3. Die sogenannte Materie oder der Raum (pag. 48 E – 52 D).

[366] Es waren zu Anfang nur zwei Gattungen (genê oder eidê) aufgestellt worden: die ewigen Urbilder, die Ideen, und deren Nachbildungen im Gebiete des Werdenden, Sinnlichen. Jetzt ist noch ein Drittes einzuführen (48 E). Es ist das, was nach ARISTOTELES Vorgang die platonische Materie genannt zu werden pflegt; PLATO selbst nennt es vielmehr Raum. – Es kann verwundern, daß die Gattung des Grundes hier ganz in Wegfall gekommen ist. Das bestätigt aber nur, was sich oben schon ergab: daß der Grund, nämlich die Vernunft oder das Gute, nicht außerhalb jener zwei Gattungen zu suchen, sondern mit der höchsten Idee, der des Guten, vielmehr Eins ist.

Die jetzt neu eingeführte dritte Gattung wird vorläufig bezeichnet als das, was alles Werden aufnimmt und gleichsam nährt (49 A). Was dies besage, soll deutlicher hervorgehn aus einer Kritik der geltenden Annahmen über die Grundstoffe, nämlich die empedokleischen Elemente, Feuer, Luft, Wasser, Erde. Diese hält man für Anfänge, gleichsam Buchstaben des Alls (48 B). Aber es sind nicht die wahren, ersten Anfänge, nicht die Buchstaben, sondern bereits Silben. Denn sie beharren nicht, sondern gehen durch Auflösung in ihre Teile und Wiedervereinigung solcher, durch Verdünnung und Verdichtung, in einem übrigens festen, gesetzmäßigen Kreislauf des Werdens (49 C), in einander über. Sie sind also gar nicht streng genommen dies, als was wir sie benennen, denn sie sind ja, wie ihre Veränderlichkeit beweist, unter Umständen dasselbe auch wiederum nicht. Also bezeichnen sie überhaupt kein Dieses (beharrendes Subjekt, tode), sondern nur solches und solches (wechselnde Prädikate eines andern Subjekts, toiouton). Sie entziehen sich, sie halten nicht Stand irgend welcher Aussage (wie »dies«, »das« usw.), die sie als Beharrliches bezeichnen würde. Ein solches Beharrliches ist dagegen das, worein diese bloßen Qualitäten eintreten und woraus sie wieder entschwinden (49 E, vgl. 52 A): die alle Körper (das heißt hier: Grundqualitäten der Körper) aufnehmende Natur (dechomenê, vgl. das dechomenon oder echon des Phaedo, 103 D E, oben S. 160). Diese bleibt wirklich[366] immer identisch, sie tritt niemals aus ihrer Funktion (dynamis) heraus, die darin besteht, alle Form (morphê, wie ebenfalls im Phaedo, 103 E, 104 D) aufzunehmen, während ihr selbst keine von allen eignet Sie läßt sich somit vergleichen der bildsamen Masse etwa des Wachses, welches keine der Gestalten, die darin eingehen und es bald so, bald so gestalten, an sich hat, sondern nur bald in dieser, bald in einer andern Gestalt erscheint. Diese ein- und wieder austretenden Gestalten sind nichts andres als jene »Nachahmungen« der Urbilder (Ideen), die sich auf eine schwer auszudrückende, seltsame Weise (auf die er noch zurückzukommen verspricht, aber leider nicht zurückkommt), darin gleichsam einprägen (50 C).

Es sind also die drei ursprünglichen Gattungen: das was wird, das worin es wird, und das, nach dessen Vorbild das was wird, sich gestaltet. Dieses kann dem Vater verglichen werden, das Aufnehmende der Mutter, so ist das Werdende selbst der Sprößling (ekgonon, vgl. Phileb. 26 D). Um aber gleich gut jede Gestaltung aufnehmen zu können, muß das Aufnehmende selbst aller der Gestaltungen bar sein, die es aufnehmen soll (amorphon hapasôn tôn ideôn – ganz so wechselt morphê mit idea im Phaedo, 103 E, 104 B D). Denn, hätte es an sich eine dieser Gestaltungen, so könnte es die dieser entgegengesetzte nicht rein aufnehmen. Also muß es selbst ganz ohne Gestalt sein (ektos eidôn, 50 E). Es muß also nicht Erde, Wasser, Luft oder Feuer oder irgend etwas sein, was aus diesen oder woraus sie geworden sind, sondern ein Unsichtbares, Gestaltloses, welches aber alle Gestaltungen (Ideen) annimmt oder, nach dem alten Ausdruck, ihrer teilhaft wird (51 A).

Es ist demnach etwas das Feuer usw. an sich selbst (auto eph' heautou, auta kath' hauta, 51 BC, vorher to noêton), und es verhält sich nicht etwa so, daß dem, was wir sehen oder sonst mit körperlichen Organen so und so wahrnehmen, eine Wahrheit zukäme, dem entsprechend, wie wir es wahrnehmen, und dies die alleinige Wahrheit, jenes dagegen, das wir als ein Sein für den bloßen Versland behaupteten, nur ein Wort wäre. Sondern unverwischbar bleibt die große Grenze gezogen (horos rhistheis megas) zwischen Vernunfteinsicht und bloßem, ob auch wahrhaftem Schein; jene Gegenstand der Lehre, dieser der Überredung; jene gestützt auf wahre Begründung, dieser grundlos, jene unwandelbar überzeugend, während man sich diesen wechselnd bald so, bald anders einreden läßt. Also ist Eines die immer[367] identisch bleibende, ungewordene und unvergängliche Form, die nichts in sich aufnehmen oder selber in etwas Andres übergehen kann, unsichtbar, überhaupt unwahrnehmbar, nur dem vernünftigen Denken ersichtlich; ein Zweites das diesem gleichbenannte und gleichende Sinnliche: geworden, immer bewegt, in einen Ort eintretend und aus ihm wieder verschwindend, durch Wahrnehmung und auf diese gerichtetes Urteil zu erfassen; das Dritte der Raum (chôra), der selbst immer ist, der Vergänglichkeit nicht unterliegt, dagegen den Sitz (hedra, beide Ausdrücke auch Phil. 24 D) allem darbietet, das entsteht; nicht sinnlich wahrzunehmen, sondern nur durch eine Art illegitimen Vernunftschluß erreichbar, kaum verläßlich; worauf wir wie im Traum blickend behaupten, es müsse notwendig alles, was ist, irgendwo, in einem Ort, einen Raum einnehmend sein, was dagegen weder an der Erde noch am Himmel sei, das sei überhaupt nicht. Besonders die nicht traumhafte wahre Wesenheit (die Ideen) sind wir infolge eines solchen Traumes nicht imstande wach zu unterscheiden, und auszusagen, was die Wahrheit ist, nämlich, daß das bloße Abbild allerdings – da doch das (Substrat) selbst, woran es entsteht, nicht ihm (bleibend) gehört, sondern es, als bloße Erscheinung immer eines andern (Substrats), sich von Stelle zu Stelle bewegt – mithin notwendig in einem Andern (dem Raume) entsteht, und nur so doch irgendwie einen Halt am Sein gewinnt (ousias hamôs ge pôs antechomenên), andernfalls überhaupt nichts wäre; dagegen dem wahrhaft Seienden die der Strenge nach wahre Begründung Zeugnis gibt, daß, solange von zwei Bestimmungen die eine dies, die andre ein Andres ist, unmöglich die eine in die andre hineinkommen und so zugleich Eins und dasselbe und wiederum Zweierlei sein kann (52 C; das heißt, zum Beispiel, Luft kann nicht, als Luft, zugleich Wasser, Wasser nicht Luft sein, sondern nur ein Identisches = x, welches an sich keins von beiden ist, kann diese sich gegeneinander kontradiktorisch verhaltenden Bestimmungen wechselnd annehmen, wie eingehend im Phaedo bewiesen war. Also sind jene reinen Qualitäten an sich nicht irgendwo, sondern sie sind nur schlechtweg, im Reiche des bloßen Gedankens). Abschließend werden dann die drei Gattungen kurz benannt als Sein, Werden, Raum.

Nicht Weniges bedarf hier der Aufhellung. Zunächst könnte man sich wundern, daß von Urbild und Abbild in den alten, zu einer dinglichen Auffassung so stark verführenden Metaphern[368] geredet wird, fast als ständen wir noch in jenen ersten Anfängen der Entwicklung PLATOS, wo die Ideenlehre das mythologische Gewand überhaupt noch nicht abgestreift hatte. Da gerade der Timaeus mit seinem gewaltigen, Gott und Welt umspannenden Thema und seiner erhabenen, in religiöse Weihe männlichsten Stils getauchten Sprache auf die Folgezeit eine unwiderstehliche, nie veraltende Wirkung geübt hat, so ist diese Rückkehr zum uranfänglichen Metaphernspiel, das an die künstlerische Herkunft der Idee nur zu stark gemahnt, für die ganze Auffassung der platonischen Grundlehre verhängnisvoll geworden. Ein Meister wie ARISTOTELES hat in ihrer Kritik fast nur den Timaeus vor Augen, und ihm scheint gar nicht der Gedanke zu kommen, daß das Urbild mit seinen Abbildern oder »Nachahmungen« überhaupt anders als dinglich gemeint sein könne. Es mag daher Manchem diese letzte Probe auf unsre rein methodische Auffassung der Idee von allen die gefährlichste dünken.

Und doch ist nichts einfacher und für jeden, der unvoreingenommen beide Möglichkeiten zu prüfen willens ist, überzeugender, als daß der ausdrücklich mythische Charakter dieser ganzen kosmogonischen Dichtung zum Gebrauch der Metaphern auch dann geradezu zwang, wenn sie für PLATO selbst gar nichts mehr als Metaphern waren und für den Leser nichts mehr sein sollten. Durfte er von den Metaphern nicht umso unbefangener Gebrauch machen, wenn er doch schon im Phaedo und dann wieder und wieder den nüchternen Sinn, der den Gleichnissen zu Grunde liegt, entwickelt, wenn er zum Überfluß auch den noch nüchterneren Unsinn, den ihr buchstäbliches Festhalten zur Konsequenz haben würde, im Parmenides beleuchtet, und damit gegen diese falsche Konsequenz sich, man sollte denken, für alle Zeit hinreichend verwahrt hatte? Sollte also sich beweisen lassen, daß die Gesetzesbedeutung der Idee sich auch im Timaeus nicht bloß festhalten, oder gar mit List und Zwang in ihn hineinlesen läßt, sondern, sobald man sie auch nur als möglich in Rechnung zieht, sich allenthalben gerade in dieser Schrift bestätigt findet und manches, was sonst hoffnungslos dunkel bliebe, mit einem Schlage aufhellt, so könnte ja wohl nur eine zur Unbilligkeit einmal entschlossene Interpretation sie auch hier anzunehmen bloß deshalb sich weigern, weil der Gebrauch der von ARISTOTELES buchstäblich genommenen Metaphern allerdings nicht vermieden worden ist. Dieser Beweis aber läßt sich führen.[369]

Soll unsre schlicht logische Auffassung der Idee Recht behalten, so müssen die Urbilder einfach bedeuten: die Prädikate wissenschaftlicher Urteile, die reinen, sei es ursprünglichen oder aus solchen rein deduzierten Denkbestimmungen, A, B, und so fort; die Nachbilder: die bestimmten Prädikationen von diesem und diesem, die Bestimmung also des zu Bestimmenden = x zum A, B und so fort; das »Dritte aus beiden«, der Sprößling aus Vater und Mutter würde demnach nichts Mystischeres besagen als das wissenschaftliche Urteil »x ist A«; zum Beispiel: dies hier, dies räumlich so und so Bestimmte und Abgegrenzte, ist Feuer, das heißt, ist zu belegen mit den Prädikaten, die in diesem Qualitäts- (nicht Ding-)begriff vereint gedacht werden (so 51 B to pepyrômenon meros). Nun erinnere man sich, daß im Sophisten eben dies der einfache Sinn der Buchstaben und Silben des Seins war: die Bestandteile des Urteils einerseits, nämlich die Bestimmungen des Denkens, andrerseits die Verknüpfung unter diesen, welche das Urteil selbst ausmacht. Man verstehe den Gebrauch desselben durchsichtigen Vergleichs der Buchstaben und Silben im Timaeus einfach als Rückweis auf den Sophisten, so hat man ganz direkt den rein logischen Sinn des Urbilds und der Abbilder, denn als erläuterndes Beispiel des Urbilds und seiner Nachahmungen wurde (an der soeben angeführten Stelle) gebraucht: das Feuer »an sich« und seine jeweiligen Darstellungen innerhalb der Erfahrung, allemal in bestimmter Ortsbeziehung und räumlicher Begrenzung.

Und zwar bleibt, wie vorandeutend schon im Parmenides, in eingehender und offener Darlegung aber im Philebus, so auch hier die Betrachtung nicht ausschließlich haften an den Denkbestimmungen selbst, als den Prädikaten wissenschaftlicher Urteile, sondern auch das Subjekt, dem sie beizulegen, das zu Bestimmende = x wird einer eignen und tiefen Untersuchung unterzogen. Es verbleibt nicht in völliger Unbestimmtheit, sondern es wird ihm gerade hier eine eigne, sehr positive Bestimmtheit, genauer Bestimmungsmöglichkeit zugeteilt, nicht gleichwertig zwar, aber sehr sich nähernd der Bestimmtheit der reinen Prädikate des Denkens, überlegen jedenfalls den immer nur vorübergehend und beziehentlich gültigen, oft mit den kontradiktorischen sich vertauschenden empirischen Aussagen: x ist A, ist B, und so fort. Identische Erhaltung sollte das Sein begründen; gerade sie wird aber jetzt ausgesagt von dem zu bestimmenden »Diesen«. Die Prädikate fliehen von Stelle zu Stelle,[370] halten nirgends stand; die Stellen selbst dagegen, die Bezugspunkte der empirischen Urteile, sie bleiben fest; sie sind beharrlich (monima), sie sind zu Grunde zu legen, weil das Urteil, um überhaupt, auch als empirisches, möglich zu sein, der Identität des Bezugspunkts (Subjekts) bedarf.

Nur das kann fraglich erscheinen, ob damit dem zu Bestimmenden nicht schon etwas zu viel von Bestimmtheit beigelegt, ob es, in dieser Bestimmtheit einer logischen Grundlage, nicht gar selbst zur Idee wird. Soll es die Ortsbestimmtheit bedeuten: ist denn diese anders möglich als durch die reinen Denkbestimmungen der Geometrie? So weit sind wir über die Unbestimmtheit des bloßen x jetzt schon hinaus, daß es scheinen kann, als seien wir bereits auf der Gegenseite, bei der vollen, begrifflichen Bestimmtheit angelangt. Wohl deswegen sind die in andrer Absicht so klärenden Begriffe des Philebus hier nicht mehr verwendet, weil es wichtiger schien, diese ganz positive Bedeutung des Raumes, als dessen, was den Begriff des Diesen, desselber beharrenden Substrats alles Werdens, ausmacht, zu bekräftigen, als, den bloßen Gegensatz der Bestimmtheit der reinen Denksetzung, die Unbestimmtheit und nur abstrakte Bestimmungsmöglichkeit (ohne Angabe, auf welches positive Moment diese Möglichkeit an einem angeblich ganz Bestimmungslosen sich gründet) nochmals hervorzukehren. Es sollte damit das Werden selbst, bei voller und erneuter Betonung seines Unterschieds vom Sein, zur höchsten Positivität, deren es fähig ist, erst erhoben werden, es sollte, nach jenem unübertrefflich bezeichnenden Ausdruck, den Halt am Sein gewinnen. Die bloße Festigkeit des Sinnes der Prädikation reicht dazu noch nicht aus; diese Identität geht nicht die Erscheinung als solche an, sondern definiert gerade ihren Gegensatz, das reine Sein der Idee. Die Erscheinung würde deshalb nicht weniger (wie es hier so anschaulich beschrieben wird, 52 C) ungewiß von Stelle zu Stelle irren, an keiner sicher haftend, da sie ihr ja nicht dauernd zugehört. Sie könnte den Halt am Sein nicht gewinnen, wenn nicht zum wenigsten die Stellen selbst fest blieben, keinem Werden noch Vergehen, keinem Wechsel noch Wandel unterworfen.

Aber nochmals: scheint nicht so diesem Substrat, dem Raum, geradezu die volle Seinsart der Ideen zuzufallen, mit denen es so entscheidende Merkmale gemein hat wie das Immersein, die Unfähigkeit des Werdens, Wechselns und Vergehens?[371] Scheint es nicht ganz und gar ein Intelligibles zu werden, da es ein Sichtbares, überhaupt Sinnliches nicht sein soll?

Aber das war ja von Anfang an die These: es gibt nicht nur das Sinnliche und das Intelligible, sondern es gibt noch ein Drittes, das, seinem Charakter nach ein Mittleres zwischen beiden, allein imstande ist, ihren sonst schlechthin ausschließenden Gegensatz zu vermitteln. Dieses also, wird behauptet, sei der Raum. Selbst dem Werden, dem Vergehen und der Veränderung entzogen, dient er doch nur dem Werden, Vergehen und der Veränderung zum »Sitz« oder Substrat, verliert also freilich jede Bedeutung da, wo es kein Werden, Wechseln und Vergehen mehr gibt. Also darf er nicht ins Ideenreich völlig hineingerechnet werden, er hat seinen logischen Ort nicht innerhalb seiner. Er könnte auch aus den reinen Prädikaten des Denkens, bloß als solchen, niemals hergeleitet werden, sondern allein aus ihrer Beziehung auf das x der Erfahrung. Er drückt andrerseits nicht dieses x, bloß als solches, sondern dieses wiederum umgekehrt nur nach der Möglichkeit seiner Beziehung auf die reinen Prädikate des Denkens, nach seiner Bestimmbarkeit durch die letzteren aus.

Und so kann und muß er wohl seine eigne Charakteristik beiden zugleich entnehmen. Er kommt den reinen Denksetzungen täuschend nahe, und behält doch etwas, was aus dem bloßen reinen Denken nicht zu verstehen wäre. Seine Bestimmtheit und Beharrlichkeit allerdings ist nur aus den Gesetzlichkeiten des reinen Denkens verständlich, die Gesetze des Raumes können nicht anders als von reinen Denkgesetzen abgeleitet sein. Aber doch wird er selbst, der Raum, mit diesen seinen gesetzmäßigen Bestimmungen, in einer Weise gesetzt, die nicht mehr in der logischen Kraft und Gerechtsame des Denkens allein gegründet ist, sondern erst aus der notwendigen Beziehung des Denkens auf die Aufgabe der Erfahrung: die Bestimmung des in sich Unbestimmten, ins Unendliche Bestimmbaren, aber mit keiner Bestimmung je zu Erschöpfenden verständlich wird. Das Stattfinden des Raumes, und damit das Stattfinden irgend welcher Prädikation überhaupt, die, außer den Prädikaten selbst, noch der bestimmten Bezogenheit auf ein hier und jetzt zu Bestimmendes = x bedarf, dies ist es, was im bloßen reinen Denken noch nicht liegt, was nur schlechthin gesetzt werden kann: hypothetisch, nicht im Sinne einer reinen Denkgrundlage, die bis aufs Letzte bloß logisch begründet wäre,[372] sondern im Sinne der willkürlichen Setzung eines Anfangs, von dem aus alles Weitere logisch bestimmt sein mag, aber dennoch außerlogisch bleibt in Hinsicht des letzten Ausgangspunkts, auf den alles Andre, sei es noch so logisch, sich zurückbezieht.

So vieler Worte bedurfte es, um das einigermaßen deutlich zu machen, was PLATO, seinen Prämissen entsprechend, bei dem illegitimen Logismus, auf dem der Raum beruhe, sich gedacht haben muß. Denn so freilich, ohne eine Erklärung, wie sie hier gegeben worden, ist es nichts als ein hartes Oxymoron, da es doch nichts gibt, was Echtheit der Erkenntnis begründen könnte, als den Logismus, die reine Deduktion. Und nicht mehr Klarheit würde, für sich betrachtet, das Merkmal des »kaum« Verläßlichen geben. Denn wenn aus reinen Denkbestimmungen herleitbar, scheint es, müßte der Raum ganz so verläßlich sein wie die Idee; wenn aber nicht, ganz so unzuverlässig wie die Erscheinung. Aber eben das sagt uns jetzt, dieses »kaum«: das Prinzip des Raumes kommt der Verläßlichkeit reiner Denksetzungen unbegrenzt nahe, doch ohne sie zu erreichen. Er ist logisch, bis auf einen letzten Rest, der ins rein Logische nicht aufgeht. Er ist Grundlage, aber nur des Erscheinens, nicht des reinen Seins. So gibt er dem Werden einen »Halt« am Sein, ohne es ganz zum Sein erheben zu können, ja ohne selbst in strengster Bedeutung am Sein teilzuhaben. Denn es bleibt immer die Grenzenlosigkeit der Relationen des Raumes, die eine fortschreitende Begrenzung nicht ausschließt, aber sie nur zuläßt von irgend einer willkürlichen, nicht rein logisch begründbaren Anfangssetzung aus.

Es hätte nahe gelegen, den Raum einfach aufzustellen als die Grundlage der mathematischen Erkenntnis; nicht zwar als rein arithmetischer, denn diese muß sich wohl aus reinen Begriffen herleiten lassen; sondern in der konkreteren Form der geometrischen Erkenntnis. Ist Geometrie (nach dem Staat) Wissenschaft eines Immerseienden, so ist dieses kein andres als der (durch dasselbe Merkmal hier, 52 A, charakterisierte) Raum. Und wenn dieser einer logischen Behandlung doch fähig sein soll, welche andre könnte dies sein als die Mathematik des Raumes, die Geometrie? Der Charakter des (bloß) Hypothetischen aber, der der Geometrie im Staat zugeschrieben wurde, erhielte so erst seine volle Aufklärung, da ja sich herausstellte,[373] daß der geometrische Raum, obgleich in sich völlig logisch konstituiert, doch hinsichtlich seiner Setzung überhaupt, als Substrat des Sinnlichen, nicht rein logisch ist. In der Tat ist der Raum im Timaeus kein andrer als der reine geometrische Raum, jedoch als Grundlage, als ermöglichendes Prinzip des Erscheinens gedacht. Das bestätigt besonders die Ableitung der vier Elemente, die aus dem qualitätlosen Raum heraus gestaltet sind »nach Formen und Zahlen« (eidesi te kai arithmois, 53 B), das heißt nach geometrischen und arithmetischen, allgemein also mathematischen Bestimmungen, welche PLATO (anders als DEMOKRIT) dann auch rein mathematisch, nämlich aus den Eigenschaften der regulären Körper, zu deduzieren wagt.

Zu demselben Schluß führt die Vergleichung des Philebus. Dort wurde der Begriff des Raumes eingeführt im engsten Zusammenhang mit dem des bestimmten Quantums, der Gleichheit, der Zahl- und Maßbestimmtheit, also in durchgängiger Beziehung auf die mathematischen Grundlagen der Erkenntnis des Sinnlichen. Er vertritt dort geradezu das Prinzip der Bestimmbarkeit des Sinnlichen, als ihrem wesentlichen Merkmal nach mathematischer, da nur die mathematische Bestimmung, wie ja im Philebus fort und fort eingeschärft wird, wahre, exakte Bestimmung ist.

Nicht minder stellt die Beziehung zum Parmenides sich her durch den Gebrauch des dort zuerst eingeführten Terminus onkos. Zugleich liegt darin unverkennbar der Hinweis auf DEMOKRIT. Bei diesem sind (nach ARISTOTELES, de gen. et corr. I 8) die Atome – die auch Ideen, Gestalten, und auch das Diese (tode) d.i. Bestimmte, im Unterschied vom leeren Raum als dem Unbestimmten (apeiron) heißen – »unsichtbar wegen der Kleinheit der Volumina« (aorata dia smikrotêta tôn onkôn), denn die Wahrnehmung hat stets ein Minimum, welches aber dem mathematischen Denken keine Schranke setzt. Buchstäblich so heißt es hier von den Urbestandteilen der Körper, die sich aus dem in sich unbestimmten Raum durch die regulären Flächen nach Gestalt und Zahl abteilen: daß sie einzeln wegen ihrer Kleinheit für uns unsichtbar sind und nur, wenn ihrer viele zusammengehäuft sind, ihre Volumina uns sichtbar werden ( tous onkous autôn orasthai, 56 C). Durch die Bestimmtheit der Gestalt sind die materiellen Quanta (onkoi) deutlich geschieden vom bloßen Raum, nicht anders als die demokriteischen Atome. Auch diese unterscheiden sich vom leeren, d.i. unbestimmten[374] Raum durch nichts als die Bestimmtheit des »Diesen«, nämlich die Gestaltbestimmtheit, und doch werden sie um dieses Unterschieds willen ihm gegenübergestellt als das Etwas dem Nichts, das Sein dem Nichtsein, welches Nichtsein oder Nichts aber gleichwohl sei, nämlich als unentbehrliches Substrat für das »in geltender Bedeutung« allein Seiende (Wirkliche), die Körper. Wie nahe liegt diesem höchst eigenartigen Sein eines Nichts, eines Unbestimmten, das »kaum Verläßliche« des Raumes nach PLATO, und der fast logische, aber doch nur illegitim logische Charakter, den er ihm beilegt.

Diese nahe Berührung PLATOS mit DEMOKRIT, die auch dem ARISTOTELES auffiel (an genannter Stelle, 325 b 25) ist umso bemerkenswerter, da PLATO sonst gerade im Timaeus (in der Ablehnung des Leeren, 58 A, 79 B, 80 C, sowie der unendlichen Welten, 55 C) sehr bestimmt gegen den Atomismus Stellung nimmt. Allerdings trifft auch beide gleich sehr der Vorwurf, daß ein dynamisches Prinzip ihnen abgeht, daß die bloße geometrische Abgrenzung den Körper ausmachen soll; für welche Abgrenzung DEMOKRIT überhaupt keinen, PLATO wenigstens keinen andern Grund anzugeben weiß, als den der – Schönheit der regulären Gestalten. Auf diese Weise mangelt dem Volumelement des Körpers ein Prinzip der Größenbestimmtheit, so deutlich die Bestimmtheit des materiellen Quantums als Desiderat erkannt ist. Das Hinausgehen über die Wahrnehmungsschwelle führt zunächst nur auf unendliche Teilbarkeit, der gegenüber das Unteilbare, wie bei DEMOKRIT, bloß als Postulat, ohne erkennbaren logischen Grund, warum die Teilung nicht weitergeht, auftritt. Vollends fehlt es an einem Prinzip der Gesetzlichkeit der Bewegung, obwohl auch eine solche als Desiderat äußerst nahe liegt, nachdem, den Voraussetzungen gemäß, etwas andres als ein Stellenwechsel dynamischer, wiederum rein mathematisch zu definierender Bestimmtheiten im Raume (vgl. oben S. 160 u. 163) in der Natur überhaupt nicht zu denken ist. Die einzige wissenschaftlich brauchbare Andeutung nach dieser Seite ist die jenes Kreislaufs, in welchem die Grundgestalten der Körper in einander übergehn und sich aus einander wiedererzeugen sollen. Alles Weitere hängt ganz und gar an der pythagorisierenden Konstruktion des Weltbaus, für die vielmehr ästhetische als logische Prinzipien geltend gemacht werden, und die dem entsprechend auch, mit sich häufenden und steigernden Ausdrücken des Vorbehalts, als bloße Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten beurteilt sein wollen.[375]

So unfertig aber und in der weiteren Ausgestaltung sogar bewußt willkürlich diese Theorie der Materie, zumal an den Bedürfnissen heutiger Wissenschaft gemessen, sich darstellt, in ihrer Grundtendenz bleibt sie der seit dem Parmenides eingeschlagenen Richtung des platonischen Denkens auf Grundlegung der Erfahrungswissenschaft und zwar nach mathematischen Prinzipien treu. Sogar nirgends nähert sich bei PLATO die Sinnenwelt, die Welt des Werdens einer Seinsbedeutung in so positiver und konkreter Form wie hier durch die Einführung des Raumes als eines festen, beharrenden Stellensystems, an welchem der Wechsel der Prädikate selbst bestimmbar wird und so den »Halt am Sein« gewinnt. Diese Grundlegung aber ist logisch durch und durch, sie fußt auf nichts als den gesetzmäßigen Bedingungen des Urteilens, auf den Bedingungen der Bestimmtheit der Beziehung der Prädikate des Denkens auf das x der Erfahrung. Die Gesetzesbedeutung der Idee, und zwar jetzt in ihrer unaufheblichen Korrelation zum problematischen Gegenstande der Erfahrung, gibt den Schlüssel des Verständnisses auch für diese seit ARISTOTELES wohl am hartnäckigsten mißverstandene Schrift.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 366-376.
Lizenz:

Buchempfehlung

Auerbach, Berthold

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

Die zentralen Themen des zwischen 1842 und 1861 entstandenen Erzählzyklus sind auf anschauliche Konstellationen zugespitze Konflikte in der idyllischen Harmonie des einfachen Landlebens. Auerbachs Dorfgeschichten sind schon bei Erscheinen ein großer Erfolg und finden zahlreiche Nachahmungen.

554 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon