gesetzesordnung in die vordem ungeordnete Bewegung (30 A; Staatsm. 273 B – D). Ordnung ist ja besser als Unordnung. Ferner bedeutet die Güte, im Grunde wiederum gleichsinnig, die Vernünftigkeit der Welt. Vernunft aber setzt Beseelung voraus. Darum schuf Gott das All, indem er dem Körper die Seele, der Seele die Vernunft einsetzte. Somit ist die Welt ein beseeltes, vernunftbegabtes Lebendiges (30 AB). Auch das stimmt selbst bis zur Berufung auf die Weisen der Vorzeit, die es allzeit so angenommen haben (29 E), mit dem Philebus (28-30; 28 D), nicht minder mit dem Sophisten (hinsichtlich des Schlusses von der Vernunft auf Leben und Seele, 249 A) und dem Staatsmann (269 D) überein.

Jene Berufung zwar, wie der durchgängige Gebrauch der erzählenden Form (die Welt habe einmal, zu bestimmter Zeit also, einen Anfang genommen, 28 B), macht uns sofort aufmerksam, daß diese ganze genetische Darstellung, zufolge der[357] allgemeinen Erklärung 29 B, als unumstößliche wissenschaftliche Wahrheit nicht angesehen sein will. Sondern als solche kann nur gelten, was aus der reinen Prinzipienlehre in dieser Darstellung vorausgesetzt und in die genetische Form nur umgegossen ist. Dies aber ist nichts andres als was im Philebus in streng dialektischem Beweisgang begründet wurde, nämlich daß alles Gute und Schöne wie alles bestimmte, konkrete Sein und »Werden zum Sein«, desgleichen alle Vernunft, alle Seele, alles Leben insbesondere des Kosmos auf einem und demselben letzten Prinzip, dem der Bestimmung des Unbestimmten, kurz des Gesetzes beruht. Dieses letzte Prinzip ist hier schon fast zur Genüge damit angedeutet, daß in die sonst ungeordnete, gesetzlose Bewegung (kinoumenon plêmmelôs – das melos ist das Gesetz -) Ordnung eintreten mußte. Denn Ordnung und Unordnung (taxis und ataxia) verhalten sich wie Bestimmung und Unbestimmtheit (peras und apeiria); die Gleichsetzung wurde direkt ausgesprochen (Phil. 26 B). Insoweit bleibt hier nichts unsicherer Deutung überlassen, sondern der Sinn der Darstellung ist tatsächlich gegeben durch die doch unabweisbare Vergleichung mit den sonstigen Schriften PLATOS, vorzugsweise dem Philebus.

Damit ist aber auch die Frage schon beantwortet, was unter dem Welturheber zu verstehen sei. Die Ursache, das Schönste und Beste, die werktätige Vernunft, der Vater und Schöpfer, Gott, kann von dem Prinzip der Bestimmung, welches seinerseits sich deckt, nicht mit den Ideen, wohl aber mit der Idee, nicht in dem Sinne getrennt werden, daß es, als ein abseits der Ideen Existierendes, eine konkrete Substanz, den Ideen selbst, auf die nur hinblickend es die Welt bildete, gegenüberstehen sollte; daß die Rolle des Verursachenden, die im Phaedo der Idee selbst zugeteilt wurde, dieser abgenommen und auf eine von ihr unabhängig, vor ihr existierende Ursubstanz übertragen sein sollte. Kaum die aristotelischen Begriffe würden gestatten, in diesem Sinne die »bewegende« von der »formalen« Ursache, die Kraft vom Gesetz loszureißen, so daß die Ideen Ursachen nur wären im Sinne von Formen oder Gesetzen, logischen »Grundlagen«, die davon geschiedene göttliche Vernunft aber im Sinne einer wirkenden Substanz. Sondern die Idee der Idee, das Gesetz der Gesetzlichkeit überhaupt oder der Bestimmung des Unbestimmten verwirklicht sich und wirkt damit das Werden nicht anders als, indem die Ideen, d.i. die besonderen Bestimmtheiten in das Unbestimmte eintreten. Dieser[358] Eintritt ist das »Werden zum Sein«, er bewirkt das Geschehen, bewirkt es im Sinne der Begründung; so wie alle Wissenschaft ein andres Wirkendes weder findet noch in ihrer gereiften Form sucht als das Gesetz. Weder wurde die Sonderung der Ursache vom Gesetz im Philebus bewiesen durch die Unterscheidung des Prinzips des Grundes von dem der Bestimmung, da doch für diesen »Grund« ein andrer Begriff als der der Bestimmung des Unbestimmten nicht zu finden war; noch folgt sie im Timaeus aus der Gegenüberstellung des Bildners der Welt und der Muster, auf die er hinsah. Die Idee (der Gesetzlichkeit überhaupt) verwirklicht sich und bewirkt damit das Werden und konkrete Sein nach Maßgabe der Ideen, d.i. der besonderen Gesetze, welche in einem längst bekannten, sinnfälligen, der anschaulichen Vorführung der Schöpfung daher besonders angemessenen Gleichnis als die Musterbilder bezeichnet werden, nach denen das Geschehen in der Welt sich gestalte.

Zu einer andern Deutung ist ein sicherer Anhalt weder im Timaeus noch anderswo zu finden. Auch im Phaedo, dessen Vergleichung ebenfalls nahe liegt, konnte die Unterscheidung zwischen der Begründung durch die Vernunft oder das Gute und der durch die Idee als rein logische Grundlage schon deshalb nicht als ausschließender Gegensatz verstanden werden, weil unter den Beispielen für die Idee obenan das Gute selbst stand. Es konnte auch dort nicht etwa die Meinung sein: Hätte man die Begründung durch das Gute, so könnte man der Idee entraten. Sondern das Gute selbst ist Ursache als Idee, aber als die Idee der Ideen; als Grundlage, aber als Grundlage der Grundlagen. Mit ihr allein würde man eben darum zu gar nichts kommen. Ist sie nicht mehr die Idee der Ideen, so ist sie gar nichts mehr. Sie braucht also unerläßlich die Spezifikation in die Ideen, sonst leistet sie als Ursache nichts. Ganz in diesem Sinne braucht der Weltbildner die Musterbilder, ohne die, scheint es, alle seine Güte und Schönheit nicht zulangen würde, der Welt etwas von Güte und Schönheit mitzuteilen.

Nach diesem allen vermag ich in der Weltschöpfungslehre des Timaeus keine wirkliche Abweichung zu erkennen von der Gesetzesbedeutung der Idee und ihrer schlechthin überragenden, kein ursprünglicheres Prinzip über, auch kein gleich ursprüngliches neben sich duldenden Geltung: der des Logischen schlechtweg. Der einzige spürbare Unterschied gegen die früheren Schriften ist der der Einkleidung. Die Form des Mythus (29 D)[359] gestattete und forderte namentlich einen weitergehenden Gebrauch der Personifikation, als ihn PLATO sich auch sonst gestattet hat. Über diese Freiheit, welche die Darstellung sich nimmt, haben wir aber die fast bis zur Ermüdung durch die ganze Schrift sich wiederholenden, unumwundenen Erklärungen PLATOS selbst. Wenn also je, so ist hier die mythische Einkleidung nicht eine Vermutung, die man annehmen kann oder nicht, sondern eine literarische Tatsache, mit der die Auslegung zu rechnen verpflichtet ist.

Auch der bestimmtere Ausdruck des Urbilds, nach dem der Kosmos gestaltet ist: das »intelligible Lebendige« (noêton zôon, unter dieser Benennung, neben ho esti zôon, 39 E; der Sache nach 30 C – 31 A) hat sein Fundament im Philebus. Dort wurde bewiesen, daß der Mensch und alle lebenden Wesen sowohl die Stoffe ihres Körpers mit allen ihren Funktionen (dynamis, 29 B C), als namentlich, was sie von Leben, Seele und Vernunft besitzen, aus dem All entnehmen. Im Urbild des Kosmos nun wird der Inbegriff alles dessen, was irgend einem Lebendigen als solchem zukommt, nicht der bloße unbestimmte Allgemeinbegriff des Lebendigen überhaupt, sondern der Verein der gesetzlichen Grundlagen aller fundamentalen Lebensbedingungen gedacht; und so ist darin sowohl zu den Elementen des Körpers als zu den Hauptklassen lebender Wesen, welche den Elementen entsprechend angenommen werden, der ideelle Grund gelegt. Das intelligible Lebendige deckt sich daher mit der »intelligibeln Welt«, welche die Späteren nur als deutlicheren Ausdruck an seine Stelle gesetzt haben. Die Welt ist, nicht ein, sondern das Lebendige, welches alles Lebende in sich schließt; also muß auch ihr ewiges Urbild Urbild des Lebendigen sein, in dem Sinne, daß es die Urbilder aller fundamentalen Lebensfunktionen, und damit auch die möglichen Gattungen der lebenden Wesen, in sich schließt.24 Insbesondere wird die Einzigkeit der Welt durch diese notwendige begriffliche Einheit des Lebens begründet (31 A B).

Bezüglich der nun folgenden Ableitung der vier Elemente, dann der Kugelgestalt und kreisenden Bewegung des Weltalls ist nur kurz an Phil. 29 und Staatsm. 269 E zu erinnern. Dagegen führt die Darstellung des Ursprungs der Beseelung der Welt[360] auf die Frage nach den Prinzipien zurück, über die wir hier neue, freilich dunkel gehaltene Andeutungen finden.

24

Vgl. JAKOB HOROVITZ, Untersuchungen über PHILONS und PLATONS Lehre von der Weltschöpfung, Marburg, 1900.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 356-361.
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