Sechstes Kapitel
Ueber den Organismus (de complicatione) und die Stufen des concreten Universums

[47] Wir haben gesehen, daß das Universum oder die Welt Eines sei, aber eine Einheit in Vielheit. Ist die absolute Einheit die erste, so ist die des Universums die zweite. Da nun die zweite Einheit (wie in dem Buche über die Muthmaßungen gezeigt werden wird) die des Zehners (denaria) ist und zehn Prädicamente in sich begreift, so entfaltet das Eine Universum die erste absolute Einheit in der concreten Form des Zehners (denaria contractione). Im Zehner ist Alles inbegriffen, weil es keine Zahl über ihn hinaus gibt. Wie nun der Zehner die Wurzel des Quadrats – Hundert – und des Cubus – Tausend ist, so ist die Einheit des Universums die Wurzel, aus der die quadratische Einheit als die dritte und die cubische als die vierte und die letzte hervorgeht. So ergeben sich uns drei universelle Einheiten, die stufenmäßig zum particularen Sein herabsteigen, in dem sie concret werden, um actu dieses selbst zu sein. Die erste absolute Einheit umfaßt Alles in absoluter, die erste in concreter Weise; allein die Ordnung bringt es mit sich, daß die absolute Einheit die erste concrete in sich zu fassen scheint, um mittelst ihr alles Andere zu umfassen. Die erste concrete Einheit scheint die zweite concrete und mittelst ihr die dritte zu umfassen, um mittelst ihr in das Gebiet des Particularen herab zu kommen. So sehen wir, wie das Universum in jedem particularen Sein in drei Stufen sich concentrirt (contrahitur). Das Universum ist demnach die Gesammtheit von zehn höchsten Allgemeinheiten (quasi decem generalissimorum universitas), auf welche die Gattungen, dann die Arten folgen. Sie alle bilden, je nach ihren Stufen, die Universalien, welche gemäß der Ordnung der Natur (ordine quodam naturae) stufenweise vor dem Dinge, das ihr concreter wirklicher[47] Ausdruck ist, existiren (ante rem, quae actu ipsa contrahit, existunt). Da das Universum concret ist und somit nur in Gattungen, diese nur in den Arten bestehen, und da das Universum nur in den Individuen zur Wirklichkeit gelangt, so existiren nach dieser Betrachtung die Universalien nur in der concreten Wirklichkeit (universalia non sunt nisi contracte actu). In diesem Sinne sagen die Peripatetiker mit Recht, die Universalien hätten außer den Dingen keine Wirklichkeit, denn nur das Einzelwesen, in welchem die Universalien concret es selbst sind, hat Wirklichkeit. Indessen haben die Universalien naturgemäß ein gewisses universelles Sein, das der singulären Ausgestaltung fähig ist (contrahibile per singulare), nicht als ob sie vor diesem Concretwerden in Wirklichkeit (actu) anders, als gemäß der natürlichen Ordnung existiren, nämlich als ein der concreten Ausprägung fähiges Universale, das nicht in sich besteht, sondern nur in seiner Verwirklichung (ut universale contrahibile, non in se subsistens, sed in eo, quod actu est), wie Punkt, Linie, Oberfläche nach der Ordnung der Progression dem Körper, in dem sie allein zur Wirklichkeit gelangen, vorhergehen. Wie das Universum deßhalb, weil es in Wirklichkeit nur concret existirt, noch keineswegs ein bloßer Verstandesbegriff ist, so sind auch die Universalien nicht bloße Verstandesbegriffe, wenn sie gleich außer dem Einzelnwesen in Wirklichkeit nicht existiren, gleichwie Linie und Oberfläche, obschon sie außer dem Körper nicht vorkommen, dennoch nicht bloße Verstandesbegriffe (entia rationis) sind, weil sie im Körper eben so sind, wie die Universalien in den Einzelndingen. Der Verstand gibt ihnen jedoch durch Abstraction ein Sein außerhalb den Dingen, und diese Abstraction ist ein Verstandesbegriff, da ihnen doch ein absolutes Sein nicht zukommen kann. Denn das völlig absolute Universale ist Gott. Wie aber das Universale in unserem Geiste ist, werden wir im Buche von den Muthmaßungen sehen, wiewohl es schon aus dem Gesagten erhellen kann, da sie im Geiste nur Geist und somit auf geistiger Weise concret (intellectualiter contracte) existiren. Da das Denken des Geistes ein helleres und höheres Sein ist, so erfaßt es die Universalien, wie sie concret in ihm und im anderen Sein existiren (cujus intelligere cum sit esse clarius et altius, apprehendit universalium contractionem in se et in aliis). Der Hund und andere Thiere derselben Art sind durch das in der Natur liegende Gemeinsame der Art, das in ihnen sich findet, zu einer Art verbunden, und dies wäre auch so,[48] wenn auch nicht der Geist eines Plato durch Vergleichung des Aehnlichen sich Artbegriffe bilden würde. Es folgt also das Erkennen hinsichtlich seiner Thätigkeit dem Sein und Leben (sequitur igitur intelligere, esse et vivere quoad operationem suam), weil es durch seine Thätigkeit weder Sein, noch Leben, noch auch das Erkennen des Geistes selbst setzen kann; hinsichtlich der erkannten Dinge dagegen folgt das Sein und Leben als Abbild dem Erkennen der Natur (quo ad res intellectas sequitur esse et vivere intelligere naturae in similitudine). Es sind daher die Universalien, welche sich der Geist durch Vergleichung bildet, ein Abbild (similitudo) der in den Dingen concret existirenden Universalien. Die Universalien existiren im Geiste bereits und zwar auf concrete Weise, bevor dieser sich derselben durch denkende Betrachtung der Außenwelt, was seine Thätigkeit ist, bewußt wird. Denn er kann nichts erkennen, was nicht schon in ihm in concreter Weise – er selbst ist. Erkennt er also die Welt, so bringt er mittelst sinnbildlicher Zeichen ein Bild der Welt, das in ihm auf concrete Weise liegt, zum Bewußtsein und zur Entwicklung (intelligendo mundum quendam similitudinarium, qui est in ipso contractus, notis et signis similitudinariis explicat).

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 47-49.
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