Viertes Kapitel
Das absolut Größte wird nur als unbegreiflich erkannt. Mit ihm coincidirt das absolut Kleinste

[8] Das einfach und absolut Größte erfassen wir, da es zu groß ist, als daß es von uns begriffen werden könnte, weil es die unendliche Wahrheit ist, nicht anders, denn als unbegreiflich (non aliter quam incomprehensibiliter attingimus). Denn da es nicht von der Natur der Dinge ist, welche Ausschreitungen zulassen, so geht es über alles das hinaus, was wir begreifen können. Was wir nämlich durch Sinne, Verstand (ratione) oder Vernunft (intellectu) erfassen, ist unter sich gegenseitig so verschieden, daß keine präcise Gleichheit stattfindet. Die größte Gleichheit, die von nichts verschieden ist, geht somit über allen Begriff.

Da das absolut Größte alles Das ist, was sein kann, so ist es ganz und gar Wirklichkeit (in actu). Wie es nicht größer sein kann, so auch aus demselben Grunde nicht kleiner, da es alles Das ist, was sein kann. Das Kleinste ist, was nicht mehr kleiner sein kann. Da das Größte eben das ist, so ist klar, daß das Größte und Kleinste coincidiren. Dies wird dir deutlicher, wenn du beide Begriffe auf das Gebiet der Quantität herüberträgst. Die größte Quantität ist die am meisten (maxime) große, die kleinste – die am meisten kleine. Denke nun die Quantität hinweg, so bleibt das Größte, der Superlativ, in beiden gleich ... Gegensätze kommen daher nur im Gebiete des Concreten vor (oppositiones igitur his tantum excedens admittunt atque excessum, et his differenter conveniunt, maximo absoluto nequaquam), nicht im absolut Größten, es ist über allem Gegensatze. Es ist eben deßhalb über aller Bejahung und Verneinung, Alles, was es nach unseren Begriffen ist, ist es eben so, als daß es dasselbe auch nicht ist (omne id, quod concipitur esse, non magis est, quam non est) und umgekehrt, es ist in der Weise das Einzelne (hoc), daß es zugleich Alles ist, und in der Weise Alles, daß es nichts von Allem ist, und in der Weise am meisten Dieses, daß es dieses auch am wenigsten ist. Sage ich: Gott, die absolute Größe, ist das Licht, so heißt dies nichts Anderes, als: Gott ist am meisten (maxime) Licht, er, der am wenigsten (minime) Licht ist. Das absolut Größte wäre nicht alles Mögliche in Wirklichkeit, wenn es nicht unendlich wäre, der Begriff (terminus) von Allem, aber durch nichts von Allem zu begreifen (terminabilis), wie ich im Folgenden mit Gottes Hülfe zeigen werde. Das geht über unsern Verstand, der Contradictorisches auf logischem Wege (via rationis) in seinem (dem contradictorischen) Prinzipe nicht verbinden kann;[8] denn wir stehen auf dem Boden Dessen, was uns die Betrachtung der Natur offenbart, die, weit von der unendlichen Kraft abstehend, ihre unendlichen contradictorischen Gegensätze nicht vereinigen kann.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 8-9.
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